Neue Wolfenbüttler Forschungen zur Alchemie

Ute Frietsch und Petra Feuerstein-Herz rücken ein besonderes Konzept in den Fokus

Von Martin MeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Meier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel rechnet zu ihren bibliophilen Schätzen auch eine Reihe  alchemiehistorisch relevanter Bücher und etwa einhundert derartige Manuskripte, deren Erschließung seit einigen Jahren große Fortschritte erzielt. Gleichsam entwickelt sich die hier betriebene Forschung zur Alchemie. Ein Zeugnis dieses Bestrebens liegt nun mit dem neuen Sammelband vor. Er enthält elf Aufsätze, die sehr unterschiedliche Themen der Alchemiegeschichte behandeln und die nur in geringem Maße miteinander verknüpft sind. Sie werden unter die Abschnitte Überlieferung, Begriffe, Bilder; Techniken und Artefakte subsumiert. Ein einleitender Beitrag aus der Feder der Herausgeberinnen Petra Feuerstein-Herz und Ute Frietschs verdeutlicht ihr Anliegen, jüngere Forschungen aus dem Umfeld der Bibliothek sichtbar werden zu lassen.

Sven Limbeck eröffnet den Aufsatzreigen mit einer Darstellung zur alchemischen Überlieferung in Kodex und Manuskript unter Nutzung einiger in der Wolfenbütteler Bibliothek verwahrter Handschriften. Ihm gelingt der Nachweis, dass dem Übergang zum Buchdruck mit beweglichen Lettern zum Trotz die handschriftliche Überlieferung in der Alchemie eine immense Rolle spielte.

Damaris Aschera Gehr, die als Stipendiatin für die Klassik Stiftung Weimar arbeitet, legt einen umfassenden Beitrag zur paracelsistischen Schrift Arbatel vor. Zutreffend nennt sie Magie und Alchemie Wissenschaften im mittelalterlichen Sinne (scientia). Diese Demut vor dem Gegenstand ihrer Untersuchung gepaart mit wissenschaftlich gebotener Distanz ist allen Texten des Sammelbandes gemein.

Gehr verweist zunächst auf die eklatanten Unterschiede zwischen Magie und Alchemie. Während die Magie glaube, mit Hilfe Gottes die gesamte Realität beeinflussen zu können, arbeite die Alchemie mit der empirischen Methode an der  „Veränderung natürlicher Stoffe, Lebewesen und der Erhaltung des irdischen Lebens.“ (49) Die paracelsistische Schrift Arbatel sei diesbezüglich eine Ausnahme, indem sie vom hermetischen Konzept des Olymps der sieben Geister ausgehe, die „unter Gottes Führung“ die Geschicke der Menschen steuern. In dem lateinischen Text werden Alchemie und Magie durch die Annahme verknüpft, dass alle Geister mit Ausnahme Phalegs in alchemistischen Fragen bewandert seien und jene hohe Kunst vermittelten. Dies sei eine der wichtigsten Tätigkeiten von Geistern. Der Mensch könne dem Arbatel zufolge einundzwanzig Geheimnisse erlangen. Das erste sei die Heilung aller Kranken in sieben Tagen mit Hilfe der Planetengeister und Gottes. Daneben existieren weitere höhere, mittlere und niedere Geheimnisse. Zu den niederen gehören die Erringung militärischer Erfolge und die Gründung einer Familie. Noch niedriger steht das Erlangen philosophischer, mathematischer und medizinischer Erkenntnis. Ausgiebig widmet sich der Arbatel der Frage, wie man mit Geistern Kontakt aufnehmen könne. Gehr bietet eine neue These zur Einordnung der Schrift in die paracelsische Tradition. Sie geht hierbei auf die beiden Hauptquellen des Arbatel ein, die Astronomia gratiae  (Astronomie der Gnade) und die Philosophia gratiae (Philosophie der Gnade) und vertritt die Auffassung, dass der Arbatel eine vertiefende Erörterung der Astronomia Magna des Paracelsus darstellt.

