Literaturwissenschaft und Übersetzungen

Vier Bände spanischsprachiger Lyrik von den Anfängen bis zur Gegenwart sind zu bewundern

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich sollte man ein Buch, das man bespricht, ganz gelesen haben. Das geht hier nicht, jedenfalls nicht, ohne dass Besprechungen zu lange auf sich warten lassen. Denn die anzuzeigende Publikation Spanische und hispanoamerikanische Lyrik umfasst vier Bände mit insgesamt mehr als 2600 Seiten, 800 Gedichte von 200 AutorInnen, 900 Jahre Stoff. Also blättere ich, aber ein Blätterbuch ist das nicht, ich blättere und lese mich hier fest oder lose, um dieser verlegerischen und herausgeberischen Großtat ein bisschen nahe zu kommen. Hauptherausgeber ist Martin von Koppenfels, Romanist und Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Die einzelnen Bände wurden u.a. betreut von Susanne Lange, Literaturwissenschaftlerin und ausgewiesene Übersetzerin spanischer und lateinamerikanischer Literatur, Petra Strien, ebenfalls Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin aus dem Spanischen, Johanna Schum, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in München, Horst Weich, wiederum Romanist in München – um nur einige wenige, die zum Gelingen dieses Mammutwerks beigetragen haben, zu erwähnen.

Schon die Vorsatzblätter sind prima. Im ersten Band, der Zeit von etwa 1100 bis Ende des 16. Jahrhunderts gewidmet, findet sich so etwas wie eine mittelalterliche Buchschrift mit Verzierungen (aus dem Cancionero de Stúniga, wird man informiert). Mal schauen, was der zweite Band bietet, vom 16. Jahrhundert bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts. Da findet sich das Titelblatt der Soledades von Luis de Góngora. So geht es aber nicht weiter, denn die vorderen und hinteren Vorsätze des dritten Bandes zeigen das Faksimile (Bleistift, sehr schöne Handschrift, aber allerhand Durchstreichungen, man guckt also in die Werkstatt) eines Gedichts von Miguel Hernandez (1910-1942), während die Vorsätze des vierten Bandes (ich gucke gleich, bin sehr gespannt) etwas zeigen, was irgendwie zwischen Kindergekritzel und Joan-Miro-Figürchen anzusiedeln wäre. Aber das ist ja ein Gedicht, denn man sieht Wörter zwischen all den dickbauchigen Krickelhühnern – das Ganze ist von Alejandra Pizarnik. Nie gehört, also: nachschlagen. Das Namenverzeichnis ist schnell gefunden und gibt Auskunft. Alejandra Pizarnik war eine argentinische Lyrikerin, 1936 geboren, 1972 durch Suizid gestorben. Ich lese hinein in ihr Gedicht Erinnerungen (daraus einige Verse; je öfter ich sie lese, desto mehr finde ich mich, glaube ich, hinein in die Wucht und Ausweglosigkeit, die dort zu finden ist):

und die Zeit erwürgte meinen Stern
vier Zahlen kreisen tückisch
schwärzen das Eingemachte
und die Zeit erwürgte meinen Stern
ich wandelte zerschlagen über dunklem Schacht
es weinte der Glast über mein Grün
und ich schaute und schaute
und die Zeit erwürgte meinen Stern
sich erinnern an das dreifache Gebrüll
mürber Gebirge und dunkler Radios
zwei gelbe Gläser
zwei kratzige Kehlen
zwei kommunizierende Küsse der Vision einer Existenz zur anderen Existenz
zwei stöhnende Versprechen von unerhört fremder Redseligkeit
zwei Versprechen nicht zu sein doch zu sein nicht zu sein

Martin von Koppenfels notiert in seiner Gesamt-Einleitung, es sei immer noch „keine Selbstverständlichkeit“, dass „Literaturwissenschaft und Übersetzung Hand in Hand“ arbeiteten, das aber ist hier gelungen. Die Kommentare zu den AutorInnen der Gedichte sind hervorragend, dazu gibt es zahlreiche Literaturhinweise. Zugleich werden Bezüge hergestellt. Es gibt ein Wegweiser-Zeichen, ein Pfeil, der jeweils in den Bänden unter vielen Gedichten auftaucht mit Verweis auf eine andere Stelle, ein anderes Gedicht. Das soll dazu anregen, „zu anderen Gedichten zu springen, die in irgendeinem Sinn, etwa durch ein Zitat, eine inhaltliche oder eine formale Entsprechung, mit dem jeweiligen Text in Beziehung stehen“. Spanische und hispanoamerikanische Gedichte wechseln sich ab, hispanoamerikanische AutorInnen nehmen in den hinteren Bänden immer mehr Platz ein. In den Bänden I bis III „werden gelegentlich Gruppen von Gedichten verschiedener Autorinnen und Autoren zu bestimmten Schwerpunkten zusammengefasst, die durch eine eigene Überschrift ausgezeichnet sind“. Also eben nicht nur spröde Literaturwissenschaft, die Bände sollen gelesen werden.

