Altern in Zeiten von Corona

In „Closing Party“ erzählt Jean Willi von einem Schweizer, der seinen Alltag während der Corona-Pandemie auf Ibiza reflektiert

Von Miriam SeidlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Seidler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahr 1999 hat Jean Willi den Roman Sweet Home veröffentlicht. Er beschreibt darin die Geschichte von Alex, dessen Stiefmutter mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Selbstmord beging, der von Polizei und Staatsanwaltschaft aber als Mord behandelt wird. Der Vater des Protagonisten wird aufgrund von schwachen Indizien zu 15 Jahren Haft verurteilt. Alex wächst bei seiner Tante auf, die ihm lange vorenthält, warum sein Vater aus seinem Alltag verschwunden ist und sich nur noch per Brief bei ihm meldet. Die Geschichte von Alex ist zugleich die von Jean Willi. In einem Interview beschreibt der aus der Schweiz stammende Autor, wie er mit dem autofiktionalen Text über seine Familiengeschichte versucht hat, sich diese von der Seele zu schreiben und dann doch immer wieder mit ihr konfrontiert wurde.

Der neue Roman von Willi Closing Party – nimmt die Konstellation aus diesem frühen Roman wieder auf. Der Protagonist Alex ist nun einige Jahrzehnte älter. Er lebt schon seit vielen Jahren auf Ibiza, arbeitet als Künstler, malt, schreibt Gedichte und Texte und wenn ihm das Geld ausgeht, kehrt er einige Wochen in die Schweiz zurück, wo er als Grafiker und Designer arbeitet. Einige Gedichte sind im Roman abgedruckt, wodurch sich die Gemälde von Alex auszeichnen ist eher nebensächlich. Auch wie er mit seiner Freundin Tanja über Afrika nach Ibiza gelangte, wird nur in Ausschnitten erzählt.

Der Beginn von Willis Roman erinnert einerseits an Max Frischs 1979 erschienenen Roman Der Mensch erscheint im Holozän, in dem ein alter Mann aufgrund eines Unwetters eingeschlossen in seinem Haus in einem Tessiner Bergdorf gegen das langsame Vergessen ankämpft. Doch Alex, der Protagonist in Willis Roman, ist nicht in einem Bergdorf eingeschlossen, sondern ihn fesseln vor allem die strengen Ausgangsbestimmungen während des Lockdowns und seine Angst vor der Corona-Pandemie an sein Haus. Andererseits scheint sich der Roman im Kreis zu drehen. Zwar reflektiert der Ich-Erzähler immer wieder sein eigenes Alter, wägt ab, ob seine Verhaltensweisen dem Alter oder der Pandemie geschuldet sind, aber mit der Krankengeschichte, die Frisch entwickelt, hat der Text nichts gemein:

Manchmal hatte er das Gefühl, er könnte schrullig werden, vereinsamt, mit einem Hang zur Selbstaufgabe, die sich in den Staubschichten im Haus seit ein paar Jahren abzuzeichnen begann. Er stellte sich vor, wie es wäre, allein auf der Welt zu sein. Die Vorstellung war derart utopisch, dass er sie nie zu Ende denken konnte.

Es ist die Wiederkehr des Immer-gleichen, das Fehlen von Anregungen von außen, die den Alltag von Alex bestimmen, doch der Text scheint am Anfang eher eine Dystopie denn eine Utopie zu beschreiben. So hat Alex nur mit wenigen Menschen regelmäßig Kontakt. Tatjana kommt mit ihren Hunden vorbei und macht mit ihm gemeinsam Spaziergänge. Seinen Nachbarn, den Holländer, sucht Alex selbst regelmäßig auf – auch wenn ihn die Gespräche mit ihm, die immer um die gleichen Themen kreisen, zunehmend langweilen. Ansonsten stellt er vor allem über das Telefon Kontakt zur Außenwelt her. Sein bester Freund, den die Pandemie an die Schweiz fesselt, ist ein wichtiger Gesprächspartner. Im Unterschied zu vielen anderen Bekannten kann er sich mit ihm ungezwungen unterhalten, weil die lange gewachsene Freundschaft viel Gesprächsstoff liefert, umso mehr schmerzt die räumliche Entfernung.

In seinem tagebuchartigen Stil ist der Roman von den Träumen, Erinnerungen und Gedanken des Protagonisten geprägt. Eine wichtige Rolle spielen seine vor einigen Jahren unerwartet verstorbene Frau Celia und sein Hund, den er aufgrund einer Krankheit einschläfern lassen musste. Verstärkt durch die Einsamkeit scheint der Protagonist sich einer Depression zu nähern. Es gelingt ihm aber immer wieder, sich aus seinen Stimmungstiefs zu befreien. Auch im neuen Roman scheint sich Willi etwas von der Seele schreiben zu wollen, allerdings ist es nun weniger sein individuelles Schicksal als vielmehr das kollektive während der Pandemie.

Inhaltlich haben die 91 Kapitel eine sehr ähnliche Struktur: Meist beginnt ein Kapitel mit der Beschreibung eines nächtlichen Traumes, erzählt dann von Einkäufen oder dem Besuch eines Cafés und endet mit der Beschreibung des Gartens oder anderen Naturbeobachtungen auf der Insel. Ein Genuss wird die Lektüre von Closing Party durch die Bilder und Metaphern, die der Autor für die Landschaft Ibizas, aber auch für die psychische Befindlichkeit seines Protagonisten findet. Sie sind wie Pinselstriche, die ein Bild entwerfen, dass doch viel Interpretationsspielraum lässt, um in der Erzählung eigene Erfahrungen widergespiegelt zu finden. So berührt der Text ebenso wie er zum Nachdenken anregt, ist doch die Konstruktion der Geschichte immer schon mitbedacht, wenn Alex reflektiert, wie er sein Ich beobachtet. Durchzogen ist der Roman von dem Bewusstsein, dass das Schreiben sein Weg ist, das eigene Leben in den Griff zu bekommen. Dabei entbehrt der Text nicht der Komik, wenn die Figur die Stagnation beschreibt, in der sie gefangen ist:

Einen Text zu schreiben, der davon handelte, wie nichts passierte, war nicht einfach. Eine Stimmung, die eine lähmende Ruhe auslöste, etwas, das sich andauernd wiederholte. Dass jemand Alex anrief, war nichts Weltbewegendes, zumal es meistens darum ging, was beim letzten Anruf so oder ähnlich geklungen hatte. Inzwischen dürfte klar geworden sein, dass er seine Einkäufe in San Miguel tätigte, alle paar Tage den Müll und die leeren Flaschen wegwarf und seinen Hund vermisste. Dass alle diese Situationen einiges über ihn und seinen Umgang mit Einsamkeit sichtbar machten, wenn ihn nicht Todesgedanken oder Träume mit wilden Bären ansprangen.

Als Leser*in wundert man sich im Lauf der Lektüre, warum man der Erzählung so gespannt folgt. Findet man sich und seinen zum Stillstand gezwungenen Alltag in den Schilderungen von Alex wieder? Sind es die kleinen Veränderungen, die präzisen Alltagsbeobachtungen, die eine positive Stimmung verbreiten? Oder ist es die faszinierende Landschaft mit ihren Zikaden und Palmen, die bei Leser*innen eine Urlaubsstimmung aufkommen lässt, die die Schrecken der Pandemie verdrängt? Vielleicht ist es aber doch auch die Hoffnung, dass noch irgendetwas geschehen wird in dieser vom Stillstand gezeichneten Welt?

Der Abend blieb hell, als hätte die Nacht vergessen, den Tag abzulösen. Die Sonne leuchtete in geheime Winkel, in denen Igelfamilien wohnten, geschlüpfte Rebhuhnküken, Schlangen. Über dem Meer ballte sich das Licht wie nach einer Kernexplosion. Die Natur, stolz wie ein Pfau, schlug das Rad, als freue sie sich über das Schicksal, das den Homo Sapiens in seine Schranken wies. Alex hoffte in dieser Inszenierung eine Rolle zu spielen und befand sich dabei – ganz im Gegensatz zu seinem Empfinden – fernab einer evozierten Schöpfung, die ein gnadenloser Gott vom Stapel ließ. Ein Lichtkünstler par excellence, den kleinliche Probleme wie Leben und Tod eines Erdlings nicht interessierten. Ein steinalter Patriarch im fürchterlichsten Sinne, der in seiner grenzenlosen Demenz weder Recht noch Unrecht akzeptierte und den Menschen einen freien Willen einzureden versuchte, den es unter seiner Fuchtel nie gegeben hat.

In solchen Momenten, in denen metaphorischen Landschaftsbeschreibungen in philosophische Reflexionen übergehen, läuft Willi zu Hochform auf. Einen Sinn zu finden, in einer Schöpfung, die jeglichen Sinns entbehrt, aber doch durch ihre beeindruckende Schönheit fasziniert, ist das Paradox, das den Roman durchzieht. Werden die Leser*innen so von der Sprachmacht des Autors geblendet, die lediglich die Leere des Alltags verdeckt? Kann man dieses Verfahren auch auf die Pandemie selbst übertragen?

In der belletristischen Bearbeitung der Corona-Pandemie tauchen immer wieder Figuren auf, die den Leser*innen bereits aus anderen Kontexten bekannt sind und die nun in „Zeiten der Seuche“ – wie der Protagonist von Willi gerne schreibt – gezeigt werden. Kurz nach der Pandemie kann in dieser Reflexion die Ausnahmesituation noch einmal erlebt werden, zugleich entsteht damit aber auch eine ganz eigene Form der Erinnerungsliteratur, die dazu beitragen kann, dass nach der Rückkehr zur Normalität die Folgen der politischen Entscheidungen für die einzelnen Gruppen reflektiert werden können. Auf sehr eindrückliche Weise zeigt das kluge Psychogramm in Closing Party welche Folgen der Lockdown für alte Menschen hatte. Die Einsamkeit und die Angst um das eigene Leben machen selbst aus geselligen Personen in kürzester Zeit Eigenbrötler, die überwiegend in Träumen und Phantasien leben. Der Roman führt durch Wiederholungen vor Augen, wie schwer es ist, die Veränderungen zu erkennen, die Isolation zu durchbrechen und sich den Menschen wieder zuzuwenden. Gerade in einer alternden Gesellschaft sollte dieser Roman eine Warnung sein, nicht zu leichtsinnig die Freiheitsrechte der Menschen einzuschränken, denn manche Versäumnisse sind nicht wieder gutzumachen.

Titelbild

Jean Willi: Closing Party. Roman.
Verlag Johannes Heyn, Klagenfurt 2022.
288 Seiten , 28,90 EUR.
ISBN-13: 9783708406725

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