Sprechende Stille, nordische Weite und das Gespräch mit den Lebenden und den Toten

Carmen-Francesca Banciu wandelt auf den Spuren von Günter Grass in dessen ehemaligem Haus im schleswig-holsteinischen Wewelsfleth und zieht die Leser*innen in einen poetischen wie gedanklichen Sog

Von Stephan WoltingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Wolting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Carmen-Francesca Banciu ist innerhalb der deutschsprachigen Literatur längst kein Geheimtipp mehr, seit sie 2018 mit ihrem Werk Lebt wohl ihr Genossen, ihr Geliebten auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand. Zuvor hatte sie in ihrem Geburtsland Rumänien bereits einen größeren Bekanntheitsgrad erreicht und schon 1985 in Deutschland den Internationalen Kurzgeschichtenpreis der Stadt Ansberg erhalten.

Die im westrumänischen Lipova geborene Autorin, die 1991 mit einem Auslandsstipendium des DAAD nach Deutschland kam, lebt seit 1992 in Berlin. Sie hat verschiedentlich darauf hingewiesen, dass sie auf eigenen Wunsch in Deutschland geblieben ist, obwohl sie eigentlich wie so viele mitteleuropäische Autor*innen, etwa in der Tradition Danilo Kis‘, nach Paris wollte, was sie in ihrem Werk Berlin ist mein Paris genauer beschrieben hat. Sie versteht sich in diesem Sinne auch keinesfalls als politische Exilautorin, wenngleich sie in Rumänien im Anschluss an den erwähnten Preis mit einem fünfjährigen Publikationsverbot belegt wurde. Dazu passt ihre Bemerkung zum Verhältnis von deutscher und rumänischer Sprache in ihrem Werk: wie sie zunächst in Berlin auf Rumänisch schrieb, und sich dann immer mehr deutsche Stimmen – nicht zuletzt konkret in ihrem Schreibcafe – in ihren Schreibfluss mischten.

Der Fluss und die Musikalität der Sprache, der Rhythmus und die Melodie sind für sie nach wie vor die wichtigsten Elemente. Auf diese Weise mischten sich, je länger sie in Deutschland lebte, unter ihre „rumänische Sprachmusik“ dann auch allmählich immer mehr deutsche sprachliche Ingredienzen. Insofern bezeichnet sie sich selbst als deutsche und rumänische Schriftstellerin. Weiter aufschlussreich erscheint in diesem Zusammenhang die Bemerkung, die sie im Gespräch äußerte, wonach sie ihr gerade Geschriebenes laut vorliest und immer dann merkt, dass etwas noch nicht stimmt, wenn sie an einer Stelle stockt.

2021 erhielt sie das Alfred-Döblin-Stipendium der Berliner Akademie der Künste für Berliner Schriftsteller*innen und kam eigentlich mit einem anderen Projekt ins Alfred-Döblin-Haus, das Günter Grass vor dem Abriss bewahrte, es nach seinem Vorbild Alfred-Döblin benannte und es 1985, als er weiterzog, dem Land Berlin vermachte. Günter Grass hatte das Haus, eine „barocke Kirchenspielvogtei”, ein Wort, dessen altertümliche Fremdheit sich der Autorin nicht öffnet. Anfang der siebziger Jahre entdeckt, und mit seiner damaligen Frau Veronika, einer Architektin und Malerin, bewohnt; die Tochter Helene kam dort zur Welt, zu deren Geburt er ihr einen Baum pflanzte, und vier seiner Klassiker entstanden hier: Der Butt, Das Treffen in Telgte, Kopfgeburten und Teile der Rättin.

An diesem Ort und in dieser Atmosphäre wurde die Autorin so vom Locus genius bzw. vom Geist des ehemaligen Besitzers erfasst, dass sie sich auf dessen Spuren begab, so dass auf diese Weise ein “Briefroman“ entstand, was einen ersten Hinweis auf die Form des Werks gibt. Der Titel ist Grass‘ Roman Der Butt entnommen –„Ilsebill saltze nach” – ein Satz, der dreißig Jahre nach Erscheinen des Buches in einer Internetumfrage zum schönsten ersten Satz eines deutschsprachigen Romans gekürt. Es wird damit auf das berühmte Märchen aus Pommern Vom Fischer und seiner Frau angespielt. In Hinblick auf die Entstehung des Werks wird mit dem Blick aus dem Fenster die Frage gestellt: „Wärst du ohne diesen Friedhofsblick darauf gekommen, den Butt so zu schreiben? Wie du ihn geschrieben hast.“

Ursprünglich hatte die Autorin ein Werk über Überlebende von Kindertransporten in der NS-Zeit geplant, wie sie im Buch schreibt. Im Zuge ihrer Recherchen in London und anderswo stieß sie auf den Namen Walter Kaufmann, der nach England und später, als England in den Krieg eintrat, mit den anderen 2000 Kindern zu Enemy Alliens erklärt und nach Australien ins Internierungslager Hay geschickt wurde. Als Angehöriger der australischen Navy und Matrose lernte er viel von der Welt kennen, kehrte später nach Deutschland (allerdings nicht in seine Geburtsstadt Duisburg, sondern in die DDR) zurück, wurde Schriftsteller und später sogar Generalsekretär des DDR-Pen-Clubs.

