Doppelte Optik
Barbara Beßlich untersucht Aspekte erzählerischer Unzuverlässigkeit in Thomas Manns „Doktor Faustus“
Von Maike Neumann
Seit Jahrzehnten werden der Doktor Faustus (1947) und sein problematischer Erzähler Serenus Zeitblom in der Thomas Mann-Forschung kritisch untersucht. Die erzählerische Unzuverlässigkeit Zeitbloms wurde 1961 erstmals benannt und seither in zahlreichen Untersuchungen differenziert beschrieben. Trotz dieser erschöpften Beforschung der Unzuverlässigkeitsthese will Barbara Beßlichs narratologische Studie eine erneute Zusammenschau und Diskussion leisten. Ihr Ziel ist dabei nicht die nächste große erzähltheoretische Modellbildung. Stattdessen nutzt die Studie Unzuverlässigkeit als heuristisch nützliches Instrument zur Textinterpretation von Manns Roman und seines – in vielerlei Hinsicht – problematischen Erzählers.
Die Verfasserin operiert mit einem theoretisch unterkomplexen Unzuverlässigkeitsbegriff. Die einleitende Erläuterung erzählerischer Unzuverlässigkeit reproduziert anthropomorphisierende Vorstellungen unzuverlässiger Erzählinstanzen, wie sie insbesondere die frühe Unzuverlässigkeitsforschung pflegte. Das birgt für narratologisch nicht bewanderte Rezipient:innen einen anschaulichen Zugang zur komplexen Thematik, schließt allerdings nicht an den Status quo der narratologischen Theoriebildung an. Entsprechend zielt Beßlichs Unzuverlässigkeitskonzeption eher auf ein weiträumiges Verständnis von Unzuverlässigkeit, das auch verwandte Formen „widersprüchlichen und missverständlichen Erzählens“ einbezieht.
In sieben aspektorientierten Kapiteln diskutiert die Verfasserin wichtige Kernpunkte der literaturwissenschaftlichen Debatte um den problematischen Biographen Zeitblom und ergänzt sie um weiterführende Beobachtungen. Einen Schwerpunkt legt Beßlich auf Zeitbloms weltanschauliche Ausdeutungen mit Fokus auf seine politische Positionierung (Kap. 1) und musikalischen Interpretationen (Kap. 7). Sorgfältig vollzieht Beßlich zunächst die in der Forschung bereits etablierte These von Zeitbloms langsamer Distanznahme zum nationalsozialistischen System nach, kontrastiert dieses allmähliche Abrücken mit der weltanschaulichen Gesamtaussage des Exilromans und stellt beidem Thomas Manns Position in der Entstehung des ‚Doktor Faustus‘ (1949) an die Seite. Gewinnbringender ist ihre textnahe Nachzeichnung der musikalisch-weltanschaulichen Deutungen Zeitbloms. Beßlich zeigt, dass nicht Leverkühn die Beschreibungen für seine Kompositionen liefert, sondern Zeitblom als musikalischer Laie das Wort führt. Anhand des Kridwiß-Kreises macht die Verfasserin nachvollziehbar, wie Zeitblom dessen konservativ-revolutionäre Debatten einer „Re-Barbarisierung“ auf Leverkühns Kompositionen überträgt. Diese geben jedoch in ihren Rückbezügen auf biblische und mittelalterliche Jenseitsvisionen, kombiniert mit einer modernistischen Ästhetik, keineswegs Anlass zu einer politischen Lesart.
Einen weiteren Schwerpunkt legt Beßlichs Studie auf die Existenz des Teuflischen im Doktor Faustus. Die Verfasserin zeigt am Text, dass Zeitbloms „Allegorisierungstick“ die märtyrerhaft überhobene Leidensgeschichte Leverkühns mit der Idee einer Teufelsverschreibung überblendet (Kap. 2). Die Anwesenheit des Teuflischen in der erzählten Welt wird so als bloßes Phantasma des verstörten Erzählers Zeitblom deutbar. Ähnliches offenbart die Analyse der „wilden Revolvergeschichte“ von Leverkühns Brautwerbung (Kap. 5): Die Verfasserin beschreibt, wie Zeitblom das Geschehen zugunsten Leverkühns ausdeutet, wonach dieser Godeau zum Schutz vor den tödlichen Konsequenzen des Teufelspakts mit Schwerdtfeger verkuppelt. Dabei unterdrückt er jedoch eine zweite Lesart des Geschehens: Nah am Text zeichnet Beßlich nach, dass Zeitblom offenbar bewusst übersehen will, dass der von seinem Geliebten Schwerdtfeger enttäuschte Leverkühn möglicherweise absichtlich zum geschickten Arrangeur des Eifersuchtsmordes wird. Racheakt statt Teufelspakt. Das Geschehen wird infolge der Unzuverlässigkeit Zeitbloms sowohl realistisch-psychologisch als auch phantastisch-metaphysisch lesbar.
Angesichts der fiktionalisierenden Freiheiten, die sich der ‚Biograf‘ Zeitblom gegenüber seinem Material herausnimmt, stellt Beßlich die Frage nach einem camouflierten Gattungswechsel zwischen Biografie und Roman (Kap. 3). Beßlich zeigt, dass Zeitblom sich partiell Verfahrensweisen der Historischen Belletristik – meist biografisch orientierte Geschichtsdarstellungen, die sich künstlerische und weltanschauliche Freiheiten erlauben – bedient. Die Einstufung seiner Unzuverlässigkeit muss vor dem Hintergrund der erzähltraditionellen Erwartungen reflektiert werden. Auch innerhalb der erzählten Welt wird im Doktor Faustus die Gattungsthematik relevant: Beßlich fragt, ob das Teufelsgespräch Leverkühns als biografisches Ego-Dokument oder literarisch-künstlerisches Produkt aufzufassen ist (Kap. 6). Zeitblom liest das im Nachlass Leverkühns gefundene Dokument als faktualen Erlebnisbericht. Beßlich führt jedoch insbesondere formale Indizien an, die für eine intendierte Fiktionalität des Textes sprechen, als eine literarische Fingerübung Leverkühns. Die Zusammensicht von Gattung und Unzuverlässigkeitsdiagnose erweist sich als besonders ergiebiger Schwerpunkt der Studie.
Ebenfalls vielversprechend ist die Verbindung der Unzuverlässigkeitsthese mit der Frage nach Thomas Manns Leitmotivtechnik (Kap. 4) anhand der – so die Verfasserin – „steilen These“ von der Identität der Prostituierten Hetaera Esmeralda mit Frau von Tolna. Detailliert schlüsselt die Verfasserin das leitmotivische Geflecht rund um die Prostituierte, den gleichnamigen, mit Schwererkennbarkeit assoziierten Glasflügler und die ebenso schwer erkennbare Figur der Aristokratin Frau von Tolna auf. Was Beßlich nicht entgeht, bleibt dem Erzähler Zeitblom verborgen: Manns überforderter Biograph übersieht die Verbindungen nicht nur allesamt, er trägt sogar unwissentlich selbst zu den Mehrfachcodierungen bei.
In ihren Schlussbemerkungen äußert sich die Verfasserin zur erzählkonzeptionellen Funktion erzählerischer Unzuverlässigkeit im Doktor Faustus. Die Unzuverlässigkeit Zeitbloms erscheint ihr als „intellektueller Trick“, um den Eindruck eines geschlossenen, realistischen Erzähltexts zu suggerieren, dies aber mit der phantastischen Deutungsoption dämonischer Kräfte unmittelbar zu entkräften. Darin sieht die Verfasserin zu Recht eine Kontinuität zum Frühwerk Manns: Bereits seit den Buddenbrooks (1901) pflegte Thomas Mann sein Schreibverfahren einer doppelten Optik, die doppelte Anlage seiner Texte als realistische Geschichte – einem breiten Publikum allgemeinverständlich dargeboten –, aber zugleich versehen mit den Deutungsangeboten weiterer komplexerer Sinnebenen, die die erzählte Welt als zweideutig etablieren. Thomas Manns Instrumentalisierung erzählerischer Unzuverlässigkeit im Sinne einer doppelten Optik wird so für Beßlich als spezifischer Beitrag zur Entwicklung moderner Erzählformen lesbar.
Eine Form doppelter Optik ist auch in der konzentrierten Studie der Verfasserin präsent: Beßlichs Arbeit bewegt sich mit stilistischer Gewandtheit auf der Höhe der literaturwissenschaftlichen Diskussion und übersteigt diese mancherorts. Abstriche sind auf der theoretischen Ebene zu machen. Angesichts der schmalen Studie irritiert zuweilen das Maß an Redundanz in der Rekapitulation bereits bekannter Thesen aus der Thomas Mann-Forschung. Beßlichs Synthese aus gehaltvoller Diskussion und unterhaltsamer Darbietung dürfte daher insbesondere Neueinsteiger:innen ins Thema einen kurzen und knackigen Einstieg liefern.
![]() | ||
|
||
![]() |