Wie weit kann die Abstraktion gehen, ohne ganz die Gegenständlichkeit zu verlassen?

Neue Publikationen zum 150. Geburtstag des Pioniers der abstrakten Kunst, Piet Mondrian

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Evolution heißt ein Triptychon von Piet Mondrian aus dem Jahr 1911, das in der Regel als symbolistisch bezeichnet wird. Drei weibliche Akte in meditativer Haltung, die beiden äußeren Figuren – umgeben von Blumen – mit geschlossenen, die zentrale mit geöffneten Augen, in ihrer spirituellen Entwicklung schon einen Schritt weiter. Ihre Tafel ist etwas erhöht gegenüber den Seitentafeln, das weist ihren fortgeschrittenen Erkenntnisstand aus. Von links – einer noch unbewussten Lebensphase – nach rechts – dem Erwachen des Geistes – gelesen, soll die mittlere Figur das Erreichen eines voll bewussten Lebens repräsentieren. Mondrian war Theosoph, eine höhere Einsicht in den Sinn aller Dinge konnte für ihn nur in der mystischen Schau Gottes gewonnen werden. Auch wenn er dann die Figuration verließ und „nach der Harmonie durch die Gleichwertigkeit von Linien, Farben und Flächen“ (P. Mondrian) zu streben suchte, hat er nie daraus ein System gebildet. Aber Evolution blieb ein zentraler Begriff in der Entwicklung Mondrians vom Naturvorbild zur fortschreitenden Abstraktion.

Mondrian hielt die Kunst nicht für einen Selbstzweck, sondern für ein Mittel zum Ziel der geistigen Klarheit. Alle seine Bilder behandeln auf verschiedenen Ebenen ein und dasselbe Thema: die Befreiung des Wesentlichen vom Nebensächlichen und Zufälligen. Sie wollen feststellen, was in seiner – und des Betrachters – Erfahrung der Wirklichkeit wichtig und was unwichtig ist. In Verbindung mit dem Kubismus ist Mondrians Entwicklung von der Natur hin zur Abstraktion eigentlich durchaus überzeugend. Den Gittermuster-Stil seiner reifen Jahre in Paris übernahm er nicht einfach aus dem Kubismus. Er ging weit über den Kubismus hinaus und gelangte zu jenem Stil seiner Bilder in den 1920er Jahren, die als Axiome konkreter gegenstandsfreier Kunst gelten können.

Die Fondation Beyeler in Riehen/Basel (bis 9.10. 2022) und die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf (28.10.–12.2.2023) zeigen im 150. Geburtsjahr von Mondrian mit Unterstützung des Kunstmuseums Den Haag, das den weltweit größten musealen Mondrian-Bestand ihr Eigen nennt, etwa 80 Gemälde und Zeichnungen. Auch eine ganze Reihe von Leihgaben aus anderen Sammlungen befinden sich darunter. Es geht darum, beispielhaft den Weg des Künstlers von der gegenständlichen in die abstrakte Malerei zu demonstrieren. So wird der frühen Phase im Schaffen Mondrians, die immer noch weitgehend unbekannt ist, besonderer Platz eingeräumt. Nicht die neuartige Verwendung der Farbe sorgte für den Übergang in die Abstraktion, sondern „es war die Linie, die die Farbe befreite“, so hat schon Hans Janssen, einer der besten Mondrian-Kenner, festgestellt. Das kann man allerdings für die frühen, vom Impressionismus beeinflussten Werke noch nicht feststellen. Die Darstellungen der holländischen Landschaft – Dünen, flacher Himmel, Meer, Kanäle, Apfelbäume – bilden eine Fläche von miteinander verbundenen Kraftströmen, die sehr subtil abgewandelt sind, hier dicht und pulsierend, dort duftig zart. Die abgebildeten Gegenstände sind Porträts eines beseelten Teils der Natur, der eine eigene Identität und eine eigene selbständige Aussage besitzt. Hier offenbart sich schon der Theosoph Mondrian. In Oostzuder Mühle am Abend (1907–1908) scheint sich die Mühle in einer Explosion aus roten, gelben und blauen Farbflecken aufzulösen. Bäume fangen vor Energien an zu vibrieren, Mond und Sterne werden zu stechenden Augen der Landschaft, Fenster und Türen von Häusern sehen aus wie menschliche Gesichter. Mit der radikalen Entleerung der Landschaft zugunsten intensiver Farbkontraste ging auch ihre symbolische Aufladung einher (Bäume am Gein. Aufgehender Mond, 1907/08).

Im Katalog werden ganz unterschiedliche Aspekte Mondrians in seiner Entwicklung vom Landschaftsmaler zu einem der bedeutendsten Exponenten der klassischen Moderne untersucht. Ulf Küster, Senior Curator der Fondation Beyeler, geht es um den Nachweis, dass viele Werke aus den verschiedenen Phasen von Mondrians Entwicklung transparente Flächen haben, durch die man hindurchsehen kann, so Wald bei Oele (1908), Bauernhof bei Duivendrecht (um 1916) oder New York City 1 (1941). Das bietet einen Zugang gerade zum Verständnis seiner späteren abstrakten Werke. Denn die transparente Fläche würde dann für die von Mondrian betonte Verbindung zwischen einer inneren und äußeren Welt stehen und eine Art geistigen Raum zwischen dem Betrachter und den Bildern eröffnen.

Benno Tempel, Direktor des Kunstmuseums Den Haag, setzt Mondrians Frühwerk in den Kontext der niederländischen Malerei des 19. Jahrhunderts. Die Künstler der Haager Schule hatten seit 1870 mit der Darstellung der niederländischen Landschaft für ein erneutes internationales Interesse gesorgt. Aber bereits der junge Mondrian verschiebt in seinen Landschaften den Horizont nach oben, holt das Motiv – den Wassergraben, das Weideland, die Bäume, das Bauerngehöft – ganz nahe heran. Das Zentrum als Raum bleibt, von dem aus sich alles entfaltet, auch wenn es dann in der „Neoplastizismus“ genannten Phase der Abstraktion zu rhythmischer Dynamik führt und die Suggestion von Beweglichkeit erzeugt.

Was dann die frühen realistischen Landschaften Mondrians mit seinem späteren abstrakten Werk verbindet, macht Caro Vermeek am visuellen Rhythmus deutlich. Es ist die Musik – und einige Titel späterer Werke deuten darauf hin (Fox Trott A, Foxtrott B, 1929; Victory Boogie Woogie, 1942–44) –, das musikalische Prinzip von regelmäßigem gegen unregelmäßigem Rhythmus innerhalb einer scheinbar einfachen und gleichförmigen Bildstruktur. Als sich Mondrian seit 1920 seinem neoplastischen Stil zuwandte, stellte sich beim Betrachten der Flächen ein stetiges Sich-Verschieben, eine Beschleunigung und Verlangsamung des Blickes ein. Dank der Befreiung von der Form konnte so auch ein wirklich freier Rhythmus entstehen.

Von der britischen Malerin Bridget Riley, einer der führenden Vertreterinnen der Op Art, stammt der schon 1997 erschienene Mondrian-Aufsatz, in dem sie von den beiden Merkmalen des Künstlers, dem Rhythmusgefühl und der Liebe zu Ordnung und Ausgleich ausgeht, die in den späten abstrakten Werken zu einem Ausgleich kommen. Indem er horizontale Gliederungen in verschiedenen Gewichten und Entfernungen übereinanderschichtet und miteinander verschränkt, schafft Mondrian eine fluktuierende, unangreifbare Hülle. Der „dynamische Rhythmus“ und die „schöpferische Zerstörung“, also die Umwandlung der Farben und Linien in „rein gestalterische“ Faktoren einer expressiven Dynamik, erhalten dann in seinem letzten vollendeten Gemälde, Broadway Boogie Woogie (1942/43), ein Gleichgewicht. Die musikalische Rhythmisierung des Motivs, die Synkopisierung von Rhythmus, aber auch die pulsierende Bewegung des Broadways, besonders nachts, schafft Harmonie aus dem Gegensatz.

