Purpurne Zeichen

Poetische Qualität und erschütternder Realismus verknüpfen Ulrike Draesners „Die Verwandelten“ mit Ovids sprachlichen Metamorphosen der Gewalterfahrung

Von Ulrike SteierwaldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Steierwald

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nebelkinder – das sind die in den 1950er bis 70er Jahren des vorigen, aber nicht vergangenen Jahrhunderts geborenen Kinder der sogenannten Kriegskinder des Nationalsozialismus. Deren emotionales Erbe liegt im Verschweigen und in der Übertragung von Traumata erlittener Gewalt und verdrängter Schuld der Großelterngeneration. Nebel erzeugt eine obskure Stille und zugleich eine Omnipräsenz des nicht zu Durchschauenden. Er trennt die Nebelkinder von den Projektionen der durch Verlustängste und Verwundungen gekennzeichneten Eltern und hüllt sie zugleich in ihnen ein. Sagt ein Nebelkind:

Kommen Sie mit. Hier ist ein Geheimnis versteckt, Sie spüren es längst, wir stehen vor seiner Tür, mit Blumenranken bemalt, Malven, Ranunkeln, Thymian, ein schöner Garten, oh ja, ein Idyll, es handelt sich um ein Entbindungsheim, kommen Sie mit und sehen Sie sich an, was dort geschieht.

Und wir kommen also mit, lesen und sehen in Ulrike Draesners (Jg. 1962) Roman Die Verwandelten die Geschichten und Geschehnisse von Krieg, Flucht, Gewalt, Weiterleben und Weitergeben im Verlauf dreier Generationen, die bis heute keine ‚Entbindung‘, kein genealogisches Danach und keinen Abschluss in einer vermeintlichen Nachkriegszeit haben finden können und – die Gegenwart des Krieges in Europa beweist es – nie finden werden. Das Ideal einer Idylle, einer vermeintlich geschichtslosen Natur, wird als Vorgarten eines sogenannten „Lebensborn“-Heimes im nationalsozialistischen Deutschland entlarvt, in dem uneheliche, „arische“ Säuglinge für linientreue Eltern mit Kinderwunsch geboren und zur Adoption freigegeben wurden. Züchtung und Züchtigung entsprechen der Denkweise eines totalitären Regimes und waren fester Bestandteil im staatlichen Fördersystem des „Dritten Reiches“. Doch die Fragen bleiben, wie Verlust, Trauma und Trauer in die Körper, die menschlichen Beziehungen und epigenetischen Fortschreibungen der Gewalterfahrung einsickern. Die Verwandelten lösen das Geheimnis nicht auf, sondern bringen es in einem Kaleidoskop der Stimmen zur Sichtbarkeit, jenseits von Voyeurismus oder selbstgerechter Identifikation und entfernt von der Möglichkeit schneller Urteile und Schuldzuweisungen.

Noch das deutsche Klein- wie Großbürgertum des vorigen Jahrhunderts hatte in Adaption feudaler Traditionslinien ein genealogisches Selbstverständnis in Form von Stammbäumen gepflegt. Die auf den Vorsätzen des Buches abgebildeten Beziehungsdiagramme der Familie(n) Valerius und Schücking sind durch Fäden verbunden, verschlungen oder zerrissen. Sie demontieren die Tradition der Baum- und Wurzelmetaphern dieser ‚Stammes-Bäume‘ und lassen sie in eine Stofflichkeit einsickern, die der gewebeähnlichen Struktur des Textes entspricht. Die Verwandelten sind Teil einer mit diesem Roman nun gerundeten Trilogie, die treffender als ein triadischer Zyklus von Erfahrungen der Bedrohung, Flucht, Verfolgung und Zerstörung in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts beschrieben werden kann (2014 erschien Sieben Sprünge vom Rand der Welt, 2020 Schwitters).

Draesner widmet ihren Figuren, die sich trotz der erlittenen Zerstörungen dem Weiterleben verschrieben haben, eine Frage aus Ovids Metamorphosen – „Was soll Philomela tun?“ Der gefolterten, vergewaltigten, durch das Herausschneiden ihrer Zunge artikulatorisch scheinbar ohnmächtigen, aber bildlich sprachmächtigen Frau gelingen die Sichtbarmachung und das Zur-Sprache-Bringen des Geschehens und damit ihrer selbst: „Klug spannt die Kettfäden sie im Baum des fremden Stuhls, der webt, und fügt in das weiße Fadennetz purpurne Zeichen, die erzählen, was ihr widerfuhr.“ (Ovid, Metamorphosen VI, 572-580).

In den stofflichen Beziehungsdiagrammen sind die Spuren der Gewalterfahrung durch Namen und Geburtsjahre der Figuren und auf der anderen Seite durch zusammengesetzte Verben – „verfolgt“, „versetzt“, „vertrieben“, „vermisst“, „verwandelt“ – gekennzeichnet. Generationenübergreifend sind auch die Worte „migriert“, „ermordet“ oder „lebt, wo er/sie will“ zu finden. Doch bei näherer Betrachtung werden hier bereits ganz andere Zusammenhänge von Generation, Geschlecht oder Genealogie sichtbar. Im ersten von drei Teilen, „Das 21. Jahrhundert schaut [dumm?] aus der Wäsche“, begegnen sich zwei Nebelkinder, die in Berlin lebende Kinga („Rechtsanwältin, Alleinerziehende, Erbin“) und Dorota („genannt Doro. Freundin, Überraschungsverwandte, deutsch-polnische Flusssucherin“ und sprechenderweise Logopädin). Aktuell wird das in seinen Zwanzigerjahren immer noch im Erstaunen über sich selbst befindliche 21. Jahrhundert von Krisen, Epidemien, Ängsten, Radikalisierungen und Kriegen überrascht, die als Symptome einer vermeintlichen ‚Zeitenwende‘ erscheinen. In dieser Gegenwart lernen sich die beiden Cousinen kennen – und begeben sich auf die Suche nach ihren gemeinsamen familiären Beziehungsgeflechten in der deutschen wie polnischen Geschichte: „Das 20. Jahrhundert behängt sich mit Glorie und schwankt“ und „Das 20. Jahrhundert zeigt seinen Bauch“ sind die folgenden Teile des trialogisch aufgebauten Romans überschrieben. Die Recherche wird zu einer Stimmensuche:

Die Mütter sprechen mit uns. / Sprechen uns mit, mit sich. / Mit dem, was sie nicht sagen konnten: schon sich selbst nicht zu sagen wussten. / Ich bin es. Sagt man so?

Es geht um das Schweigen und Sprechen zwischen Töchtern und Müttern und um weibliche Identität, allerdings nur, sofern sie nicht als identitäre Fremd- oder Selbstzuschreibung verstanden wird. Das bürgerliche Verständnis von ‚Familie‘ im Sinne von Vater-Mutter-Kind greift nicht. Was ist also die „Bagasche“ (polnisch-schlesisches Idiom für Verwandtschaft), das Bündel, das Gepäck und die Schwere der Last, die sich an Kinder von Generation zu Generation kettet? Kingas Mutter, Alissa Schücking, war einer der mehr als 1400 Säuglinge, die im „Lebensborn“-Haus „Hochland“ in Steinhöring bei München zur Welt kamen. Auf der Suche nach ihrer leiblichen Mutter trifft sie als ältere Frau auf eine in den bürgerlichen Familien weit verbreitete, sanktionierte wie tabuisierte Konstellation: Ihre Mutter, Adele, ist in den 1930er Jahren bei Familie Valerius als Köchin in Breslau/Wrocław angestellt. Sie wird schwanger durch die Übergriffe des „Dienstherrn“, eines von manisch-depressiven Phasen durchjubelten Theaterdirektors und Ehemannes, der auch liebevoller Vater einer neunjährigen Tochter Renate ist. Adele wird in Steinhöring einquartiert. Dieses Musterbeispiel aus der (bildungs-)bürgerlichen Sozialgeschichte Deutschlands wird in Draesners Roman jedoch nicht einfach zu einer der bekannten Handlungsfolien, die dem heute allseits beliebten Narrativ in Abendserien zur besten Sendezeit entspräche. Das Geschehen formiert sich vielmehr im Erleben, Erinnern, Weiterleben, Verdrängen und Suchen der folgenden beiden Generationen – der sogenannten Halbschwestern Alissa und Renate (genannt Reni) und derer beiden Töchter Kinga und Dorota.

1945 flieht die sechzehnjährige Reni mit ihrer Mutter im kollabierenden Deutschland des Kriegsendes zunächst von Breslau Richtung Tschechien, kehrt aber zeitgleich mit dem Vorrücken der russischen Armee in die Stadt zurück. Mehrfach vergewaltigt, schwerverletzt und von ihren Eltern im Zuge der Evakuierung der Zivilbevölkerung verlassen, überlebt die hochschwangere, junge Frau in einem unterirdischen Bunker – nein, sie überlebt (sich) nicht, sondern übersetzt sich in eine verwandelte Existenz, in eine polnische Frau, in Walla Valerius. Das Kind verliert sie.

Die Erzählung folgt nicht der zeitlichen Konstruktion einer Chronologie, sondern ermöglicht, die unterschiedlichen Perspektivierungen des Erlebens, der Erinnerung, Reflexion, Betrachtung oder Klage als historische Realität zu begreifen. Der Roman verwebt die Bindungen zwischen Müttern und Töchtern, die Verbindungen von Vergangenheit und Gegenwart zu einer literarischen, von poetischer Reflexion getragenen Textur. Durchwebt ist sie vom lyrischen „Gesang der gezwungenen Kinder“, der zu Beginn fast jeden Kapitels aufbricht. In der traditionsreichen Frage nach der faktischen Glaubwürdigkeit der historischen Erzählung im Roman findet Ulrike Draesner klare Antworten von einzigartiger poetischer Qualität. Zwei graphisch abgesetzte, die Orte und Zeiten der Geschehnisse durch ein „Wurmloch“ – eine geodätische Erdbohrung – in Verbindung setzende Redeströme halten den literarischen Stoff in seinen zeitlich und räumlich disparaten Handlungssträngen zusammen. Denn: „Die Zeichen reisen im Untergrund. Znaki podróżują pod ziemią“. So wird die bodenlose, unendliche Vielsprachigkeit der Texturen, Schichten und Schauplätze des Gedächtnisses sichtbar. Walter Benjamins Archäologie des Eingedenkens wird in diesem literarischen Sprachbild einer grabenden Spurensuche konkret.

Für Ulrike Draesner selbst ist die ethische Frage, ob Leiden und Gewalt jenseits von Reproduktion und Voyeurismus ins Bild zu setzen sind, von existenzieller Bedeutung. In ihren Selbstkommentaren und auch in der Werbung des Verlages betont sie immer wieder, Gewalt nicht reproduzieren zu wollen: „Es gibt keine explizite Gewaltdarstellung im Roman, nur streifende Erinnerungen, nur die Frage nach dem Danach“. Doch es wäre ein grobes Missverständnis zu glauben, dieses Zur-Sprache-Kommen des „Danach“ und der Traumata wären nicht von erschütterndem Realismus durchdrungen. Die Leser:innen erfahren hautnah Brutalität, Verletzung, Zerstörung, Verfolgung und auch die radikale Einsamkeit, denen die Kinder und Frauen ausgesetzt sind. „Das glühende Jetzt der Erinnerung“ erscheint in realer Präsenz. Auch in den Kapiteln „Wunderschöne Rennnächte“, „Vom Zungennagel“, oder „Die Rückkehr, der ein Bauch wächst“ werden Vergewaltigung, Folter, Mord nicht gezeigt, aber im Lesen umso sichtbarer gemacht. Wer der Aufforderung „Kommen Sie mit“ wirklich folgt, wird von diesem Text in mehrfacher Hinsicht mitgenommen.

Seit einigen Jahren ist es immer mehr zur Gewohnheit geworden, in Ausstellungen, Filmen, Inszenierungen, ja inzwischen auch im Rahmen wissenschaftlicher Vorträge, Warnungen vor potentiell ‚verstörenden Bildern‘ auszusprechen. Aus guten Gründen verständigt sich hier eine demokratische Gesellschaft darauf, entsprechende Konfrontationen mit ‚verstörenden‘, vielleicht aber auch störenden, aufrüttelnden Fakten nur nach Rückversicherung einer selbstbestimmten Positionierung des Rezipienten zuzulassen. Allerdings wird dabei die Frage nach dem Realitätswert der jeweiligen Bilder und Sprachen, gar nicht mehr gestellt. Susan Sontag hatte bereits 2003 in ihrem Essay Regarding the Pain of Others die Ideologie dokumentarischer „Authentizität“ in Frage gestellt, aber umso mehr vor einer Relativierung der „Wirklichkeit“ gewarnt und die unabschließbare, kritische Auseinandersetzung mit deren Wirksamkeit eingefordert. Anhand von Goyas Desastres de la Guerra zeigte Sontag den unverbrüchlichen Anspruch der Kunst des Aufzeigens: „Solche Dinge sind geschehen“.

