Jenseits der Fakten?

Sebastian Bernhardt und Jan Standke haben einen Sammelband zur Literaturdidaktik historischen Erzählens in der Gegenwartsliteratur herausgegeben

Von Ulrich KlappsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Klappstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Historisches Erzählen ist derzeit in der Allgemeinliteratur wie auch in Texten der Kinder- und Jugendliteratur, in TV-Serien oder Comic-Romanen weit verbreitet. Es ist damit, so setzen es die beiden Herausgeber Sebastian Bernhardt und Jan Standke voraus, per se ein Thema für die Literaturdidaktik, „die aktuelle ästhetische Entwicklungen und Rezeptionspräferenzen eines breiten Publikums ernst nimmt“. Der Umgang mit fiktionalisierter Historie stehe allerdings in einem  besonderen Verhältnis zur historischen Faktizität, da er mit Blick auf die Vermittlung geschichtlicher Ereignisse oder Personen „keinen Anspruch auf vollständige Wahrhaftigkeit“ erhebe, andererseits die aktuellen Debatten um den narrative turn u.a. in den Geschichts- und Kulturwissenschaften zu berücksichtigen habe. Besonders diese beiden Wissenschaftszweige gehen nicht mehr von Geschichte als gegebener Entität aus, sondern begreifen sie – so der Ansatz der Beiträger des hier anzuzeigenden Sammelbandes – als ein „diskursives Konstrukt“.

Die Herausgeber und auch die Autor:innen des Sammelbandes folgen dem Ansatz des amerikanischen Literaturwissenschaftlers und Historikers Hayden White (1928–2018), der in seiner Metahistory von 1973 davon ausgegangen war, dass die Grenzlinien zwischen historischer Narration und literarischem Erzählen zunehmend als unscharf wahrgenommen werden und neu reflektiert werden müssen.

Zu klären ist damit die Frage, welche Konsequenzen dieser Paradigmenwechsel für das literarische Lernen im schulischen Unterricht nach sich ziehen müsse, wenn man konzediert, dass das „Potential“ der medialen Formen des historischen Erzählens von den betroffenen Fachdidaktiken für die Bereiche von der Primarstufe bis hin zum Oberstufenunterricht noch zu wenig ausgeschöpft worden ist und auch die Verknüpfung mit literaturwissenschaftlichen Forschungsansätzen noch weitgehend ein Desiderat darstellt.

Die insgesamt 19 Beiträge des Sammelbandes verdeutlichen, dass die häufig noch anzutreffende Entkopplung ja sogar „Distanzierung“ insbesondere der Literaturdidaktik von ihrer Bezugsdisziplin Literaturwissenschaft überwunden werden muss. Die Autoren stammen überwiegend aus dem universitären Bereich und unterbreiten in ihren Beiträgen Angebote für die schulische Umsetzung. Angesprochen werden Lehrerinnen und Lehrer vor allem im Unterrichtsfach Deutsch, aber auch fächerübergreifende Ansätze und Vermittlungsmöglichkeiten werden angedeutet. Das Werk eignet sich somit auch als Ideenpool in Bibliotheken der betreffenden Schulformen.

Die Autor:innen trennen sich weitgehend von gattungstypologischen Fragestellungen, es geht ihnen stattdessen um das jeweilige Spannungsverhältnis von Historie und Ästhetisierung und darum, welche didaktischen bzw. methodischen Anschlussüberlegungen möglich erscheinen. Sie plädieren  dafür, dass der Deutschunterricht durchaus als Ideengeber für andere Fächer fungieren könne, da z.B. auch der Geschichtsunterricht davon profitieren könne, dass Geschichtsvermittlung vorrangig auf narrativem Wege erfolge. Konkrete literaturdidaktische Ansätze auszuformulieren bleibe dann jedoch die Aufgabe der Lehrerinnen und Lehrer unter Beachtung der Erfordernisse und Interessen ihrer jeweiligen Lerngruppen. Erkenntnisleitend für konkrete Unterrichtsplanungen und Lernzielformulierungen könnten dabei die Aussagen des Didaktikers Tilman von Brand sein: „Fiktionalen Texten kommt […] gegenüber faktualen Texten, also Texten mit dem Anspruch, auf die Wirklichkeit zu rekurrieren, ein besonderes didaktisches Potential gerade für das historische Lernen zu […]“ (Tilman von Brand: Historisches Lernen im Literaturunterricht. Basisartikel in der Zeitschrift Praxis Deutsch, Nr. 259/2016, S. 6).

Im Sammelband werden exemplarisch historische Romane und Erzählungen der Gegenwartsliteratur und -medien vorgestellt, aus literaturwissenschaftlicher Perspektive kommentiert und didaktisch perspektiviert, um Ansatzpunkte für ein ergiebiges literarisches Lernen zu setzen. Für den Bereich der Primarstufe, aber auch für die ersten Lernjahre der Sekundarstufe I fokussiert der Band auf den Bilderbuchkünstler Torben Kuhlmann, dessen Werke Lindberg, Armstrong und Einstein auch im Erwachsenenbereich eine gewisse Popularität erlangt haben. Weiterhin geht es in diesem Abschnitt um zwei Kinderromane (Pullerpause im Tal der Ahnungslosen und Pullerpause in der Zukunft) von Franziska Gehm, in denen der cultur clash zwischen der DDR und der BRD historiografisch und metahistorisch thematisiert wird. Ergänzend werden Überlegungen zur Verwendung einer Comic-Adaption des Tagebuch der Anne Frank von Ari Folman vorgestellt, parallel kann  das Mitläufertum zur Zeit des Nationalsozialismus  am Beispiel der Graphic Novel Irmina von Barbara Yelin herangezogen werden. Abgeschlossen wird diese Textgruppe mit einem Vorschlag zur Behandlung des Jugendromans Weggesperrt der Autorin Grit Poppe sowie mit einem Beitrag zu verschiedenen Adaptionen des Nibelungenliedes für Kinder und Jugendliche.

Für den Sekundarbereich wird ein Blick auf die Bedingungen des Erzählens im „Dorfroman“ Vor dem Fest von Saša Stanišić geworfen, der unterschiedliche Zugänge zur Komplexität individuellen und kollektiven Erinnerns gestattet. Zwei weitere Beiträge widmen sich den „postmodernen Inszenierungsstrategien“ in Christian Krachts Bestseller Imperium, der sich als Diskussionsgrundlage im Unterricht  deshalb  anbiete, weil es auch zehn Jahre nach dessen Erscheinen auf dem Buchmarkt „keine eindeutige und weithin anerkannte Textinterpretation“ gebe. Für den höheren schulischen Sekundarbereich wird Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt als Beispiel für ein postmodernes, metahistorisches Spiel mit Wahrheit und Fiktion angeboten, Genderfragen und Probleme sexueller Identität könnten anhand von Pat Barker Niemandsland-Trilogie thematisiert werden. Als Grundlage für diesen Vorschlag einer unterrichtspraktischen Umsetzung diente eine mit einem Oberstufenkurs durchgeführte Projektwoche. Anschließend wird der Aspekt Erinnerungskultur am Beispiel von Uwe Timms 68er Trilogie Heißer Sommer, Kerbels Flucht und Rot vorgestellt, um Einstiege in ein vertieftes Verständnis gegenwartsbestimmender historischer und politischer Kontexte im Rahmen einer weiter gespannten Unterrichtsreihe zu eröffnen. Erweitert werden könnte diese umfassendere Unterrichtsreihe durch die Behandlung der Kurzgeschichte des in der DDR aufgewachsenen Autors Hans Joachim Schädlich Kurzer Bericht vom Todfall des Nikodemus Frischlin aus dessen Erstlingswerk Versuchte Nähe von 1977. An dieser auch gegenwartsliterarisch bedeutsamen Parabel lassen sich Verfremdungseffekte bei der Darstellung eines einer anonymen Staatsmacht ausgelieferten Dissidenten aufzeigen. Am Beispiel von Oliver Pötschs Faustus-Roman können literarisch vermittelte Erzähl- und Kulturmuster behandelt und in ihrer gesellschaftlichen und wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutsamkeit auch für Schülerinnen und Schüler herausgestellt werden.

Einen wieder engeren historischen Bezug stellen die letzten beiden Beiträge des Sammelbandes her: Die Erfahrungen der russlanddeutschen Autorin Eleonora Hummel werden am Beispiel ihres Romans Die Wandelbaren didaktisierend eingebracht, insbesondere um die gewachsene Klientel von Schülerinnen und Schülern mit russlanddeutscher Familiengeschichte anzusprechen, und zwar mit einer Literartur, die noch zu oft von literarästhetischen Betrachtungsweisen ausgeschlossen ist. Ein abschließender Beitrag widmet sich den Gereon-Rath-Krimis von Volker Kutscher, die Zugänge zur Reflexion von sozialen, kulturellen und politischen Zusammenhängen in der Zeit der Weimarer Republik gewähren. In einem längeren Abschnitt dieses Beitrags werden zudem die medienspezifischen Unterschiede im Vergleich der behandelten Romane mit ihrer audio-visuellen Serienadaption in der populären Verfilmung Babylon Berlin vorgestellt; so wird auch der zunehmenden Beliebtheit von Literaturverfilmungen Rechnung getragen.

Alle Beiträge erfüllen die eingangs vorgestellten Zielsetzungen in hervorragender Weise und bieten insbesondere in ihren Sachanalysen beispielgebende Zugänge auch über die Kontexte der vorgestellten Unterrichtsprojekte hinaus, wenn es um die Aspekte Metafiktionalität und „Unzuverlässigkeit“ modernen Erzählens geht.

Titelbild

Sebastian Bernhardt / Jan Standke: Historisches Erzählen in der Gegenwartsliteratur. Positionen der germanistischen Literaturdidaktik.
Transcript Verlag, Bielefeld 2022.
360 Seiten , 49,00 EUR.
ISBN-13: 9783837663792

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