Ich greife jetzt einfach aus jedem Band etwas heraus, der vierte Band brachte ja schon (für mich) die Entdeckung Alejandra Pizarniks. Der erste Band beginnt mit den sogenannten Chardschas. Um 1100 war die iberische Halbinsel ein Sprachengewirr: Die arabisch sprechende maurische Oberschicht, hebräisch sprechende Juden und, eher den unteren Schichten zugehörig, Christen, die eine romanische Sprache verwendeten, noch nah am Lateinischen. Die sogenannte Muwaschaha-Dichtung, zumeist „gereimte Liebesgedichte“, verfasst in der klassischen arabischen Hochsprache, endete mit einer Chardscha (‚Ausgang‘), die beiden Schlussverse wechselten in die Volkssprache. Dieser ‚Ausgang‘ war meist in arabischer Volkssprache verfasst, konnte aber auch auf das romanische Idiom zurückgreifen. Auch inhaltlich war die Muwaschaha-Dichtung zweiteilig. Sie simulierte ein Zwiegespräch. Zuerst sprach der maurische Oberschichtler, ihm antwortete liebesschmachtend eine Christin. Von Koppenfels: „Es sind Notrufe des Begehrens, die die höfischen Dichter von al-Andalus jungen Mädchen aus den Christenvierteln in den Mund legten; weibliche Stimmen in männlicher Projektion, erotisch-exotische Phantasien aus der Perspektive der arabischen Oberschicht.“ Fremde Schönheiten müssen Männer aus höheren Schichten natürlich immer anhimmeln – und sei es nur in der Phantasie.

Aus dem zweiten Band exemplarisch ein Sonett von Francisco de Quevedo (1580-1625): Lebenslauf eines Mannes (in der Übersetzung von Wilhelm Muster):

Das Leben fängt mit Kacken und mit Tränen,
mit „Heiah!“, „Mama“, mit dem „Schwarzen Mann“,
mit Geifer, Rotz und Kinderpocken an,
auch Kreisel, Klappern wären zu erwähnen.

So wächst er auf: die Freundin, der Betrug,
vor heller Gier wird ihm die Brust zu enge,
der Jüngling braucht schon eine ganze Menge,
kein schlimmes Trachten gilt ihm nun genug.

Erwachsen spielt er allen übel mit,
der Junggeselle mag zum Hürchen passen,
der Ehemann geht dann den Hahnrei-Tritt.

So wird er weiß, verrunzelt, dürr und alt,
dann kommt der Tod. Und was er unterlassen,
was er gesündigt, büßt er alsobald.

Das ist doch was. Quevedo war ein übellauniger, teils intriganter und giftiger, aber brillanter Kopf. Seit 1613 fungierte er als Privatsekretär des Herzog von Osuna in Sizilien und Neapel, 1632 als Sekretär Philipps IV. Wer intrigiert, gegen den wird intrigiert. Quevedo wurde durch höfische Winkelzüge geschasst, verbrachte daher die Jahre 1639 bis 1643 im Gefängnis. Danach körperlich desolat und verbittert, verbrachte er die letzten beiden Jahre auf seinem Privatbesitz.

Aus dem dritten Band sei auf Rafael Alberti (1902-1999) verwiesen – von diesem habe ich seit Ewigkeiten einen Gedichtanfang aus dem Band Marinero en tierra im Kopf, 1924 erschienen:  

Wenn meine Stimme stürbe zu Lande,
dann tragt sie hinauf zum Meer
und ernennt sie zum Kapitän
über ein weißes Kriegsschiff

Das Gedicht kommt hier gar nicht vor. Aber das macht ja nichts, Alberti ist mit anderen Gedichten vertreten – wie überhaupt die gesamte sogenannte Generation von 1927, spanischsprachige Lyriker, die seit dem Beginn der 1920er Jahre schrieben, sich auf Góngora beriefen, Surrealismus und anderes inhaliert hatten: Federico Garcia Lorca, Jorge Guillen, Vicente Aleixandre, um nur einige zu nennen.

Auch wenn manche Namen einigen bereits bekannt sein dürften, diese Ausgabe bietet Gelegenheit, viele weitere gewinnbringende lyrische Bekanntschaften zu machen. Den vier Bänden ist in jedem Fall eine große Leserschaft zu wünschen.

Titelbild

Martin von Koppenfels / Susanne Lange / Johanna Schumm / Petra Strien / Horst Weich (Hg.): Spanische und hispanoamerikanische Lyrik. In vier Bänden – zweisprachig.
Verlag C.H.Beck, München 2022.
CII, 2539 Seiten , 128,00 EUR.
ISBN-13: 9783406783500

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