Will man den Künsten weiterhin ein kritisches Potential in ethischen Fragestellungen zugestehen, erscheinen die inzwischen zu Routinen gewordenen Hinweise an den „sensiblen Zuschauer“ in etwas anderem Licht. Wenn diese Warnschilder lediglich die sich selbst attestierte Sensibilität, die eigene Belastbarkeit, schlimmstenfalls einen kalkulierbaren Bedarf nach erträglicher, konsumierbarer (An-)Spannung widerspiegeln, können sie zu zynischen Affektkontrollen im Sinne von ‚Wie viel Realität hätten’s denn gern?‘ verkommen. Die erschreckende Faktizität von Gewalt, Missbrauch und Verbrechen droht dann unsichtbar zu werden. Dieser Tendenz setzt Draesners Roman einen von poetischem Realismus getragenen, erschütternden Text aus weiblicher Perspektive entgegen. Er legt die Wunden und auch die unter der Haut liegenden Vernarbungen des Menschen nicht sezierend frei. Doch wer den Blicken, Gedankensplittern, den Körpern mit laut „knackenden“ Brechungen und tiefen Einschneidungen lesend folgt und sie mit der „Wärme“ des Eingedenkens umgibt, wird sich ihnen nicht mehr entziehen können. Inzwischen ist der Roman für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Hoffentlich ein gutes Zeichen für die Sensibilität wie Belastbarkeit eines breiten Publikums im gegenwärtigen Deutschland und einer großen Leserschaft, die den „purpurnen Zeichen“ unbedingt zu wünschen ist.

In Ulrike Draesners Sprache verknüpfen sich die abgrundtiefe Schwere und Last der familiär verwobenen Traumata mit Ovids Metamorphosen – aber nicht nahtlos, sondern mit allen Rissen, Löchern, Flicken und Fehlstellen der Überlieferung. Humorvolle und tragikomische Passagen unterstreichen die ungeheure Stärke und den Mut, die in den sich selbst erfindenden Transformationen des Weiterlebens liegen. Auch der vierten Generation, Flummy („Kingas Adoptivtochter“), wird im Beziehungsdiagramm das Wort ‚verwandelt‘ in roten Buchstaben zugeschrieben. Der in den Künsten und ihren Wissenschaften in den letzten Jahren leicht inflationär gebrauchte Begriff der Verwandlung, der Verwandelten, ist im Titel dieses Romans einmal mehr unverzichtbar, denn er schließt alle stofflichen wie literarischen Wandlungen, Wendungen, Gewänder und Gewandungen in sich ein. Draesner spricht im Nachwort von den Figuren ihres Romans als von Geweben, die die verwundeten und geschändeten Körper umfangen:

Alle Figuren sind präzise erfunden. Sie agieren als Mäntel, als Schutzhüllen. Im Lauf des Schreibens wurde mir deutlich, dass ich Fiktion neu verstand: eine Folie, im Nachhinein um verletzte Körper geschlungen. Körper, die nie existierten, um jene gelegt, die es gab. Die verborgen von diesen Figuren, dank ihrer nicht ‚in sich verstummt‘ bleiben müssen.

Mäntel sind fließende, flexible, wärmende und berührende Gewebe, die die purpurnen Zeichen der Geschichte tragen, die in ihrer Realität immer aufs Neue wahrgenommen werden müssen. Denn hierin liegt – fragil, aber unbedingt und unverbrüchlich – die Widerständigkeit der Dichtung gegenüber den Verbrechen in Geschichte und Gegenwart begründet.

Titelbild

Ulrike Draesner: Die Verwandelten. Roman.
Penguin Verlag, München 2023.
608 Seiten , 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783328601722

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