Bachmann-Preis 2023 – Tag 1

Der erste Lesetag in Klagenfurt endet mit einem klaren Favoriten

Von Bozena BaduraRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bozena Badura

Nach den Zeiten der Pandemie, in der Kritik und Literatur räumlich getrennt waren – die Literatur wurde in den (zugegebenermaßen gemütlichen) Garten, der dieses Jahr zum Ingeborg-Bachmann-Park ernannt wurde, verlagert – kommt es nun endlich zur räumlichen Wiedervereinigung.

Dieses Jahr hat somit einerseits ein Comeback zu der Besonderheit des Bachmann-Preises, die in der Nähe von Literatur und Kritik begründet ist, stattgefunden. Andererseits gibt es aber auch Neuerungen auf mehreren Ebenen: So gibt es nun zwei neue Jurymitglieder, Mithu Sanyal und Thomas Strässle, einen neuen Moderator, Peter Fässlacher, und schließlich eine neue Art, den Gewinnertext zu ermitteln – anders als bei den vergangenen Malen werden die Punkte live vor Ort und erst am Sonntag vergeben. Dieses neue Prozedere verspricht mehr Transparenz bei der Ermittlung der diesjährigen Gewinnertexte und sorgt nebenbei für einen einzigartigen Spannungsaufbau bei der Abschlussveranstaltung.

Nun aber zu den Texten des ersten Vorlesetages: Als erster durfte sich der französisch-deutsche Schriftsteller Jayrôme C. Robinet, der in Klagenfurt auf Einladung von Mithu Sanyal gelesen hat, der Jury stellen. Bei dem von ihm vorgelesenen Text mit dem Titel Sonne in Scherben handelt es sich um einen Auszug aus einem Roman, der womöglich schon nächstes Jahr im Hanser Berlin Verlag erscheinen wird. Das Thema des Textes ist die Geschichte eines Mannes, der als Mädchen geboren wurde und im Laufe seines Lebens eine Transformation zum ersten schwangeren Mann und Vater erlebt. Die Erzählung beginnt mit einer fein ausgearbeiteten Darstellung des aus der Kinderperspektive erzählten Familienalltags. Wir begegnen einem Mädchen, das seinen Vater über alles liebt. Dr. Papa, der (nicht promoviert!) als Bauarbeiter arbeitet, ist sein Held und wird auf der Erzählebene mit dem Licht und der Liebe assoziiert. Doch das Familienglück ist nicht von Dauer, denn als er und der ältere Bruder bei einem Autounfall ums Leben kommen, bleibt die Tochter im Alter von 11 Jahren allein mit ihrer Mutter zurück, die übrigens im Text nicht viel Raum einnimmt. Als erwachsener Mensch erfährt der Ich-Erzähler eine Transformation zum Mann und findet die große Liebe. Um das Glück zu vervollständigen, soll eine Familie gegründet werden. Da die Frau jedoch unfruchtbar ist, wird der Ich-Erzähler zu demjenigen, der die Tochter zur Welt bringt. So wird das einstige Mädchen zum ersten schwangeren Mann und zieht die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf sich. Der Text endet mit einem idyllischen Bild des Neugeborenen.

Die Diskussion der Jury verlief sehr differenziert. Zunächst wurde die Performanz des Autors hervorgehoben, die dem Text unter anderem durch den rhythmisierten Vortrag neue Ebenen hinzufügte. Zudem wurde der spielerische Umgang mit der Sprache thematisiert sowie ein gewisser Humor, der in den Text eingebaut wurde, wobei Mithu Sanyal den humorvollen Passagen eine Spannungsabbaufunktion attestierte. Zur Sprache kam auch die Frage nach Autofiktion, da es offensichtliche Parallelen zwischen dem Autor und dem Ich-Erzähler des Romans gibt. Einige der Kritikpunkte, die von mehreren Jurorinnen und Juroren angesprochen wurden, waren der berichtende Charakter in dem mittleren Teil des Textes sowie seine Konventionalität im Aufbau, wobei nicht präzisiert wurde, um welche Art von Konventionalität es sich hierbei handelt. Zwar hat der Text die Jury nicht restlos begeistert, doch er irritierte sie und brachte sie zu einer grundsätzlichen Diskussion über die Aufgabe der Literatur, was sicherlich ein Zeichen dafür ist, dass der Text am Sonntag womöglich als einer der Favoriten zurückkehren könnte.

Als zweites wurde ein Text von Andreas Stichmann mit dem Titel Verwechslungen vorgetragen. Der Autor las auf Einladung von Mara Delius. In dem Text begegnen wir einem Ich-Erzähler, der sich wegen seiner Nesselsucht in einer Klinik befindet. Wir erfahren einige wenige Einzelheiten seines Klinikalltags, der Skype-Gespräche mit seinen nun erwachsenen Kindern, den Besuch seiner Ex-Frau und einige Erinnerungen an die Vergangenheit enthält. Bedauerlicherweise bleibt der Text auf einer inhaltlichen Oberfläche und schafft es nicht, die Potentiale des Settings auszuschöpfen. Dies führte auch zu einem mäßigen Lob unter den Jurorinnen und Juroren und ließ die Diskussion über die Konventionalität der literarischen Texte erneut entstehen. Zuletzt wurde dem Text doch eine glatte Oberfläche zugestanden, die es allerdings den Lesenden nicht einfach macht, in den Text einzutauchen und eine Beziehung zu der Figur aufzubauen. Dennoch hat sich die Jury dem Text gegenüber sehr wohlwollend gezeigt und suchte bemüht nach tieferen Bedeutungsebenen und möglichen Referenzen außerhalb des Textes.

