Welten aus Willen und Vorstellung?

Ein von Jürgen Sarnowsky herausgegebener Band fasst verschiedene Beiträge zu „Wahrnehmung und Realität“ in „Vorstellungswelten des 12. bis 17. Jahrhunderts“ zusammen

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Ideen von der Welt und ihrem steten Wandel darzustellen, noch dazu aus weit zurückliegenden Epochen und somit auf indirektestem Wege, ist ein ambitionierter Ansatz, dessen sich der Sammelband Wahrnehmung und Realität. Vorstellungswelten des 12. bis 17. Jahrhunderts annimmt. Wie der Herausgeber Jürgen Sarnowsky betont, stellt es bei diesem Unterfangen eine wichtige Grundvoraussetzung dar, die Subjektivität der Quellen wahrzunehmen und zu akzeptieren – eine Fähigkeit, die wohl auch gerade angesichts der aktuellen Geschehnisse im Osten Europas nicht ganz falsch ist. Die jeweilig untersuchten Grundlagentexte und Quellen erlauben daher, so heißt es weiter, mindestens in dem Maße, in denen ihnen eine Beschreibung von Tatsachen zugetraut werden kann, auch die Annäherung an die Vorstellungen und Wahrnehmungen derjenigen, die diese Texte verfasst haben. Des Weiteren zeigen sie die Erwartungen, denen Rezipientinnen und Rezipienten dieser Berichte, Beschreibungen, Chroniken wie auch wissenschaftlichen Literatur im weiteren Sinne anhingen. Damit ist eine zutreffende Aussage gemacht, sodass eigentlich alles klar sein sollte – es dann aber doch nicht ist. Zumindest implizit werden Konnotationen angestoßen und Erwartungen geweckt, die dann nicht oder eben nur bedingt erfüllt werden.

Vielleicht ist dies schon am grundsätzlichen Aufbau erkennbar; das Buch ist in drei Großeinheiten unterteilt: „Säkulare Vorstellungswelten“, „Spiritualität und Orden“ sowie „Ferne Welten: Die europäische Wahrnehmung Südostasiens“. Hierbei ergänzen sich die säkulare sowie die sakrale Sicht auf die Welt und ihre vermeintliche Wirklichkeit, wohingegen die „Ferne[n] Welten“ allein schon aufgrund der lediglich durch zwei Beiträge vertretenen numerischen Abweichung, mehr noch durch eben diese geografische Ferne aus dem Rahmen fallen. Dadurch wird – ohne dass damit die beiden Aufsätze gering geschätzt werden sollen – der ansonsten gut nachvollziehbare organische Aufbau des Ganzen aufgegeben, was einer Wahrnehmungsästhetik nicht unbedingt zuträglich ist, auch wenn durch die Binnenstellung der religiös überformten Weltsichten eine Verbindung zum Blick auf das kultisch-religiös Andere hergestellt werden mag. Dass dabei ungeachtet aller formalen Diversitäten Lesenswertes herauskommt, steht außer Frage, ob die geweckten Erwartungen erfüllt werden können, ist allerdings eine andere Sache.

Womöglich liegt neben dieser nur bedingt einleuchtenden Aufteilung des vorliegenden Bandes der Grund für die Divergenz der dreizehn Beiträge auch in der Qualifikation respektive den Tätigkeitsfeldern der Verfasserinnen und Verfasser. Um nicht missverstanden zu werden: Es ist ehrenwert, eine solche Publikation durch einen breiten Kreis Beitragender erstellen zu lassen. Da sich allerdings dieser jedoch als sehr weit gefasst erweist, wirkt die Konstellation zugleich etwas irritierend – sie reicht von Lehrenden, die eine Professur innehaben, über Promotions- und Masterstudierende des Fachs Geschichte über Beitragende, die dort einen Bachelor-Abschluss erworben haben, jedoch etwas vollkommen anderes weiterstudieren oder anderwärts beruflich tätig sind, bis zu einem Gasthörer im Rentenalter.

Die Unterschiedlichkeit der jeweiligen Texte dann in der Einleitung so zu begründen, wie das Herausgeber Sarnowsky tut, indem er auf die thematisch bedingten unterschiedlichen Aspekte, aber eben auch die Diversität der herangezogenen Quellen verweist, wäre dann eben nur ein Teil der Ursache, die vollends erst durch die biografischen Hinweise am Ende des Buches aufgelöst wird. Mit diesem Herangehen werden einerseits eben Erwartungshaltungen bedient, aber eben auch die Perspektiven eines Zuviel oder Zu-Spezifischen ausgebremst. Dies greifen auch die Ausführungen zur Entwicklung in der historischen Forschung auf, die zur Zeit Leopold von Rankes für sich in Anspruch nahm, zu rekonstruieren, wie es ‚eigentlich gewesen ist‘, und somit von der Objektivität der Forschung und der Eindeutigkeit ihrer Ergebnisse ausging. Während in der Folgezeit dann die Frage nach der Echtheit von Quellen im Vordergrund gestanden habe, also einem Ansatz gefolgt worden sei, der immer noch vom Postulat der grundsätzlichen Erkennbarkeit der historischen Wahrheit geprägt gewesen sei, seien jedoch mittlerweile Aspekte vorherrschend, die von einer durch die Subjektivität der Modelle und Ideen der Geschichtsforschenden ausgingen. Dies ist dann in gewisser Hinsicht der Überbau der Publikation, deren Ergebnisse nicht zuletzt durch die Anwendung der Idee einer allenfalls ansatzweisen Objektivität geprägt sind.

Zum Inhalt: Mit einem Blick auf das hochmittelalterliche England (John Hower, Vorstellungen von Herrschaft im England der mittleren Jahre Heinrichs III. (1236–1259)) wird verdeutlicht, inwieweit Ideal und Realität guter und gerechter Herrschaft voneinander abwichen. Erscheint uns dergleichen für unsere Zeiten angesichts der obwaltenden Verhältnisse und allgemein politischen Entwicklungen als selbstverständlich, so liegt dies nicht allein in einer Art Politresignation begründet, sondern hat tiefere (oder womöglich ‚flachere‘) Gründe. In der republikanischen Wirklichkeit einer säkular fundamentierten politischen Welt findet zwar durchaus eine Ausrichtung am Ideal statt, politischer Pragmatismus ist allerdings die unbestrittene Realität. An Regierende werden immer noch gewisse moralische Erwartungen gerichtet, sie werden allerdings nicht als ‚Übermenschen‘ angesehen. Die Erwartung an Herrscherpersönlichkeiten des Mittelalters hingegen – auch wenn selbstverständlich auch für diese Epoche kaum davon auszugehen ist, dass es keinen politischen Pragmatismus gab – waren weit umfassender. Es ging natürlich auch um Erfolg und gerechte Herrschaft, aber eben auch um ihre quasi theologischen Grundlagen, indem sie als prädestinative Projektion dies- wie jenseitiges Sein miteinander verknüpfte. Bei diesen Erwartungshaltungen muss es angesichts der charakterlichen wie politischen Defizite Heinrichs potenziellen Eulogen schwer gefallen sein, das Preislied des Herrschers und seiner Taten anzustimmen. Diesen Umstand stellt Hower in den Fokus und verdeutlicht dabei Erfolg wie auch Scheitern der herangezogenen Quellen respektive deren Verfasser.

Nathalie Rudolphs Beitrag Das Bild Richards II. in der Chronica maiora des Thomas Walsingham verfolgt anhand der von ihr ausgewerteten Quelle ebenfalls das Ziel, Wahrnehmung und Wirklichkeit herrscherlicher Praxis im zeitgenössischen Kontext darzustellen. Es geht ihr darum, das Changieren zwischen Objektivität und taktischer Zurückhaltung in der Darstellung herauszuarbeiten. Dass Walsingham dann nach dem Tod des abgesetzten englischen Herrschers Richard das Interesse an diesem verliert und sich dann ausschließlich seinem Nachfolger Henry IV. widmet, wird zwar von der Verfasserin zweimal nachgerade erstaunt erwähnt – bedauerlicherweise jedoch nicht hinterfragt.

Von der Insel geht es dann in der Folge auf den Kontinent. In den drei hier subsumierten Beiträgen (Rona Ettlin, Die lübische Verfassungskrise (1408–1416) im Spiegel der Chronistik; Luisa Sophia Maass/Maaß [die Schreibung des Nachnamens weicht im biografischen Teil von der zuvor angegebenen Schreibung ab], Spätmittelalterliche Testamente von Frauen aus Lübeck und Hamburg; Daniel Sommer, Das Verhältnis der Stände im „Oberrheinischen Revolutionär“) werden jeweils bestimmte Ereignisse und Ereignisabfolgen aufgrund solide recherchierter Quellen zum Thema gemacht. Hierbei wird anhand eines überschaubaren Inertialsystems verdeutlicht, wie Änderungen – auch krisenhafter Natur – in der Chronistik ihren Niederschlag fanden und direkt wie indirekt Wahrnehmungs- und damit Werteaspekte beeinflussten.

‚Aus der Bahn gefallen’ – das Spiel mit Worten mag verziehen sein – ist der Artikel Gottfried Hoffmanns (Did Galileo Invent the Principles of Modern Experimental Physics?), der sich in englischer Sprache und untermauert mit zahlreichen Faksimiles, detaillierten Skizzen sowie mathematischen Formeln einem überaus detaillierten Nachvollzug der physikalischen Experimente des Universalgelehrten zur schiefen Ebene und zum freien Fall widmet. Dieser Beitrag bricht aus dem sonst erkennbaren im Weiteren historisch orientierten Rahmen aus, und auch das im Titel angedeutete Changieren zwischen eben Wahrnehmung und Realität wird allenfalls implizit tangiert. Und am Ende wird zwar geklärt, dass der Renaissance-Physiker offenbar doch ungenauer arbeitete und seine Ergebnisse nicht in die Discorsi einfließen ließ – jedoch die Titelfrage nicht explizit beantwortet.

Im zweiten Block („Spiritualität und Orden“) sind die, so scheint es, religiösen Aspekte der Weltentwürfe zusammengefasst. Nun trägt der erste Beitrag (Mats Homann, Spirituelles Erleben im Angesicht der heyden. Die Wahrnehmung des Heiligen Landes und seiner muslimischen Umwelt in der Peregrinatio in terram sanctam Bernhards von Breydenbach und im Schleiertüchlein Herrmanns von Sachsenheim) zwar das Spirituelle im Titel, geboten wird allerdings ein durchaus anregender Vergleich eben dieser beiden spätmittelalterlichen Texte und ihrer – offenkundig vornehmlich oberflächlichen – Wahrnehmung des Islam im Heiligen Land. Der Text ist stringent, aber auch hier finden sich konkrete Anküpfungsmöglichkeiten an den Titel des Gesamtwerks eher marginal.

Dies gilt auch für Judith Geyers Beitrag Die zisterziensischen Konversen – Leben und Arbeiten für die klösterliche Gemeinschaft, in dem die Austarierung zwischen dem religiös-theologischen Grundaspekt eines geistlichen Ordens und dem gerade auch bei den Zisterziensern ausgeprägten Arbeitsideal im Sinne des Ausgleichs zwischen der vita contemplativa und der vita activa in den Blick genommen wird. Da dieser in der Praxis kaum angemessen möglich war, wurden auch bei den Zisterziensern Konversen, also Laienbrüder, herangezogen, die den spirituell begründeten Regularien nicht in vollem Umfang unterlagen, sodass es ihnen aufgrund der entsprechenden Lockerungen ermöglicht wurde, die praktischen Obliegenheiten, die für das Funktionieren eines zisterziensischen Klosters notwendig waren, zu erfüllen. Die Ausführungen sind durachaus lesenswert, aber auch hier ist nicht klar ersichtlich, welche Vorstellungswelten hier nun erkennbar sein mögen beziehungsweise wo Wahrnehmung und Realität diametral auseinanderliegen sollen.

Der Beitrag Eyne gute reyse hin ken Littawen – Die Litauenreisen in der Chronik des Johannes von Posilge (Marlon Bäumer) bietet das, was im Titel formuliert ist: eine durchaus vieldimensionale Paraphrase eben der genannten Chronik. Allerdings nicht wirklich mehr. Und auch Birgit Steude erarbeitet in ihrem Text Die Wahrnehmung Hochmeister Friedrichs von Sachsen (1498–1510) in zeitgenössischen und späteren Quellen lediglich eine Paraphrase der herangezogenen Texte. Katharina Wenzel liefert dabei bereits zuvor mit Die gegenseitige Wahrnehmung des Deutschen Ordens und der Stände in Preußen in chronikalischen Quellen der Mitte des 15. Jahrhunderts eben eine Auswertung dieser Quellen. Diese ist zwar grundsätzlich informativ, wenn jedoch dann im abschließenden Teil formuliert wird: „[W]ie schon eingangs erwähnt, ist von Chroniken keine Objektivität der Darstellung zu erwarten. Die Chronisten lieferten uns ihre persönlichen Anschauungen und persönlichen Interpretationen von Fakten, Vorgängen und Abläufen, die nicht zu einer Rekonstruktion historischer Ereignisse beitragen konnten“, ist der Rezensent hinsichtlich der Frage nach der Sinnhaftigkeit dieser Aussage mit seinem Latein definitiv am Ende.

