Humor ist, wenn man trotzdem lacht

Bel Kaufmans Klassiker „Die Abwärtstreppe rauf“ erzählt von überforderten Lehrenden, maroden Schulen und absurder Bürokratie – dank Übersetzerin Alexandra Berlina fast 60 Jahre nach der Erstveröffentlichung nun auch auf Deutsch

Von Elena HochRSS-Newsfeed neuer Artikel von Elena Hoch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Hilfe! Ich bin unter einer Papierlawine begraben, ich verstehe die Landessprache nicht, und was mache ich mit einem Jungen, der mich mit ‚Hey Miss!‘ grüßt?“ Sylvia Barrett hat erfolgreich ihr Studium beendet und beginnt hochmotiviert ihre erste Stelle als Englischlehrerin an einer Brennpunkt-High School in New York City. Sie möchte junge Menschen mit ihrer Liebe für Sprache und Literatur anstecken und sie für das Lernen begeistern. Doch schnell kommt die Ernüchterung: Die Klassenzimmer sind baufällig und überfüllt, ihre Schüler:innen „nicht akademisch veranlagt“ (wie es von Seiten der Schule heißt) und das Kollegium resigniert. Den Glauben an ihre Schützlinge haben die meisten von ihnen ebenso verloren wie den an ein angemessenes Arbeits- und Lehrumfeld. „Ich war auch mal so wie du“, entgegnen sie der hoffnungsvollen Syl, „aber dann habe ich gelernt: Es lässt sich einfach nichts machen, da kannst du genauso gut gleich aufgeben.“ Nur ihre Kollegin und Freundin Bea macht ihr Mut. („Die Freuden kommen später, dafür werden die Kinder schon sorgen – und zwar die, von denen du es am wenigsten erwartest.“) Sie ist Syls einzige wirkliche Stütze in dem Tohuwabohu, auf das sie an der Universität definitiv nicht vorbereitet worden ist.  

Besonders die vielen strengen und überwiegend unsinnigen Regeln stellen die junge Lehrerin vor Herausforderungen – vor allem dann, wenn sie gar nicht umzusetzen sind. Als Syl etwa ihre persönliche Nemesis, Administratorassistent James J. McHabe, darauf hinweist, dass ihr Schreibtisch keine mittlere Schublade hat, in der sie, wie von ihm verlangt, ihre Unterlagen verstauen kann, bekommt sie zur Antwort, dass es nicht produktiv sei „defektive Geräte für die Nichteinhaltung der Anweisungen zum Verschließen vertraulicher Unterlagen verantwortlich zu machen.“ Einen Lösungsvorschlag für ihr Problem bekommt sie nicht. Stattdessen lernt Syl schnell, dass Aufforderungen an der Celvin Coolidge High nachzukommen ist und wenn das nicht möglich sein sollte, ist ihnen trotzdem nachzukommen. Die inhaltlich wie sprachlich hochkomplexe Schulbürokratie ist nicht minder von Paradoxien geprägt: Schüler:innen sind zwar jederzeit in der Bibliothek willkommen, dürfen sie aber weder betreten noch nutzen, Abwesende sind zum Administratorassistenten zu schicken und Lehrkräfte werden aufgefordert, sich freiwillig für Extra-Aufgaben zu melden. Die Liste an Absurditäten ist schier endlos.

Umso erschreckender – aber zugegebenermaßen auch unterhaltsam – ist es zu erfahren, dass die meisten der aberwitzigen Forderungen, die an die Mitarbeitenden der Calvin Coolidge gestellt werden, der Realität entstammen. Davon berichtet die Autorin, Bel Kaufman, in ihrem fast dreißigseitigem Nachwort von 2012, das zusätzlich zum Roman sowie einem Nachwort der deutschen Übersetzerin Alexandra Berlina im Buch abgedruckt ist. Ebenso persönlich wie berührend erzählen die beiden Peritexte von „Bel und ihrem Buch“. Davon, dass sie nie vorgehabt hat, einen Roman zu schreiben, erst recht nicht einen Bestseller oder einen ‚Klassiker über Bildung‘. Dass sie eine High-School-Lehrerin gewesen ist, die hin und wieder Kurzgeschichten in Zeitschriften veröffentlicht hat und „nicht kühner träumte als von weniger Papierkram, von genug Gehalt, um über die Runden zu kommen, und von einem gelegentlichen Wort der Anerkennung.“

Der Vorläufer von Die Abwärtstreppe rauf war ebenfalls eine Kurzgeschichte, die Kaufman unter dem Titel From a Teachers Wastebasket in einer Literaturzeitschrift veröffentlichte. Als eine Lektorin sie daraufhin kontaktierte und sie bat, die Geschichte zu einem Roman auszuarbeiten, lehnte Bel Kauman zunächst ab. Sie hätte auf diesen dreieinhalb Seiten alles gesagt, was sie zu sagen hatte. Ein üppiger Vorschuss konnte sie schließlich überzeugen: „Ich nahm ihn an. Und gab ihn aus. Also musste ich das Buch schreiben.“

Der Roman, der daraufhin entstand, erschien 1964 bei Prentice Hall. 64 Wochen lang hielt er sich auf der New York Times Best Seller List, bis heute wurde er mehr als acht Millionen Mal verkauft. Das Leben der Autorin veränderte sich durch den Erfolg ihres Bildungs- und Enthüllungsromans von Grund auf. Aus der unbekannten Lehrerin wurde binnen kürzester Zeit eine berühmte und gefragte Rednerin. Kaufman sprach auf Bildungskongressen, in Talk Shows, im Hör- und Klassensaal – und das bis ins Hohe Alter. Mit beeindruckenden 99 Jahren leitete sie an ihrer Alma Mater ein Seminar über jüdischen Humor, in dem es u.a. um ihren Großvater, den Gründervater jiddischer Literatur Scholem Alejchem, ging. Noch heute finden sich im Netz zahlreiche Videoaufzeichnungen von und mit Bel Kaufman. Besonders der Beitrag über sie aus der Study with the Best-Serie von CUNY TV sei an dieser Stelle empfohlen; dort spricht sie darüber, wie es ist, 100 Jahre alt zu sein (Bel Kaufman starb im Alter von 103 Jahren), erklärt, warum Liebe und Humor so wichtig sind, und rührt die 28-jährige Reporterin schließlich mit ihrem Plädoyer für das Leben zu Tränen.

Was Die Abwärtstreppe rauf, neben seiner Entstehungs- und Erfolgsgeschichte, so besonders macht, ist unbestritten seine Erzählweise. Aus einer bunten Mischung aus Notiz- und Schmierzetteln, Kummerkastennachrichten, internen Korrespondenzen mit Bea und anderen Kolleg:innen, Briefen an Syls alte Studienkollegin Ellen, Rundschreiben, Schüler:innenantworten, To-Do-Listen, freien Dialogen, Tafelanschrieben und vielem mehr spinnt sich darin die Geschichte rund um Sylvia Barett. Die Handlung teilt sich zwar in verschiedene Kapitel, innerhalb der Abschnitte sind die Texte (und zum Teil auch Zeichnungen) freilich nahtlos und unkommentiert aneinander gereiht. Eine klassische Erzählerfigur, die durch die Handlung führt, gibt es nicht. Stattdessen sind die Leser:innen mit den Textschnipseln alleine gelassen. Was mühsam und anstrengend klingen mag, ist genau das Gegenteil: die kurzen, ungeordneten, teils willkürlich wirkenden Textteile machen den Roman zu einer kurzweiligen Lektüre und das Buch zu einem regelrechten Pageturner. Die abstrusen Schulregeln laden dabei immer wieder zum Schmunzeln ein, ebenso wie die pathetischen Rundschreiben des Direktors, Syls verzweifelte Versuche, den Hausmeister zu kontaktieren, und die inhaltlich wie orthographisch abenteuerlichen Antworten von Syls Schüler:innen.

Die Übersetzung der Rechtschreibfehler ist hierbei allerdings nicht immer gelungen. Mitunter wirken sie doch sehr konstruiert. So, als sei das Wort im Original falsch geschrieben worden und nun in der deutschen Übersetzung an selber Stelle, ob wahrscheinlich oder nicht, ein Rechtschreibfehler nötig gewesen. Hier geht vermutlich einiges an Authentizität des Originals verloren. Anspielungen und Witze finden teilweise ebenfalls nur schwer ihren Weg ins Deutsche. Dies wird dadurch gelöst, dass die Übersetzerin Alexandra Berlina sich immer wieder in Fußnoten zu Wort meldet und erklärt, was z. B. ein Administratorassistent (administrative assistent) und ein Flurschein ist. Was holprig klingt, erweist sich als hilfreiche Stütze bei der Lektüre des Buches.

Obwohl der Roman aber von lange vergangenen Zeiten erzählt, weist er eine Gegenwartsnähe auf, die erstaunlich wenig des Transfers bedarf. Überfüllte Klassenzimmer, frustrierte Lehrende, unmotivierte Schüler:innen und marode Gebäude prägen noch heute die Schullandschaft – in Deutschland wie den USA. Der Spagat zwischen autoritärer Lehr- und empathischer Vertrauensperson stellt Lehrende ebenso noch immer vor Herausforderungen wie desinteressierte Eltern, der starke Kontrast zwischen dem Studium an der Universität und dem realen Schulalltag und fehlende Kreide. Kaufmans Buch schlug damals ein wie eine Bombe, weil es das freilegte, was lange Zeit nur denen zugänglich und bewusst war, die selbst im Schulsystem tätig waren. Und selbst heute realisieren Leser:innen von Die Abwärtstreppe rauf überrascht, was auch Alexandra Berlina im Alter von zehn Jahren durch die Lektüre des Romans erstaunt feststellte: „dass Lehrerinnen auch Menschen sind“.

Titelbild

Bel Kaufman: Die Abwärtstreppe rauf.
Aus dem amerikanischen Englisch von Alexandra Berlina.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2022.
448 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783627003012

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