Nach der Pause wurde der Favorit des Tages vorgelesen. Auf Einladung von Insa Wilke las Valeria Gordeev ihren Text Er putzt vor. In dem Text begegnen wir einem jungen Protagonisten, der neurotische Züge aufweist und sich in einem Putzwahn verliert. Es wird erstaunlich detailliert beschrieben, wie er die Spüle von Verschmutzungen aller Art befreit, welche Putzmittel er nutzt und wie sie angewendet werden. Im Hintergrund schaut die jüngere Schwester die Serie Emergency Room, die dem Protagonisten für das junge Alter der Schwester nicht besonders gut geeignet scheint und bei dem Protagonisten den Eindruck einer permanenten systematischen Überforderung erweckt. Was sich auf den ersten Blick im Putzvorgang zu erschöpfen vermag, bekommt auf jeden weiteren Blick und mit jedem weiteren Lesen neue Bedeutungsebenen, die sehr dezent in den Zwischentönen und kleinen Kommentaren eingeführt werden.

Der Text stieß nicht nur beim Publikum auf Sympathie, sondern erntete auch bei den Jurymitgliedern Lob. Mit jedem Beitrag ließen sich die Jurorinnen und Juroren zu neuen Deutungsmöglichkeiten und steilen Thesen verleiten. Es wurde so gut wie alles an dem Text gelobt. Auch wenn hier und da offene Wünsche bezüglich der genaueren Einordnung des zeitlichen Rahmens geäußert wurden, könnte man den Text als klaren Favoriten des Tages hervorheben. Ob dies auch so bleibt, werden die Texte der weiteren Tage noch zeigen.

Den ersten Lesetag schloss der Text Eve Sommer von Anna Gien, die auf Einladung von Mara Delius gelesen hat, ab. Bei dem letzten Text des Tages handelt es sich um einen wenig greifbaren Text, der sich aus Tagebucheinträgen, Träumen, Erinnerungen und kleinen Textpassagen zusammensetzt. Da der Text über keine Rahmenhandlung verfügt, ist er auch an dieser Stelle schwer zusammenzufassen. Wir begegnen hier einer Ich-Erzählerin, die einen Zusammenbruch erlebt und sich womöglich in einer unglücklichen Beziehung befindet, aus der sie keinen Ausweg findet, und somit in (Tag-)Träume flüchtet. Dieser Zusammenbruch scheint sich auch auf der Textebene fortzuziehen. Denn nicht nur dem Text an sich scheint es an Kohärenz zu mangeln, auch die Sätze ergeben zum Teil einen nicht greifbaren Sinn, wie zum Beispiel: „Der Welpe, der ertrunken ist. Ich weiß, er hat überlebt, aber er ist ertrunken. Du belebst ihn, belebst ihn immer wieder mit Deinen Händen.“

Bei diesem Text hat sich auch die Jury wenig einsichtig gezeigt. Das kritische Urteilen über den Text fiel ihr schwer. Bezeichnend ist für die Diskussion die Tatsache, dass sich als erste die einreichende Jurorin, Mara Delius, zu Wort meldete, und den Text als einen zu erklären versuchte, der sich aus Gefühlswelten zusammensetzt. Man habe hier zwar keine Handlung, doch vielmehr gehe es hier um ein „blindes“ Suchen der Ich-Erzählerin und um symbolische Motive. Darauffolgend meldeten sich mehrere Jurorinnen und Juroren und berichteten von den Problemen der eigenen Lektüre. Insa Wilke gestand sogar, bei der Lektüre geflucht zu haben. Philipp Tingler verriet, dass ihm bei der Lektüre der Text zu Boden fiel, woraufhin er feststellen konnte, dass die Reihenfolge der Seiten bei der Lektüre gar keine Rolle spielt. Mithu Sanyal eröffnete, dass sie früher auch solche Texte verfasste, sie allerdings schnell abgelegt hat. Dennoch betrachte sie den Text als mutig und radikal. Auch Brigitte Schwens-Harrant konnte dem Text wenig Positives abgewinnen, da dieser unverändert auf der Stelle zu treten scheint. Sehr schnell driftete die Diskussion allerdings auf völlig andere Ebenen. Denn statt sich mit dem Text kritisch auseinander zu setzen, wurde nun darüber diskutiert, ob der Text überhaupt von der Autorin verfasst wurde, oder ob es sich hierbei nicht doch um ein Produkt der künstlichen Intelligenz handele. Nachdem Philipp Tinlger den Text als Befindlichkeitsprosa abgestuft hatte, die kaum jemanden interessieren mag, versuchte Insa Wilke abschließend, den Text als einen Beitrag zur Diskussion über Kunst zu verorten und somit das Urteil etwas milder ausfallen zu lassen.

Die Texte des ersten Tages waren sehr unterschiedlich. Ähnlich heterogen fielen auch die jeweiligen Diskussionen der Jury aus. Wir bleiben gespannt, welche neuen Perspektiven auf die Literatur und die Welt uns die Texte der kommenden zwei Tage eröffnen werden.

 

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen