Der lächerliche Prophet

Peter Handkes Notizenband „Phantasien der Wiederholung“ (1983)

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wir haben Handke zu danken. Obwohl er uns lange hat warten lassen. Schon zwölf Monate ist es her, daß er uns, in der „Geschichte des Bleistifts“, mit seinen Maximen und Reflexionen aus den Jahren 1976 bis 1980 erbaute. Erst jetzt dürfen wir lesen, was er 1981/82 während seiner Wanderungen dachte, sah und sich notierte. Das Bändchen mit neunundneunzig Seiten für nur neun Mark ist in großen Buchstaben gedruckt – mit Recht, denn groß ist das Gewicht der Worte und wahrlich hoch ihr Wert.

„Wer bin ich? Der Götter-Bote“, lesen wir, und ein mystischer Schauer stimmt uns auf die frohe Botschaft ein, die Handkes Schrift uns zu verkünden hat. Die geistige Wende ist da, und er ist ihr Prophet. Wir, die schon immer auf sein Wort gehört haben, folgen ihm gläubig.

Denn wir wollen nicht mehr all das Häßliche in der Literatur, den Schmutz und die zersetzende Kritik, sondern fordern mit Handke: „Die glühende Kohle, die der Seraph dem Jesaja an die ,unreinen‘ Lippen legt: derartiges müßte auch vor jedem Schreiben geschehen.“

Wir wollen sie nicht mehr hören, diese „Freudenverderber“, die nichts Positives zu erzählen haben, und sagen mit Handke gegen Camus: „Woher die negativen Märchen? Die Leser haben keine Literatur mehr.“

Wir wollen sie nicht mehr lesen, diese „sogenannte kritische Literatur“, die uns heute nur das Gespenst drohender Katastrophen vor Augen hält, und meinen mit Handke: „Sicheres Zeichen, daß einer kein Künstler ist: wenn er das Gerede von der ,Endzeit‘ mitmacht.“

Und mit Handke zieht es uns fort von den „schrecklichen Leuten, die ihre Alpträume in Folterungen an anderen umwandeln“, weg von den Schrecken und der Düsternis der literarischen Moderne und hin zu dem hellen Licht der Klassiker: „Jedes längere mystische Abenteuer – wie es das Schreiben ist – macht mich klarer, genauer, vernünftiger, und es zieht mich, den Leser, immer mehr von dem Geschlenkere Kafkas weg, hin zu dem hellen Tagwerk Vergils“.

Was für eine erhellende Formulierung: „Geschlenkere Kafkas!“ Endlich haben wir in Handke einen, der ganz anders ist als die anderen. Alle reden nur bewundernd von Kafka, Handke nicht: „Ich hasse Kafka, den Ewigen Sohn.“ Alle reden vom Krieg und großen Bedrohungen, Handke nicht: „Achtung: alles hier ist geschrieben in einer Friedenszeit, und unter dem Zeichen des Friedens.“ Alle schreiben über ihre Krankheiten, Handke preist seine Gesundheit.

Die Literaten haben die Welt nur verschieden kritisiert, es kommt darauf an, sie zu verklären. Handke baut uns auf, lehrt uns die Schönheit der Dinge zu schauen, und, in einer Zeit der allgemeinen Orientierungslosigkeit, erteilt er uns wieder weise Lehren für das Leben: „Nimm jeden Moment ganz ernst und halte dich bei nichts auf.“ Doch bei all dem hohen und heiligen Ernst seiner Worte hat Handke auch noch Humor: „,Frau, gib mir Freude!‘ dachte ich gerade. Da war aber keine Frau“.

Handke und wir dürfen mit uns und der Welt zufrieden sein. Das „Wissen, daß ich ein außerordentlicher Mensch bin“, so zitiert er Wittgenstein, darf jeder von sich haben. Die meisten freilich haben es in sich zerstört. Nicht so Handke. Wie es der eigenen Außerordentlichkeit ansteht, verkehrt er lesend nur in den allerhöchsten Kreisen: mit Lukrez und Vergil, Hölderlin, Horaz oder Homer, vor allem aber mit Goethe. Die Klassiker sind seine Brüder und sein Maßstab: „Nur mit den Klassikern kann ich mich, Satz für Satz, vergleichen, mich unterscheiden und so mich finden.“

Nach einem Vergleich zwischen den Bedingungen, unter denen Goethe dichtete, und denen des eigenen Schreibens fragt Handke: „Ist das, was ich tue, vielleicht lächerlich?“ Er antwortet sogleich selbst mit einem entschiedenen „Nein“. Wir dagegen antworten mit einem nicht weniger entschiedenen „Ja“.

Peter Handke: „Phantasien der Wiederholung“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a Main 1983 (es 1168). 99 S., br., 9,- DM.

Hinweis der Redaktion: Die Rezension ist zuerst erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.10.1983, Nr. 246, S. 26. Nachdruck in: Deutsche Literatur 1983. Ein Jahresüberblick. Hg. von Volker Hage. Stuttgart: Reclam 1984. S.32-34.

Titelbild

Peter Handke: Phantasien der Wiederholung.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
99 Seiten , 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783518242551

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