Die „Ferne[n] Welten“ Südostasiens sind lediglich durch zwei Beiträge vertreten. Herausgeber Jürgen Sarnowsky widmet sich in Powerful Heathen and Mohammedan lords frühen portugiesischen Berichten über Gesellschaft und Religion in Java und den benachbarten Inseln. Er verdeutlicht, dass trotz der eher oberflächlichen Berichterstattung und eurozentrischer Perspektiven hier dennoch wertvolle Quellen für die javanische Geschichte im frühen 16. Jahrhundert vorliegen.

Esther Helena Arens und Maria-Theresia Leuker begeben sich in Ritual and Ceremony in Rumphius’ Amboinsche Rariteitkamer and Kruid-boek auf die Spuren niederländischen Handels und niederländischer Kolonialgeschichte in Südostasien. Die zugrunde liegenden Texte werden adäquat ausgewertet, aber auch explizit bewertet. Dabei werden immer wieder Aspekte des Asymmetrischen beziehungsweise kolonial bedingten Miss- und Unverständnisses hervorgehoben. Hinsichtlich einer aus Korallen gefertigten Frauenfigur etwa, der ursprünglich magisch-religiöser Charakter zugewiesen worden war (die Dargestellte ertrank zeitgleich mit dem Sinken des Schiffes ihres Mannes), heißt es abschließend: „Making a ‚show‘ of this figure in his house is a fitting metaphor for the colonization of religious spaces in the Moluccas by way of trade. Rumphius re-ascribed the rock’s quality as a curiosity and staged it as a collector’s item in a secular setting.“ Die naheliegende Frage wäre: So what? Denn bei konsequenter Anwendung der zugrunde liegenden Überlegungen, wären (respektive sind) diese genau so gültig hinsichtlich der Inkorporation von Kirchenkunst in musealen oder sonstigen Sammlungen. In diesem Zusammenhang sind aber kaum Kontroversen bekannt; vielleicht wäre daher auch hinsichtlich der Wertung nicht-christlicher Artefakte in Sammlungen weniger Aufgeregtheit angebracht.

Wie also lassen sich die Vorstellungswelten einordnen? Es bleibt ein eher zurückhaltendes Fazit zu ziehen, da der Großteil der Artikel die Thematik des Bandes allenfalls implizit aufgreift. In erster Linie werden gelegentlich mehrere, oft aber auch lediglich eine Quelle paraphrasiert und deren Aussagen mehr oder minder kritisch hinterfragt beziehungsweise kontextualisiert. Ein durch den Titel konnotierter divergierender Ansatz respektive entsprechend in den Fokus gestellte Ansätze auf die Welt oder die Welten lassen sich allenfalls rudimentär erkennen. Und auch wenn zwei oder mehrere Quellen gegenübergestellt und Unterschiede herausgearbeitet werden, wird nicht immer auf das Auseinanderfallen von Vorstellung und Wirklichkeit hingearbeitet, das heißt: Der Spielraum zwischen Objektivität und Subjektivität, der das Thema ja so interessant erscheinen lässt, wird nicht eruiert. Das ist Quellenvergleich beziehungsweise -interpretation, eine darüber wirklich hinausweisende ‚Rekonstruktion der Konstruktion‘ mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Weltanschauung ist dabei zu selten erkennbar. So bleibt festzuhalten, dass trotz mitunter positiver Beispiele und allgemeiner positiver Ansätze auch in ‚schwächeren‘ Beiträgen die gesamte Umsetzung jedoch nicht wirklich gelungen ist. Auch unter diesem Gesichtspunkt erscheint der Verkaufspreis allenfalls bedingt gerechtfertigt.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Jürgen Sarnowsky (Hg.): Wahrnehmung und Realität. Vorstellungswelten des 12. bis 17. Jahrhunderts.
V&R unipress, Göttingen 2019.
401 Seiten, 55,00 EUR.
ISBN-13: 9783847102960

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch