Wie wenig Kultur vor Barbarei schützt
„Der Ursprung der Gewalt“: Fabrice Humberts Suche nach seiner Familiengeschichte
Von Bernhard Walcher
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas Unwahrscheinliche – novellentheoretisch gesprochen: das Unerhörte – geschieht doch immer wieder auch in der Wirklichkeit oder ist in der Vergangenheit immer wieder Wirklichkeit geworden. Von solchen unwahrscheinlichen Zufällen, Verwicklungen und Entdeckungen handelt der bereits 2009 im französischen Original erschienene und nun von Claudia Marquardt glänzend ins Deutsche übertragene Roman von Fabrice Humbert, der im wirklichen Leben auch Gymnasiallehrer ist.
Am Beginn der Handlung, die sich zu einer schier manischen Beschäftigung mit der eigenen (unbekannten) Familiengeschichte auswächst, steht eine Fotografie, die der Ich-Erzähler bei einem Schulausflug mit seiner Klasse im ehemaligen Konzentrationslager Buchenwaldsieht. Der Ich-Erzähler, der sich im Roman den Familiennamen Fabre gibt, sieht sich mit einem Häftling auf der Fotografie konfrontiert, in dessen Gesichtszügen und Physiognomie er eine verblüffende, ja schockierende Ähnlichkeit und Identität mit jener seines Vaters und von sich selbst entdeckt. Diese Beobachtung weckt in ihm, dem Geschichtslehrer, einen Erkenntnisdrang, an dessen Ende nichts weniger als eine Neusortierung der eigenen Familiengeschichte steht.
Diese Geschichte reicht aber weit über das Individuelle hinaus und verdichtet wie in einem Schmelztiegel der Zeitläufte epochale gesellschaftliche, politische und moralische Entwicklungen und Verwerfungen. Alte Gewissheiten werden für den aus einer ausgesprochen wohlhabenden Großbürger- (aber eben auch Aufsteiger-)Familie stammenden Erzähler brüchig und er stellt sich die zentralen Fragen: Wer bin ich und wer hat mich geprägt? Das mag soweit alles recht geheimnisvoll klingen und scheint wie geschaffen als Stoff einer spannenden Romanhandlung – gleichzeitig ist dies aber auch die fiktionalisierte wahre Geschichte der Familie des Autors und ein gelungenes Stück sprachlich wie inhaltlich beindruckender Literatur.
Der deutschen Ausgabe des Romans hat Humbert ein Vorwort vorangestellt, das jene Mischung aus Fiktion und Authentizität der Geschichte problematisiert und den Kontext seines eigenen autobiographischen Stellenwertes als eben Nicht-Zeitzeuge, sondern Vertreter der dritten Generation von Holocaust-Opfern erläutert.
Gleich der erste Abschnitt der Romanhandlung, in dem tiefreichende, über das rein Individuelle reichende Perspektiven und Dimensionen von Lebensgeschichten mit Verweisen auf heilsgeschichtliche und mythologische Motive und Bildebenen eröffnet werden, macht dann auch deutlich, dass es dem Erzähler nicht um die bloße Wiedergabe und Rekonstruktion von Geheimnissen geht, sondern die erzählten – für einen Akt der Selbstvergewisserung hierfür auch recherchierten – Lebens- und Familiengeschichten exemplarisch für eine Zeit und ein Land stehen.
Ohne zu viel von den ans Tageslicht und ins Bewusstsein der Familie zurückgeholten Ergebnissen dieser Recherche des Ich-Erzählers zu verraten, ist die wichtigste und ebenso unerhörte Neuigkeit jene, dass es sich bei dem auf der Fotografie in Buchenwald wiedererkannten Häftling tatsächlich um den biologischen Großvater des Ich-Erzählers handelt, nämlich um einen gewissen David Raphael Wagner, der am 21. Juli 1942 in Buchenwald ermordet wurde. Diese Entdeckung wird dem Leser recht früh im Roman präsentiert und die folgende Geschichte rekonstruiert dann vor allem die Biographie Wagners und die Verflechtungen mit der Familie Fabre.
