Jahrhundert des Kinos

Esther Kinsky erweckt in „Weiter Sehen“ einen Wunderort zum Leben

Von Carl ManzeyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carl Manzey

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Anfang steht die Frage: wohin mit dem Blick? Das erste Kapitel dieses Romans, der ein Jahrhundert des Kinos heraufbeschwört, gilt der Evolution des Blicks: Vom gerahmten Blick durchs Fenster an einem Wintermorgenüber das Fernglas hin zur Kamera; Endpunkt dieser Evolution ist das Kino. Die Erzählerin verbindet mit ihm die Weite, das Vage, die Denkbarkeiten und die Geschichten.

Das Initiationsereignis für die Erzählung situiert sich an einem Ort, der dem eigentlichen Handlungsraum des Romans diametral entgegensteht. An einem norwegischen Fjord trifft die Erzählerin zufällig eine Frau, die ihr von ihrer Heimat, der ungarischen Tiefebene erzählt.

Sie erzählte mir vom Krieg und von der Gegend, aus der sie stammte, einer flachen Landschaft im nördlichen Serbien, einer Stadt nicht weit von der Grenze zu Ungarn. Sie beschrieb den Fluss, die großen Maisfelder und die Beschaffenheit der Städte und Dörfer, die alle wie mit dem Lineal angelegt waren, sämtliche Straßen verliefen schnurgerade von Süd nach Nord oder von Ost nach West, und da es sich um eine sehr flache Gegend handelte, konnte man vielerorts von einem Ende der Straße bis zum anderen sehen und sogar noch weiter, bis zum Horizont.

In diese Gegend, das ungarische Alföld, wo man redensartlich nur auf einen Kürbis zu steigen braucht, um bis nach Budapest zu sehen, reist die Erzählerin und bleibt dort einen langen Sommer.

Esther Kinsky hat selbst im Banat gelebt und diese historische Region in Südosteuropa bereits in einem Roman und einem Lyrikband literarisch verarbeitet. Was nun folgt, ist die Auseinandersetzung mit einem zerbrochenen Traum, dem Traum von einer Wiederbelebung des Kinos als Raum der gemeinsamen Einsamkeiten an einem Ort, der vom Rest der Welt wie abgeschnitten ist. Die Erzählerin, die sich durchaus mit Kinsky identifizieren lässt, beschließt, das stillgelegte „Mozi“ (ungarisch für Kino) in einer Kleinstadt im Grenzgebiet von Ungarn, Rumänien und Serbien zu kaufen und es zu neuem Leben zu erwecken. Dabei wird sie von Józsi unterstützt, der eine kleine Fahrradwerkstatt betreibt und seiner Zeit als Filmvorführer nachtrauert, der Eisverkäuferin Rozalia und Olga, die früher den Imbiss des Kinos betreute. Mit Hilfe weiterer Einheimischer schaffen sie es, die alten Filmprojektoren wieder zum Laufen zu bringen, den Saal von Staub und Schmutz zu befreien, die vom Zahn der Zeit zerfressene Leinwand zu ersetzen und ein Filmprogramm auf die Beine zu stellen. Sobald der erste Film auf der frischgestrichenen Stirnwand des Kinosaals flackert, wird der Erzählerin bewusst:

Der aufgegebene, verwaiste Kinosaal war mit einem Schlag der dunkle Raum, dem man sich überlassen wollte, um zu sehen und weiter zu sehen, der Wunderkubus mit seiner eigenen Zeitrechnung. Mein Glaube war wiederhergestellt, dass sich jede Mühe lohnte, ein Kino zu retten und wiederzubeleben, egal, wo es war, egal, welche Parkgaragenträume im Umlauf waren. Film brauchte diesen Raum, die Leinwand, die Zuschauer im Dunkeln, und Zuschauer brauchten das Dunkel, die Anonymität im Bann der Bilder, den Blick in den Filmraum, der nur im Kino möglich war.

Der „Mozi-Traum“ scheint wiederhergestellt, das kleine ungarische Städtchen von seiner Trägheit und Langeweile befreit. Das einzige Problem: Kaum jemand scheint sich für den wiedergewonnenen Filmpalast zu interessieren. Zur Premiere des ersten Films, die von einem Gewitter immer wieder unterbrochen wird, kommen kaum ein Dutzend Zuschauer. Und die Erzählerin muss immer öfter alleine im Dunkeln sitzen, ihren Lieblingsfilmen folgen, ohne dass ihre Leidenschaft geteilt wird.

