Fluchtpunkt Meer
Holger Kuße räsoniert in „Die Semantik des Meeres“ lyrisch über sichtbare und unsichtbare Schöpfungskraft
Von Jörn Münkner
Ein schmaler Band, das Cover weiß mit blauem Streifen, in der Mitte ein Fotoblick von einem Schiffsdeck auf eine ruhige See, pastellblauer Horizont. Die Semantik des Meeres prangt als Titel, klein darunter das Wort „Gedichte“. Auf der Titelinnenseite stehen die Zusätze „Rote Segel“ und „Élan vital“, die inhaltliche Zusammenstellung präzisiert sich wie folgt: am Anfang ein einzelnes Gedicht (Anderswo war), gefolgt von der Gruppierung „Rote Segel“ mit 19 Titeln, dann eine 17er-Gruppe unter der Überschrift „Die Semantik des Meeres“, schließlich „Élan vital“ mit 20 Stücken. Ganz hinten ein einzelner Achtzeiler (Es wird hier sein), fast siamesisch mit dem Solisten vorn verbunden, macht den Reigen komplett. Insgesamt 58 Gedichte, das längste mit 24 Verszeilen, die übrigen kürzer, viele nur wenige Zeilen Umfang, da bleibt Leerraum auf den Seiten – poetische Müdigkeit? Nein, Hallraum für die Texte.
Was kommt zur Sprache? Das Meer. Wiederholt tritt es auf als Gewässer, auf dem Boote fahren und in dem geschwommen wird; als die vom Gestade umstandene See und als Delta; als Wasserfläche, in der Steine liegen, die Versunkenes birgt, auf der sich Wellen kräuseln und ein Plastikwal treibt. Neptunische Aufregungen sind selten, vitalistischer Seegang nur einmal: „und schlägt mal stürmisch hohe Wellen / und ist mal still und flach.“ (Die Semantik des Meeres). Das Meer der Gedichte also ist primär die See, bisweilen der See, vorherrschend ruhig, unbestimmbar in der Ausdehnung aber dem Jetzt zugehörig und durchaus als Tatsache erfahrbar. Es eignet dem lyrischen Meer aber noch etwas anderes, zum Beispiel die Verquickung mit einem gelben Rapsfeld und abstrakter die Bedeutung, so etwas wie ein selbstgenügsamer Kraftort zu sein: „Wohin uns auch die Ozeane fahren, welche Richtung, welcher Grund – / Sind sie erreicht, die Ozeane, sind sich wieder sie sich Ziel“ (los).
Noch immer ist der Weltraum leer.
Über dem grünen Gras hängen die gelben Blätter.
Absturz auf dem Weg zum Mars.
Den Antriebskern verschlingt das Meer.
(Der Blick aus dem Fenster)
Dem wie in unerschütterliche Ruhe eingesenkten Sprecher-Ich ist das Meer jenseits der realen maritimen See(Land)schaft Urmaterie, vielleicht erhabener Bergungsort: „und das Meer ist immer gleich.“ (Die Semantik des Meeres).
Der Seher fragt nach Ewigkeit und sieht die Steine im Wasser, die hellen Felsen im dunklen Meer,
die bleiben, und das Meer geht nie vorbei.
Der Seher sieht ein Schiff, das segelt nicht am Horizont, das schwebt.
Und die Steine liegen da und fragen nicht und sehen nicht.
Um sie ist das Meer.
(Die Semantik der Steine)
Das Meer kommt auch ikonisch ins Bild: auf dem Coverfoto und in vier etwas kleineren Aufnahmen, je eine pro Gedicht-Gruppe und jeweils davor platziert, die vierte vor dem Solitär am Ende. Sie zeigen das Meer als weite Fläche, mit unterschiedlichem Horizont, einmal eine Uferzone mit großen Steinen im Fokus. Jede Gedicht-Gruppe enthält ein Poem, dessen Titel die Gruppenüberschrift übernimmt. Rote Segel (Und wirf) in der ersten Gruppe evoziert ein intensives Farbspiel der Elemente:
Und wirf einen Stein ins Wasser und rote Flammen sind rote Segel.
Wirf eine Flamme ins Feuer und blauer Wind kommt auf. […]
Die Insel, die Segel lodern
und Hände, die werfen sind leer.
Weitere Segel-Stücke kommen vor, mit „gelbe[n]“ und „blaue[n]“ Segeln, und mit Aller Farben Segel. Korrespondenzen zwischen diesen Segel-Gedichten gibt es: das Meer, die Segel, Boote, Farben, der spezifische Sound; aber es ist schwierig, sie als Viererserie mit wechselseitigem Bezug (außer dem über die farbigen Segel) zu konzipieren.
Élan vital in Gruppe drei unternimmt eine Vorstellungsreise in den Garten Eden. Eine Mauer umringt den Garten (schließt sie ihn damit?) und wird in einer Stein-Farbe-Haut-Transformation (Mutation?) so weit vitalisiert, dass es in der finalen Verszeile heißt: „Die Mauer ist das erste Wesen.“
Die Semantik des Meeres potenziert das Meer als Protagonisten. „Seit es das Meer gibt, ist das Meer immer gleich.“, wird dort behauptet. Zwar erneuere sich ständig, was im Meer lebe, und es finde zu neuen Formen, was wie das ewige Wellenspiel aus ihm hervorgehe – doch bleibe es stets dasselbe. Diese Behauptung lässt an Hegel denken, der in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte das Meer auch als extraordinäres Natur- und Kulturphänomen mit eigener Gesetzmäßigkeit exponiert. Es gebe uns Menschen die Vorstellung des Unbestimmten und Unendlichen, es habe das Potenzial, uns über die Beschränkungen unserer Landgebundenheit hinauszuführen. Die Meeresfläche sei zwar unendlich, sie sehe nachgebend und anschmiegend aus, doch sei gerade das ein Trugschluss: Das Meer könne sich in das gefahrvollste und gewaltigste Element verkehren, so der Philosoph.
Mehr noch erinnert die lyrische Meer-Hymne aber an die biblische Weltordnungserzählung. In Kohlet (Buch Prediger Salomo) wird die Ewigkeit der Erde und der eherne Kreislauf von Sonne, Fluss und Meer festgestellt. Die Axiomatik und der Duktus sind es, die Kuße – bewusst oder zufällig – zu imitieren scheint:
Seit es das Meer gibt, ist das Meer gleich.
Es fahren mal diese mal jene Schiffe darüber seit einiger Zeit,
beherbergt mal diese mal jene Tiere seit langen Millionen an Jahren,
und ist mal hier und ist mal dort seit langen Milliarden
und schlägt mal stürmisch hohe Wellen und ist mal still und flach,
und jede Welle folgt einem Gesetz, und jede Welle ist anders, und jede Welle ist und verschwindet
und kehrt nicht wieder, und jede Welle ist einzig,
und das Meer ist immer gleich.
Es fahren mal diese mal jene Schiffe darüber seit einiger Zeit.
Dass die biblische Folie nicht abwegig ist, bestätigen Verweise auf Gott. Sein Name fällt mehrfach und explizit, als ultimative Ursache für alles Sein und letzte Bestimmung: „Ich fand den Stein und diesen Weg zum Himmel […] alle Steine sind geschaffen, jeder Sand ist Gottes Haus.“ (Die Leiter).
Semantik des Meeres, Semantik der Steine, Semantik des Sandes, Semantik des Eises – eine weitere Vierer-Miniserie. In den Gedichten geht es um Bedeutungen. Weitere Themen und Gegenstände, auch wenn sie sich anders ausflaggen, zeigen in eine ähnliche Richtung, sie umkreisen das Denken, Rosen und Heraklit, und das, was Hinter dem Zaun war oder die Gegenwart im Fluss der Zeit ausmacht.
Im Brotverdienst Professor für Sprachwissenschaft, thematisiert der entsprechend informierte Dichter auch die Macht von Sprache zur Wirklichkeitsschöpfung. Hinter all dem steht die Frage nach dem Sinn: „Ich sprach mit dem Faultier über den Sinn. / Es kaute kopfüber die Blätter des Lebens.“ (Vom Sinn). Gibt es nun aber eine zentrale Aussage, einen Leitgedanken, der die Gedichte verbindet und ihre Zusammenstellung regiert? Welcher Bedeutungsbereich ist prominent? Das Meer allein, weder als die See noch als symbolisches Tiefenbassin, ist es jedenfalls nicht.
Kuße berichtet nicht von Anglern, beklagt nicht den Raubbau der Meere und verklärt keine Wale. Desillusion angesichts des allmählichen Sterbens der Weltmeere wird nicht laut. Das Meer regt ihn zu unterschiedlicher Zeit mal mehr, mal weniger lyrisch an. Das zeigen die in einer Spanne von 35 Jahren entstandenen (im Inhaltsverzeichnis stehen die genauen Jahresdaten), mehrheitlich zu einem späteren Zeitpunkt wieder hervorgenommenen, vielleicht überarbeiteten, jedenfalls für den Band aktualisierten und abgestimmten Gedichte. Wird alles in allem kein Seemannsgarn gesponnen, so wird lyrisch die Lebenswirklichkeit freirhythmisch, mehrheitlich reimlos und ungebunden, sanftstimmig mit romantischen Zwischentönen abgetastet. Das Sprecher-Ich ist im Hier und Jetzt zu Hause, es erinnert die Vergangenheit, registriert „Ukrainische Mädchen sticken“ und einen Krieg, der erst Anderswo war, aber näher gerückt ist. Kußes lyrisches Fabulieren ist also tagespolitisch informiert.
Der Titelschwerpunkt auf dem Meer mag der Tiefendimension geschuldet sein, die Meer und menschliche Existenz verbinden: Wie oft nur zeigt sich die Spitze von etwas, wo so viel Dazugehöriges verborgen bleibt, versunken ist und der Hebung bedarf, wenn der größere Sinnzusammenhang erkannt werden soll. Der Glaube an eine Kraft, die alles schafft und alles richtet – nennen wir sie Gott – ist Balsam.
Lyrik als Sprachkraftakt kann leicht zu Missverständnissen führen. Kußes Gedichte sind ambig. Überwiegend kurz, kommen sie mit wenig Wortmaterial und einem begrenzten Vokabular aus. Sie sprechen deutlich, sind das Gegenteil von sprachlicher Extravaganz und bleiben dennoch mehrdeutig, auch wenn sie (ansatzweise) in einem historischen Kontext stehen und individuell-persönlich bedingt sind. Viele Stücke muten wie kondensierte Erzählungen und Empfindungsbeschreibungen an: „lyrische Prosa“. In dem Maß, wie sie produktionsästhetisch einer auktorialen Intention folgen mögen, werden sie rezeptionsästhetisch arbiträr verstanden. Das ist gut so.
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