Alchemie und abendländisches Ägyptenbild sind eng verflochten. In seinem Beitrag „Alchemie und Ägyptenrezeption“ weist Florian Ebeling auf die Bedeutung Ägyptens für das „Verständnis von naturphilosophischer und theologischer Erkenntnis“ hin (75). Ebeling geht es jedoch nicht um die Rezeption altägyptischer Alchemie, sondern um das Ägyptenbild frühneuzeitlicher Alchemie. Die Kultur Ägyptens sei den Menschen in Europa nicht zuletzt aufgrund der unverständlich erscheinenden Hieroglyphen nicht direkt zugänglich gewesen. Sie habe sich aus der griechisch-römischen Perspektive entwickelt und war von zwei diametral entgegengesetzten Positionen geprägt: der Ehrfurcht vor der ägyptischen Kultur stand der biblischen Perspektive von Ägypten als Land der Unterdrückung sowie des Polytheismus gegenüber. Das Ägyptenbild wurde etwa durch den Platonismus geprägt, der zwischen sinnlicher Welt und verborgenem Wissen unterschied. Ebeling lässt diese Differenz im philosophischen und alchemistischen Humanismus sichtbar werden. In der Alchemie wird die ägyptische Weisheit als symbolisch gepriesen. Worte und Sätze eines Textes enthielten demnach einen verborgenen Sinn. Dieser sei nicht „in eine Sprache semantischer Eindeutigkeit zu übersetzen“. (85) Der Erkenntnisprozess laufe in zwei Phasen ab ­­– der propädeutischen Phase der Vorbereitung folgt die Phase der Offenbarung, in der der Mensch nicht suchen, den Verstand nicht nutzen solle. Die Mysterienterminologie sei für Unreine, Nichtinitiierte nicht verständlich. Ebeling zeigt das Verständnis der ägyptischen Philosophie in der Alchemie. Wie sich dies auf die abendländische Ägyptenrezeption auswirkte, tritt nicht so deutlich hervor, wie dies aufgrund der einleitenden Ausführungen zu vermuten gewesen wäre.

Rudolf Werner Soukop und Irmgard Soukop-Unterweger wenden sich anschließend in ihrem Beitrag zur Terminologie alchemischer Technologie der für das Grundverständnis alter Texte unerlässlichen fachsprachlichen Entschlüsselung und der in alchemischen Werken enthaltenen Begriffswelt zu. Trotz großer Fortschritte, die seit den 1980er Jahren erzielt wurden, gäbe es immer noch erhebliche Defizite. Dies verdeutlichen Soukop und Soukop-Unterweger unter anderem mit dem Verweis auf Substanzbezeichnungen, die in antiken Texten oft keine Stoffe beschrieben, sondern seelische Zustände. Dem Beitrag kommt die Tatsache zu Gute, dass einer ihrer Verfasser tatsächlich promovierter Chemiker ist, eine Ausnahme in den sonst von Philologen, Kunsthistorikern und Historikern verfassten Texten. 

Die Mitherausgeberin Ute Frietsch demonstriert in ihrem Aufsatz „Obscurum vocabulum: Begriffe frühneuzeitlicher Alchemie“ den Aufbau des Alchemiethesaurus an der Herzog August Bibliothek, der sich konzeptionell an einer bereits in der Bibliothek geleisteten Arbeit zum Thesaurus for Early Festivalbooks orientiert. Die 99 Lemmata des Alchemiethesaurus bieten Grund- und Schlüsselbegriffe, die sich in den Wolfenbütteler Quellen finden.

Sarah Lang erklärt in ihrem hieran anschließenden Beitrag Perspektiven einer digitalisierten Erschließung alchemischer Texte am Beispiel der Arbeiten des Alchemikers Michael Maier die Bedeutung der terminologischen Entschlüsselung alchemischer Texte. 

Der Beitrag „Alchemiker im Bild“ von Ute Frietsch wendet sich der niederländischen und flämischen Genremalerei zu. Unser Verständnis der Alchemie werde wesentlich durch Bilder mitgeprägt, wobei auffällig sei, dass gerade in Gemälden nicht immer dunkle Szenen und einsame Figuren die Existenz und Arbeit des Alchemikers präsentieren. Frietsch deutet beispielsweise Gemälde von  David Turnier dem Jüngeren. Sie weist zurecht darauf hin, dass sich Alchemiker und Künstler nahestanden, da sich beide etwa mit „Herstellung und Gebrauch von Pigmenten“ (162) befassten. Tiefdruck und Goldschmiedehandwerk bedurften einschlägiger chemischer Kenntnis, zum Beispiel zur Darstellung von Zinnober. So hätten etwa Thomas Wijcks vierzig teilweise unsignierten Gemälde und Darstellungen des Alchemikers auch der Reflexion der eigenen Person gedient. Das moderne Bild des Alchemikers „erkläre sich eher aus der Druckgrafik denn aus Gemälden“, so Frietsch. Aus jenen Bildern spricht nicht selten die Verachtung der Alchemie. So zeigt etwa die  Darstellung des Alchemikers als Affen durch Peter van der Worscht den häufigen Versuch die Alchemie zu delegitimieren. Frietsch geht auch näher auf die allegorische Nutzung alchemischer Sujets ein, etwa wenn sie im Falle einer Karikatur des niederländischen Krieges (1672-74) auf die Darstellung militärischer Auseinandersetzungen hinweist.

Stefan Laube und Sergei Zotov behandeln in ihrem Beitrag „Destillation und polare Vereinigung“ Titelbilder und Fontispize bis zur ersten Hälfe des 16. Jahrhunderts. In ihren interessanten Ausführungen zeigen sie unter anderem, dass Frauen auf den Titelillustrationen in unerwartet hohem Maße präsent sind. Die Titel des 14./15. Jahrhundert seien zudem erstaunlich konkret auf bestimmte experimentell ermittelbare Stoffeigenschaften zugeschnitten gewesen, so waren beispielsweise Destillierbücher einem praktischen Nutzen verpflichtet. Was diese mit Alchemie in eigentlichem Sinne zu tun haben, wird jedoch nur in geringem Maße sichtbar. Selbstverständlich gehörten Destillierapparaturen zu den wesentlichen Arbeitsmitteln des Alchemikers. Andererseits bedienten sich zahlreiche andere Berufe jener unverzichtbaren Apparate. In der Frühen Neuzeit habe sich, so die beiden Aufsatzautoren, ein Titelbewusstsein ausgeformt. Erst ab Mitte des 16. Jahrhunderts habe sich die typisch alchemische Bildmetaphorik in Titelblättern niedergeschlagen.

Marlise Rijks verdeutlicht nachfolgend am Beispiel Antwerpens den kulturellen, ökonomischen und wissenschaftlichen Kontext der Alchemiker. Sie zeigt, dass sich deren Werdegang im Unterschied zu anderen Berufen jenseits regulärer handwerklicher Ausbildung und universitärer Bildung vollzog. Gleichwohl gebe es erhebliche Gemeinsamkeiten in der beruflichen Praxis mit Apothekern. Auch Rijks widmet ihr Hauptaugenmerk der Destillation.

Petra Feuerstein-Herz untersucht in ihrem Beitrag „Merckht auff ihr Lieben fili“ abschließend die Gebrauchsspuren an alchemischen Werken der Herzog August Bibliothek und lässt so einen Teilaspekt der materiellen Kultur der Alchemie sichtbar werden. Sie geht der Frage nach, ob handschriftliche Einträge in alchemischen Werken auf deren praktische Nutzung im Labor schließen lassen. Anhand eines Exemplars des 1530 in Straßburg gedruckten „bouch geberi“ zeigt sie, dass die dort vorhandenen Einträge eher vom Interesse an ausgewählten theoretischen Aspekten, wie der Quecksilberamalgierung, bestimmt waren.

Der Band ist mit zahlreichen farbigen und Schwarz-Weiß-Abbildungen versehen. Der doch etwas konstruiert wirkende rote Faden, den die Einleitung zu zeichnen bemüht ist, ist in diesem Falle entschuldbar und fällt wenig ins Gewicht. Erklärtermaßen geht es den Herausgeberinnen darum, Einblicke in laufende Arbeiten zu geben. Das Buch zeichnet so ein facettenreiches Bild, lotet Perspektiven aus und verweist auf die zahlreichen Lücken in unserem Wissen über die Alchemie. Aus allen Beiträgen spricht Achtung vor den Protagonisten eines untergegangenen Wissenschaftsverständnisses. Es kommt in der durchgehenden Verwendung des Begriffes Alchemiker ebenso zum Ausdruck wie in der Darstellung handwerklichen Könnens, praktischer Bezüge und tiefer geistiger Verwurzelung der Alchemie. Ebeling bringt dies in seinem schon erwähnten Aufsatz auf den Punkt, wenn er schreibt: „Die Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe, die Idee der göttlichen Inspiration, der Antiaristotelismus, die intellektuelle Demut und der Offenbarungsglaube, die lange Traditionskette eines in Mysterien verborgenen Wissens sind Teile dieses Modells und finden sich […] in zahlreichen alchemischen Schriften.“ (88)

Als ein Beispiel für die Achtung vor jenem untergegangenen Wissenschaftsverständnis aus dem künstlerischen Bereich darf hier abschließend auf die Neuinterpretation des Bildes „Der Alchemist“ von David Teniers dem Jüngeren durch Ute Frietsch hingewiesen werden. (160-163) Warum? Nun,  dies mag der interessierte Leser im Band selbst erkunden.

Titelbild

Petra Feuerstein-Herz / Ute Frietsch (Hg.): Alchemie – Genealogie und Terminologie, Bilder, Techniken und Artefakte. Forschungen aus der Herzog August Bibliothek.
Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2021.
316 Seiten, 78,00 EUR.
ISBN-13: 9783447115292

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