Die Freiheit auf dem Wasser entdecken

Christine Wolter schickt die Alleinseglerin im gleichnamigen Roman auf die Suche nach Herkunft, Heimat, Abhängigkeit und Autonomie

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist Februar. Die Ich-Erzählerin Almut geht durch das regnerisch-trübe Mailand und erinnert sich an den Norden, an die Gegend, aus der sie kommt und die sie verlassen hat, um zu ihrem italienischen Geliebten zu ziehen.

Dort schneit es. Der Schnee sinkt, rieselt, treibt zwischen den Stämmen. Stille. Nur der Wind hat Stimmen, vom See her. Ein Sog, ein Ziehen in unüblicher Richtung hat mich erfaßt: von Süd nach Nord.

Der Norden, das ist die DDR, konkret Ostberlin, wohin Christine Wolter als Elfjährige mit ihrer Familie 1950 hingezogen ist, nach der Flucht 1944 aus Ostpreußen. Geboren wurde die Autorin, die viele Gemeinsamkeiten mit ihrer Protagonistin hat, 1939 in Königsberg/Kaliningrad.

Die Erinnerungen, die an diesem Februartag auftauchen, sollen Almut über längere Zeiten nicht mehr verlassen. In ihnen findet sich eine Geschichte, die ihre, die sie vor sich ausbreitet, deren Spuren und Verästelungen sie folgt. Im Mittelpunkt steht das Boot, das sie von ihrem Vater – Käptn genannt – übernommen hat. Jede Fahrt koste ihn hundert Mark, meinte der Käptn, und weil er sich diese Summe nicht mehr leisten konnte, wollte er verkaufen. „Ich wollte das Boot nicht besitzen, ich wollte es nur nicht fortlassen“, hält Almut fest, und wenn auch alles dagegen spricht – kein Geld, schwanger, eine Beziehung, die wackelt –, Almut hat längst entschieden.

Das Boot – „Drachen (Länge über alles 9,82 m, 24 m2 Segelfläche, Karweelbau, Mahagoni und Lärche, gebaut von der Bootswerft Schaal, damals Köpenick, später Westberlin)“ – kennt Almut, oft war sie gemeinsam mit dem Vater unterwegs, doch segeln kann sie nicht. Es zu lernen wäre noch das Einfachste, viel stärker treibt sie in den folgenden Jahren all das um, was auch noch dazugehört. Lagerplatz für die langen Wintermonate finden, Boottransporte organisieren, passendes Segeltuch suchen, Risse flicken. Und vor allem: sich als Frau in einer Männerwelt behaupten. Almut hat einen starken Willen, und sie schaut den Herausforderungen ins Auge. Sie verlässt sich lieber auf sich als auf die anderen und will nicht nur sich beweisen, dass sie der Aufgabe gewachsen ist. Auch hier ähnelt sie stark ihrem Vater, der sich früh von der Familie getrennt hat und seine eigenen Wege gegangen ist.

Die Alleinseglerin, erstmals erschienen 1983, ist ein faszinierender Roman, der bis heute nichts an Aktualität und Überzeugungskraft verloren hat. Hier erinnert sich eine Frau an ihre Geschichte, nüchtern, unsentimental und ohne Larmoyanz. Sie zeichnet auf, was ihr Leben bestimmt und sie geprägt hat und es bis heute tut: ein Vater, der wegen und trotz seiner physischen Abwesenheit sehr präsent war, die Auswanderung nach Mailand, die Almut möglich wird, weil der Käptn einer der berühmtesten DDR-Architekten war (was auch auf Christine Wolters Vater zutrifft), die Sehnsucht nach dem Norden, der sie Raum verleiht, indem sie regelmäßig dorthin fährt, wo das Boot liegt und dort gemeinsam mit dem Sohn die schönsten Momente des Jahres verbringt, um ebenso von Sehnsucht getrieben wieder nach Mailand zurückzukehren. Es ist eindrücklich zu lesen, wie Almut sich an die Momente, die ihr Leben ausmachen, erinnert, sie vor sich ausbreitet und als Teile von ihr auf ihren Weg mitnimmt. Dabei suchen Leser:innen vergeblich nach Erklärungen, die gibt es nicht, die braucht es nicht. Vergleichbar mit dem Drachen, den zu segeln gelernt werden muss und der bestimmt, welcher Handgriff in welcher Situation erforderlich ist, nimmt Almut die Herausforderungen des Lebens an und handelt. Almut bewegt sich nicht einem „Nicht mehr und Noch nicht“, vielmehr gibt es das „Sowohl – als auch“, die DDR und der Westen, die Selbständigkeit und die Abhängigkeit, die Fürsorge (für den Sohn) und dessen Vernachlässigung (wenn das Boot sowohl Geld wie auch Zeit frisst). So eignet sich Almut denn auch nicht als Identifikationsfigur, hingegen sehr wohl als Vorbild einer Frau, die ihren eigenen Weg eigenständig und bewusst geht. Almut hat die Fähigkeit, die kleinen (und die großen) Momente zu leben.

Und nun, da die Schauer aufgehört haben, wiederholen sich die beiden Bogen im See, ihre Spiegelbilder flimmern bis zu uns herüber, die wir [Almut und ihr Sohn Hanns] auf dem Steg stehen, unter unserem Schirm, sie berühren uns, schließen uns ein. Die Seltenheit der Erscheinung macht uns stumm. Dieser doppelte und doppelt gespiegelte Regenbogen, dieses Aufblühen der Farben – und jetzt schon ihr Verblassen: eine Erinnerung an vergessene Gleichnisse kommt, und ehe wir sie festhalten, ist sie vergangen wie dieser Wetterzauber. Jetzt ist der See schon wieder grau, die Magie, die uns mit einschloß, ist verschwunden. Nennen wir es doch ein Zeichen, diese optische Erscheinung der Brechung des Lichts, wie sonst könnten wir uns die Heiterkeit erklären, die in uns zurückgeblieben ist? Es ist ein Zeichen, aber da wir verlernt haben, Zeichen zu deuten, so wie wir vieles verloren und verlernt haben, begnügen wir uns damit, es gesehen zu haben, wenigstens gesehen.

Titelbild

Christine Wolter: Die Alleinseglerin.
Ecco Verlag, Hamburg 2022.
208 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783753000732

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch