Japanische Lyrik in Aufbruchstimmung?
Die Anthologie „Eine Raffinierte Grenze aus Licht“
Von Christian Chappelow
Das japanische Gegenwartsgedicht (shi/gendaishi) zeigt sich im Rahmen der deutschsprachigen Japanologie und darüber hinaus seit geraumer Zeit als ein gewisses Mysterium: Sind frühe Vertreter dieser Literaturform – man denke an Hagiwara Sakutarô (1886-1942), Kitahara Hakushû (1885-1942) oder auch Miyazawa Kenji (1896-1933) – literaturgeschichtlich wie poetisch noch recht gut erschlossen, so zeigen sich große Teile der Nachkriegsgedichte als ein fortwährendes Forschungsdesiderat. Sowohl wissenschaftliche Kommentare wie auch Übersetzungen zum gendaishi finden sich nur selektiv, und stehen in keinerlei Verhältnis zur reichhaltigen Lyrikproduktion Japans. Gerade die zweite Hälfte der Nachkriegsjahre, und insbesondere das Werk japanischer Lyrikerinnen und Lyriker einer jüngeren Generation, bleiben dadurch dem deutschen Leser wie auch der Forschungsgemeinde unbekannt. Diese etwas ernüchternde Bestandsaufnahme lässt einen Sammelband wie den 2023 beim Göttinger Wallstein Verlag publizierten Eine Raffinierte Grenze aus Licht. Japanische Dichtung der Gegenwart als ein willkommenes Unikat in der aktuellen Übersetzungslandschaft erscheinen.
Eine neue Generation Gedicht?
Die Herausgeberinnen des Bandes – die Lyrikerin Marion Poschmann (*1969) und die exophone Autorin Tawada Yôko (*1960) – sind keine Unbekannten im Bereich des Gegenwartsgedichts. Tawada als japanische Vertreterin gibt in ihrem Vorwort allgemeine Perspektiven auf die Literaturform des gendaishi. Poschmann schildert in ihrem Nachwort, wie sie während eines Stipendienaufenthaltes in Japan zur Idee für diese Anthologie kam: „Es schien keine lebenden Poeten in Japan zu geben. Die Fachleute kannten keine jungen Dichter“, so Poschmann über ihre zuerst vergeblichen Annäherungsversuche an das japanische Gegenwartsgedicht. Etwas mehr Licht auf den literarischen Grenzgang wirft Tawada, die nach einem literaturgeschichtlichen Resümee zu folgender Erkenntnis kommt: „Die Lyrik wird in Japan als eine Nische betrachtet. Von ihr wird kein finanzieller Gewinn oder große soziale Aufmerksamkeit erwartet […].“
Der vorliegende Band also macht es sich zum Ziel, eine jüngere Generation an japanischen Dichtenden zu übersetzen, die in den 1970er und 1980er Jahren geboren, und von der Literaturkritik und der Wissenschaft nur wenig bis keine Beachtung finden konnten. Diese Generation tastet sich literarisch an die durch Katastrophen geprägte Psyche der Heisei-Ära (1989-2019) und an Isolation, soziale Ausgrenzung, Digitalisierung, aber auch politische Themenbereiche wie Krieg, Atomunfall und Pandemie heran. Sie ist darüber hinaus weiblicher und formal wie inhaltlich breit aufgestellt. Insgesamt umfasst die Sammlung 21 Lyrikerinnen und Lyriker sowie gut 80 Gedichte, darunter auch Prosagedichte sowie Auszüge aus längeren Texten.
Lichtgrenzen zwischen Poetik und Übersetzung
Wir stellen uns jetzt vor / Dass alle Atomkraftwerke der Welt / Zu AKW-Brachland werden […]. (Ôsaki Sayaka, Das Tempelhofismus-Manifest)
Huiii, ein Spermium, mit Schmackes abgeschossen, trifft das Laken des Nachthimmels und saust nach oben […]. (Fuzuki Yumi, Feuerblume)
Dein Morgen ist mein Abend / Deine Morgenröte ist meine Abendröte / Parallel, ohne Berührung / leben wir auf derselben Erde […]. (Jeffrey Angles, Zeitverschiebung)
Die Übersetzung japanischer Lyrik erfordert viel Feingefühl für Nuancen in Schrift, Klang, Bedeutung, Satzbau und Form. Mitunter erschließt sich die intendierte Poetik des Originals daher – noch stärker als in der Prosa – nur durch Adaption und Übertragung in die Logik der Zielsprache. Gerade im gendaishi spricht der Zeilenaufbau häufig mit dem Hinauszögern von Bezügen oder der objektlosen Andeutung. Die Grenze zwischen Übersetzung und Exegese muss dabei fließend verlaufen, wenn man nicht in ein inkohärentes Staccato von Übersetzungsdeutsch treiben möchte. In den meisten Fällen gelingt dies den Übersetzerinnen und Übersetzern des Bandes gut, die japanologische Expertise einiger Beteiligter ist herauszulesen. Der Band vereint Übersetzung, Übertragung und Adaption durch das Zusammenwirken japanologischer Rohübersetzung und dem späteren Mitwirken von deutschsprachigen Lyrikerinnen und Lyrikern wie eben Poschmann.
Wie in den Textauszügen zu lesen, ist allerdings die „raffinierte Grenze aus Licht“, assoziiert man sie mit lyrischem Empfinden und ästhetischer Schönheit, nicht ganz passend für die Alltagssprache und die beinhalteten Sujets von Spermien und AKW-Unfällen, die man in einigen Texten vorfindet. Andere Gedichte hingegen suchen das bildsprachliche Pathos und Anklänge an eine Gefühlspoesie. Sie bestätigen den nur losen kontextuellen Zusammenhalt des Bandes wie auch die Individualität von Lyrikproduktion nach dem Ende der großen Lyrikgruppen und Zeitschriften der frühen Nachkriegsdekaden. Lyrik heute ist, was sich Lyrik nennt, und das gilt auch für Japan. Poetische Experimente sind freilich zu begrüßen und die individualistische Ausdrucksform sowohl in Inhalt als auch Struktur ist literaturgeschichtlicher Impuls für die Genese dieser Literaturgattung.
Jenseits der Exotik
Die meisten der im Band abgedruckten Gedichte stammen von relativ unbekannten japanischen Akteuren, deren Werk nun erstmalig in deutscher Sprache vorliegt. Als eine Ausnahme ist Anti-Atom und Twitter-Dichter Wagô Ryôichi (*1968) zu nennen, der nach der Dreifachkatastrophe medial und seitens der Literaturkritik intensiv besprochen wurde (und als ältester der beinhalteten Lyriker noch vor den 1970ern geboren wurde). Auch der US-Amerikanische Japanologe, Übersetzer und Lyriker Jeffrey Angles (*1971) sticht als nicht-japanischer Verfasser japanischer Lyrik heraus – er ergänzt die Gedichtsammlung durch eine kulturell wie sprachlich grenzüberschreitende Perspektive, die im zeitgenössischen Tableau der letzten Jahre nicht fehlen darf. Doch nicht nur Angles vermag es, einen gerade im Gedicht so antiquierten Japan-Exotismus zu verneinen: Akegata Misei (1988) beispielsweise eröffnet den Band mit einer lyrischen Reise nach China, Oikawa Shun’ya (*1975) bewegt sich in Richtung Hawaii. Neben einer thematischen Öffnung der kulturellen Grenzen findet auch eine sprachliche statt: Anglizismen, Latein und vor allem eine moderne Umgangssprache finden sich in weiteren Texten.
In gewisser Weise folgt der Sammelband durch die Zusammentragung verschiedener Akteure und Topoi aber einem wohlbekannten Muster in der deutschsprachigen aber beispielweise auch der englischsprachigen Publikationsgeschichte von shi-Übersetzungen. Diese sind zumeist jedoch schon einige Dekaden alt und fokussieren sich entweder auf die modernistischen Klassiker oder eben den Kanon der ersten Nachkriegsdekaden. „Lyrik aus Japan“ als Thema scheint für die Verlagswelt nur in Ausnahmefällen so ertragbar, als dass vertiefte Einblicke in die Poetik einzelner Lyrikerinnen und Lyriker angeboten werden (eine Ausnahme im deutschsprachigen Raum ist zum Beispiel Tanikawa Shuntarô mit regelmäßiger Übersetzung durch den Japanologen Eduard Klopfenstein).
Nun lernt man in Eine Raffinierte Grenze aus Licht viele neue Namen kennen und verbleibt doch mit Fragen zu Inhalt und Poetik. Ein etwas längeres Nachwort mit Erläuterungen und Analyse wäre wünschenswert, gerade da doch zahlreiche japanologische Expertinnen und Experten beteiligt waren. Die Neugierde auf die Gattung des shi vermag der Band jedoch so oder so zu wecken, in der Hoffnung auf Anschlussübersetzungen und weitergehende wissenschaftliche Betrachtungen einer zu Unrecht im Schatten „traditioneller“ Formen wie dem Haiku stehenden japanischen Lyrik.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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