Letztlich handelt es sich im Wesentlichen um eine Dreiecksgeschichte zwischen dem mittellosen, aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Wagner und der großbürgerlichen Großelterngeneration Marcel und Virginie Fabre. Diese im Grunde recht herkömmliche Ehebruch- und Betrugsgeschichte bezieht ihre Sogwirkung nun hauptsächlich aus zwei Gründen: Einerseits flicht der Ich-Erzähler die Geschichte und Verhaltensweisen seines Vaters Adrien (also David Wagners Sohn) in sein insgesamt aufdeckendes Erzählverfahren ein und thematisiert damit auch eine problematische Vater-Sohn-Beziehung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Andererseits werden unaufdringlich die Zeitverhältnisse im Frankreich sowohl der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als auch deren Langzeitfolgen miterzählt, die maßgeblichen Anteil am Verlauf der teils unglücklichen familiären und historischen Verstrickungen hatten.
Aufgrund der erzählten Zeit, also vor allem der 1930er und 1940er Jahre, rückt Humberts Roman auch bisweilen und passagenweise in die Nähe des Essays und Sachbuchs. Davids Biographie in Buchenwald wird als eine rekonstruiert, die im engen Zusammenhang auch mit historischen Namen wie dem zeitweiligen Lagerkommandanten Karl Otto Koch und seiner Frau Ilse, dem SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS Josias zu Waldeck und Pyrmont sowie dem Reichsführer-SS Heinrich Himmler steht. Durch Gespräche mit Zeitzeugen und Dokumenten, die er ausfindig macht, entwirft der Ich-Erzähler auf der Grundlage seiner Recherche-Ergebnisse so etwas wie das Alltagsleben seines Vorfahren im Konzentrationslager und führt dabei vor allem die Funktionäre und Nazi-Eliten in ihrer grausamen ‚Banalität‘ vor. In Romanform und ebenfalls in kunstvoller Vermischung von authentischer und fiktionaler Geschichte stellt sich Humberts Text als Produkt der dritten Generation gleichwohl in die Tradition von Werken, die ein ähnliches Erzählverfahren gewählt haben, nämlich Ruth Klüger oder Jorge Semprun, auf den der Roman selbst immer wieder direkt Bezug nimmt.
Wenn sich im Roman auch abschnittweise manchmal der ‚Lehrer‘ Fabrice Humbert bemerkbar macht und ins Unterrichten über Geschichte, über Gut und Böse verfällt, so ist ein nicht zu gering zu veranschlagender Vorzug des Textes, dass er eben nicht belehren, sondern darstellen will, dass er Zusammenhänge aufzeigen, aber keine moralische Abrechnung – weder mit der vergangenen Epoche noch mit der eigenen Familie – formulieren will. Denn letztlich – das soll aber nun doch nicht verraten werden – ist der Tod Davids in Buchenwald auch das Ergebnis einer durchaus in politischen Fahrwassern verstrickten Familienpolitik zu sehen, die von sich selbst allerdings das Bild einer liberalen Bürgerlichkeit zeichnet.
Schon in ihrem Aufstieg zu Wohlstand und politischem Einfluss während und nach dem Ersten Weltkrieg, die aus der kleinen Textilmanufaktur in Rouen ein bedeutendes Unternehmen machte, sowie den Verflechtungen des Großvaters Marcel Fabre mit dem Vichy-Regime – was auf der Ebene der Dreiecks-Geschichte auch eine Rolle spielt – wird deutlich, dass der Roman, ohne es aber explizit zu benennen, auch einer Frage nachgeht, die im Grunde genommen zeit- und geschichtslos ist und bis heute die Gemüter berührt: Gibt es angesichts komplexer vergangener privater und öffentlicher Verhältnisse und Entwicklungen ein Ablaufdatum für Schuld? Anders gesagt: Wie beurteilt man Akteure einer (Familien-)Geschichte, die nicht zwangsläufig zu eindeutigen Mördern geworden sind, die aber Schuld auf sich geladen haben? Im Essay würde die Antwort auf diese Fragen zumindest in der Tendenz eindeutiger ausfallen. Der Roman jedoch tut gut daran, darauf keine (einfachen) Antworten zu geben.
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