Esther Kinsky hat kürzlich den Kleist-Preis für ihr literarisches Werk erhalten. Man merkt dem Roman an, dass er von einer ausgezeichneten Stilistin geschrieben wurde. Das, was den Text am meisten auszeichnet, ist die großartige Sprache, mit der sie präzise und bildlich zugleich das ungarische Tiefland in eine beinahe magische Landschaft verwandelt. Ihre Beschreibungskünste erschöpfen sich nicht an farbgewaltigen Horizontbeschreibungen, sondern betreffen auch technische Begebenheiten, denen sie Leben einzuflößen weiß: „Die Projektoren standen im Nachmittagslicht des Spätsommertags wie zwei traurige Tiere, die ausgemustert worden sind, untauglich und unerwünscht, doch außerstande, sich einen anderen Platz zu suchen. Und auch nicht imstande, sich hinzulegen und zu sterben.“

Alles hat Bedeutung in ihrem Blick, insbesondere, wenn es mit ihrer Leidenschaft, dem Kino, zu tun hat. Über die zerschlissene Leinwand des alten Mozi schreibt sie etwa:

So lag sie nun da, veruntreut und versudelt, das Stück, das so unzählig viele Bilder hatte über sich ergehen lassen und jetzt zugrunde ging – an was? An einem Mangel, wie so vieles ringsum? Dem Mangel an Licht, an Bildern, an Blicken? Oder an den Resten von Licht, Bildern, Blicken, die, zwischen den Schichten des aufgerollten Materials eingezwängt und eingesperrt und der Hoffnungslosigkeit überlassen, zersetzende Eigenschaften entwickelten?

Für die Erzählerin ist alles Kino. Sie lebt wie im Film, hat ständig Assoziationen an bereits Geschautes und verwechselt manchmal Realität und Fiktion. Zugegeben, ihre Leidenschaft kommt etwas altmodisch daher, da die Filme, die sie begeistern, meist aus der klassischen Ära des Schwarzweiß-Films stammen. Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb das Mozi am Ende so wenig Erfolg bei der einheimischen Bevölkerung hat. Es werden keine Blockbuster gezeigt, keine modernen Liebeskomödien oder Actionfilme. Die Vorliebe der Erzählerin als Filmvorführerin gilt dem klassischen Filmwerk. Genau das ist es, was der Roman heraufbeschwört: Die Zeit, als das Kino als Ort der Begegnung den Zusammenhalt einer Gesellschaft ausgemacht hat. Als es in den Metropolen hunderte Kinos gab, die täglich besucht wurden und jede kleinere Stadt, die etwas auf sich hielt, eines hatte. Die Zeit der Wanderkinos, als Kino noch ein Versprechen war; ein Versprechen darauf, dem grauen Alltag zu entfliehen und gemeinsam mit anderen Zuschauern in fremde Welten einzutauchen.

Besonders das „wie“ des Kinos interessiert die Erzählerin, weniger das „was“. Der gemeinsame Blick auf die Leinwand stellt für sie den Inbegriff des Kino-Erlebnisses dar, die „Verschränkungen der Einsamkeiten in den Blicken aus dem Dunkel mit der Welt, die sich auftut und all diese Blicke in sich aufnimmt. […] immer heißt es: weiter sehen als zuvor, einen Horizont erkunden, den es ohne die Leinwand nicht gibt.“

Dass dieser Blick in der Gegenwart nicht mehr zustande kommt, darin liegt die Tragik dieses Romans, die Ernüchterung an seinem Ende. Vielleicht war der Mozi-Sommer nicht mehr als der Wunsch der Erzählerin, diese Erfahrung von früher, aus dem Jahrhundert des Kinos, in die heutige Zeit zu retten. Außer ihr gibt es vielleicht noch einige andere, die diesen Traum teilen, doch die Masse hat den Blick verlernt, schaut lieber am heimischen Bildschirm als auf der großen Leinwand. Dass aus dieser ernüchternden Erfahrung dennoch ein so großartiger Roman entstanden ist, tröstet über den nostalgischen Verlust jener Kinoerfahrung vielleicht ein wenig hinweg.

Titelbild

Esther Kinsky: Weiter Sehen.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023.
200 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783518225448

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