Sein Schicksal wird von Banciu mit dem von Grass in Verbindung gesetzt und zum Teil kontrastiert. Besonders ergriffen macht die Stelle, an der sie beschreibt, wie sie zufällig in Berlin auf ihn trifft, das heißt ihn anspricht, ohne ihn vorher gesehen zu haben. Betroffen lässt die/den Leser*in auch die Passage zurück, in der sie von ihm Abschied nimmt, als er in hohem Alter, mit 97 Jahren, zur Corona-Zeit stirbt, wie sie den letzten Brief an ihn zitiert, und ihm danach nicht mehr begegnen wird. Es sind diese Sätze eindringlicher Schilderungen, die das Werk so kostbar machen, ein Werk, das sich jeder vorschnellen Kategorisierung entzieht.

Es stellt zudem eine Mischform verschiedener „Genres” dar, „Montagen”, wie es Banciu an einer Stelle nennt, und weist Spuren unterschiedlicher „Medialität“ auf. Schon das von der Autorin selbst wunderschön gestaltete Cover verweist auf die das reine Schreiben transzendierende Medialität: bordeauroter Einband, ein von der Autorin aufgenommenes Foto des legendären Tischs aus der Grass-Küche, an dem sie wie Grass schrieb und Mahlzeiten zubereitete, und als Hintergrund eine Grafik, von ihrer Verlegerin gestaltet, in violett, lila-grauen Streifen gesetzt. Im Werk selbst tauchen weitere Fotos auf (u.a. des Alfred-Döblin-Hauses). Das Hochformat passt ausgesprochen gut dazu, außerdem ist das Buch in lesefreundlichen großen Lettern gedruckt.

Das Werk selbst entzieht sich, wie bereits angedeutet, durch seine unterschiedlichen Teile einer Gattungszugehörigkeit: lange Abschnitte in Prosa, aber vor allem auch Anteile von Gedichten oder poetischen Beschreibungen, die den spezifischen Sound Bancuischen Schreibens ausmachen. Das wurde schon in ihren früherem, den ersten auf Deutsch geschriebenen Werken wie der Familientrilogie Das Lied der traurigen Mutter, Vaterflucht und Lebt wohl, Ihr Genossen, ihr Geliebten zu ihrem Markenzeichen und gilt als ihr Alleinstellungsmerkmal. So war etwa in letzterem Werk, als „Langgedicht“ bezeichnet, eine eindeutige Zuordnung ebenfalls nicht möglich.

Ansätze der Auseinandersetzung mit ihrer Lebensgeschichte bzw. der Auseinandersetzung mit ihren Eltern tauchen auf andere Weise auch in diesem neuen Band wieder auf, in dem sie die Frage stellt, ob wir „der Falle unserer Herkunft entgehen können” und dabei auf den Schreibimpuls von Grass verweist: die Auseinandersetzung mit seiner Danziger Herkunft, der kaschubischen Mutter und des deutschen, nationalsozialistischen Vaters. In dieser Hinsicht kommen sich Schriftstellerin und Schriftsteller als „gebrannte Kinder“ nahe. Hier der im kleinbürgerlichen, nationalsozialistischen Danzig aufwachsende Grass, dort die in einer kommunistischen Funktionärsfamilie in Rumänien großwerdende Autorin, die sich allerdings, was die Lebensjahre betrifft, viel früher als Grass politisch gegen Eltern und Partei stellte, woraufhin ihr Vater für sieben Jahre den Kontakt zu ihr abbrach. In diesem Zusammenhang bekennt die Autorin schonungslos, dass sie nach der Aufmerksamkeit der Eltern, besonders des Vaters, „lechzte“. Im Werk selbst finden sich weitere Gemeinsamkeiten zwischen der Autorin und dem Autor, etwa die Vorliebe für die Essenszubereitung, das Rauchen, das Tanzen oder das „In-die-Pilze-Gehen” (bei Grass) bzw. die Vorliebe für das Pilzesuchen (bei Banciu), aber auch große Unterschiede, zumal die Autorin aufrichtig bekennt, dass sie vor dem Besuch des Hauses mit der Prosa und dem Werk von Grass nicht viel anfangen konnte.

Weitere Parallelen zeigen sich etwa in der „Technik“ der Vermischung von Prosa und Poesie, die Grass in Der Butt selbst verwandt hat. Insofern stehen beide durchaus in der romantischen Tradition der erwähnten Mischformen von Gattungen. Banciu benutzt dazu sehr moderat Zitate von Grass. Sie spricht von „Gedankenschleifen”. Diese hier von der Autorin geschaffene poetische Zuspitzung könnte dazu fast wie eine Programmatik ihres Werks verstanden werden:

Doch jetzt schweife ich, nein, ich schleife zu sehr aus. Ich binde eine Schleife aus Gedanken und dann zurre ich sie wieder zu einem Knoten zusammen. So entsteht ein Energiekern. Die Verdichtung meiner Gedankenspiele. Aus dem Kernen entstehen immer neue Gedanken. Immer neue Schleifen. Die immer wieder in den Knoten münden.

Neben dem Motiv der Küche und der damit verbundenen Essenszubereitung, die sowohl die Autorin als auch Grass schätzten, spielen fiktive Briefe und Gespräche eine zentrale Rolle – nicht nur mit Grass, sondern auch mit den Leuten aus dem Ort und den Toten auf dem Friedhof, auf den sie aus ihrem Fenster schauen kann. Sie sieht etwa das Familiengrab der Familie Wessels, deren Geschichte(n) sie nachforscht, und stellt es in Kontrast zu anderen Riten in Rumänien: „In Rumänien werden die Toten ausgegraben. Alle sieben Jahre.” Dazu flicht die Autorin, um im Bild zu bleiben, aktuelle Themen in das Werk ein, wie die Unfreiheit der Corona-Pandemie oder den „Einschlag“ des Ukraine-Kriegs. Die Autorin „befragt” Grass fiktiv, welche Haltung er dazu einnehmen würde, die sie natürlich kennt, und verweist in diesem Zusammenhang auf beider „Predigerton“.

Es sind diese Motive, aber auch die unglaublich lyrische und verdichtete Sprache, die die Lektüre des Werks zu einem besonderen Ereignis machen. Die Autorin versteht es, durch ihren suggestiv-poetischen Ton Leser*innen derart in den Bann zu ziehen, dass man glaubt, selbst in der ehemaligen Küche Grass‘ zu sitzen und den Meisen oder Tauben zu lauschen, auf den sich vor dem Fenster befindlichen Friedhof zu schauen und sich von der Atmosphäre des Ortes berauschen zu lassen. Nicht zuletzt spielt dabei die Stadt als Werftstandort eine besondere Rolle, etwa beim Ausbau des legendären Viermasters Peking, dessen Schönheit an Aussehen und über das Wasser gleitender Fortbewegung die Autorin berührt und der sie, die sich vorher nicht viel „aus Segelschiffen gemacht hat“, eine Passage des Werks widmet. Die Erzählung davon stand im wahrsten Sinne des Wortes im Raum.

Darüber hinaus führt sie durchaus kritische Zwiegespräche mit Grass (was etwa das späte Eingeständnis seiner Waffen-SS-Mitgliedschaft betrifft), mit den Toten, aber auch mit den sie umgebenden Dingen oder den Vögeln, die motivisch im Werk eine ähnliche Rolle spielen wie die Insekten in ihrem Griechenland-Poesie-Band von 2015 Leichter Wind im Paradies.

Als Leser*in hat man das Gefühl, in der Weite zu sitzen, dicht bei den Vögeln, aber nicht zuletzt den Menschen des Ortes und deren Vorfahren, ihre Lebensgeschichte zwischen manchen Irrlichtern und Hoffnungsschimmer abzulauschen. Letztendlich verbindet die Autorin mit Grass die Besessenheit für das Schreiben, was sie so eindringlich vermittelt und in räumlich gestalteter, poetischer Prosa umsetzt. Zudem hat die Autorin inhaltlich wie formalästhetisch ihr großes Thema in Hinblick auf „vergeben, verzeihen, versöhnen”, wie sie mehrmals schreibt, gefunden. Wie sie dieses Thema in unterschiedlichen Facetten und formalen wie gattungsmäßigen Variationen durchspielt, ist so eindrucksvoll, dass man dem Werk nur eine möglichst große Anzahl Leser*innen wünschen möchte.

Titelbild

Carmen-Francesca Banciu: Ilsebill salzt nach. Ein Briefroman.
PalmArtPress, Berlin 2023.
300 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783962581305

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