Werner Schmalenbach, der Gründungsdirektor der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, hatte seinerzeit vier abstrakte Spätwerke Mondrians für Düsseldorf erworben. Können sie als „Chiffren ihrer Entstehungszeit“ verstanden werden, fragen Kathrin Beben und Susanne Meyer-Büser. Wenn man die drei New York City-Bilder der Jahre 1941/42 betrachtet, war das abgeschlossene Kunstwerk überhaupt nicht mehr das Ziel Mondrians, sondern an deren Stelle ist die offene Form getreten. Die New York-Bilder wären dann „wie die Klänge der improvisierten, freien Jazz-Musik Momentaufnahmen von experimenteller Vieldeutigkeit und grenzenloser Weite“, so Susanne Meyer-Büser.

Es ist vor allem aber auch der großformatige Abbildungsteil, der diesen Band zu einem besonderen visuellen Erlebnis macht. Dabei werden eben auch frühe Bilder, in denen bereits Strukturen späterer Bilder erkennbar sind, mit Bildern aus späteren Perioden konfrontiert, so dass der Betrachter Entwicklungen, Weiterführungen, Abbrüche wie Neuansätze eindrucksvoll verfolgen kann.

Der Kubismus hatte – so zeigen die Bilder – Stabilität in den ekstatischen Überschwang der frühen Jahre gebracht. 1912 werden Mondrians Bilder ruhiger, obgleich nicht weniger eifrig um Form bemüht. Ihre kalligraphischen Linien sind einer gleichmäßigen Aufteilung des Raumes gewichen, von der Mondrian hoffte, dass sie eine geistige Kontinuität überall in der Natur offenbaren würde, die dicht und leer, positiv und negativ, horizontal und vertikal vereinte. In einer ganzen Baum-Serie hat er wie bei einer wissenschaftlichen Versuchsreihe immer wieder das gleiche Motiv gemalt, wobei das Abbild des Baumes immer mehr geschwunden, das Skelett des Baumes in Stücke zerlegt und jegliches emotionale Interesse am Baum eliminiert worden ist. Dann ging er zu einem anderen skelettartigen Bild über, zu einem Baugerüst, das er aus seinem Pariser Fenster sah; von hier aus zu einem feinen Gitterwerk, das immer noch ein Gerüst ist, dem er aber nicht mehr diesen beschreibenden Titel gab. Das Bild heißt nur noch Komposition in Braun und Grau (1913).

1914 erreichte er mit Komposition im Oval mit Farbfeldern die reine Abstraktion. Die in Fächer aufgeteilte Fassade – eigentlich geht es um eine Abbruchmauer mit Reklametafeln – besteht aus einem Gewebe aus Rechtecken und Linienabschnitten, jede Raumwirkung wird vermieden. Bald gibt es nur noch vertikale und horizontale Linien und Rechtecke aus Grundfarben zusammen mit Schwarz und Grau. Es sind Bilder, die nur eine Ebene und auch nicht mehr die mit geometrischen Mitteln erreichte Tiefendimension anerkennen. In dieser Bildform soll sich die meditative Erlebnisfähigkeit wie seine weltanschauliche Vorstellung von der Ordnung des Kosmos erfüllen. Oft wird zwischen den elementaren Helligkeitsstufen durch graue Flächen und durch die drei Grundfarben Rot, Gelb und Blau vermittelt, aber auch diese Farben werden meist nach den Rändern abgedrängt, um den meditativen Wert der reinen Verhältnisse zu stützen. Als Mondrian an einen Punkt der Entwicklung ankam, den die Komposition mit zwei Linien (1931) bezeichnet, war die Kunst der Leere gefährlich nahegekommen.

Arbeiten aus den 1930er Jahren bilden dann einen wesentlichen Teil von Ausstellung und Katalog. Das letzte in Paris entstandene Werk ist Komposition mit Linien und Farbe III (1937). Hier übernehmen die schwarzen Linien die aktive Rolle, die Verdoppelung der Linien bewirkt eine Steigerung der rhythmischen Spannung, während die Farbe als ruhendes Element eingesetzt wird, das dem Auge Halt geben soll. In diesem Jahr – 1937 – diffamierten die Nazis Mondrian als „entartet“ – und dieser floh vor der Kriegsbedrohung von Paris nach London und später nach New York. Die mosaikartig mit Primärfarben ausgestattete Gitterform löste er in synkopische Rhythmen auf. Das erhoffte Wiedersehen mit seiner letzten großen Arbeit Victory Boogie Woogie (1942–44), die Mondrian dem bevorstehenden Sieg über Nazi-Deutschland gewidmet hat, kann in der Ausstellung aber nicht stattfinden, weil das Werk wegen seiner Fragilität nicht den Weg aus Den Haag nach Riehen und Düsseldorf antreten darf.

Zu Ausstellung und Katalog hat Ulf Küster mit Mondrian A – Z einen nützlichen Begleitband beigegeben, der sich schon bald als unentbehrlich erweisen wird, ein Nachschlagewerk, das einen schnell über manche Klippen des Mondrian-Verständnisses hinweghilft. Es werden Begriffe (Abstraktion, Evolution, Intuition, Theosophie, Rhythmus), Stilrichtungen (Cubisme, Neoplasticism, De Stijl), Orte, an denen Mondrian gelebt hat (Duivendrecht, Gein, Holland, Paris, London, New York), Personen, denen er nahestand (die Malerin Lee Krasner, die Mondrian in ihren künstlerischen Arbeiten bestärkte, der Modeschöpfer Yves Saint Laurent, der sich 1956 von Mondrians Prinzipien zu einer Serie von Kleiderentwürfen hat anregen lassen, Mondrians Familie und die Malerfamilie Maris, der Maler Jan Braet von Uberfeldt, bei dem der junge Mondrian erstes kunsthistorisches Wissen erwarb sowie viele weitere ) erläutert. Zwar kommt es bei den Kommentaren auf das Wesentliche an, aber einige Begriffe – wie Linie und Farbe – vermisst man doch, die für den Werk-Kosmos Mondrians von Bedeutung wären. Wenn Ozean und Windmühlen als wesentliche Motive im Werk Mondrians genannt werden, warum dann nicht auch Kirche, Wald, Baum, Pflanze, überhaupt Raum bzw. Landschaft? Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass manche Begriffe schon in anderen enthalten sind und auch erläutert werden. Der Ortsname Duivendrecht, heute im Süden Amsterdams gelegen, hat mit den Bauernhöfen zu tun, die Mondrian hier malte, die späteren mit ihrer Spiegelung im Wasser. Küster führt an, dass der Künstler hier wohl die Möglichkeiten der Abstraktion in verschiedenen Farbstimmungen erproben wollte – und so wird hier auch wieder auf den Begriff Abstraktion verwiesen. Ein Begriff steht also nie für sich allein, durch eine vielperspektivische Sicht werden immer auch andere Begriffe einbezogen. Der Leser, der sich nur rasch über einen Begriff informieren will, wird so immer auch auf andere Begriffe verwiesen – und so greift ein Begriff in den anderen, erschließt sich gleichsam spielerisch der Werk-Kosmos Mondrians wie in einem ganzen Netzwerk aufzulösender Begriffe und Leitworte.

Titelbild

Ulf Küster: Mondrian A-Z.
Hatje Cantz Verlag, Ostfildern/ Ruit 2022.
120 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783775752480

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Ulf Küster (Hg.) / Sam Keller: Mondrian Evolution.
Hatje Cantz Verlag, Ostfildern/ Ruit 2022.
264 Seiten, 54,00 EUR.
ISBN-13: 9783775752374

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch