Tatsächlich: Papier ist geduldig

Anika Schwarz’ „Romandebüt“ weckt nicht den Wunsch nach mehr

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anika Schwarz hat unter ihrem Klarnamen Angelika Schwarzhuber und ihrem weiteren offenen Pseudonym Ella Janek laut Wikipedia bereits vierzehn Romane vorgelegt – der biographische ‚Waschzettel‘ des Verlags zwischen Schmutztitel und Titelblatt macht dies nicht deutlich. Die Titel dieser Romane legen zum einen nahe, dass es sich teilweise um Fortsetzungen handelt. Zum anderen erwecken sie den Eindruck, dass es meist um marktgängige Themen der Kulturindustrie wie Liebe, Freundschaft, Familie oder Weihnachten geht. Sieben ihrer Romane, darunter Beat Girls, sind auch als Hörbücher erschienen. Darüber hinaus hat Schwarzhuber dreizehn Drehbücher verfasst, u. a. für die ARD-TV-Serie Watzmann ermittelt. Für ihr Drehbuch zu dem TV-Spielfilm Eine unerhörte Frau (2015; Regie: Hans Steinbichler) erhielt sie 2018 u. a. den Deutschen Fernsehpreis und den Grimmepreis. Beat Girls. Die Bühne gehört uns ist ihr erster unter dem Pseudonym Anika Schwarz veröffentlicher Roman.

Hätte dem nicht ein Arzttermin am späten Vormittag entgegengestanden, ich hätte den dem Titel nach reizvollen und dem Verlag nach von mir gewissermaßen mit Vorschusslorbeeren bedachten Roman dieser mir im Vorfeld nicht bekannten Autorin in einem Zug zu Ende gelesen – freilich nur, um diese Aufgabe so schnell wie möglich hinter mich zu bringen. Schon nach wenigen Seiten nämlich zeigte sich, dass es sich bei dem Mai bis Juli 1966 meist in München und hier zentralen Ereignissen nach in „Angies Vogelbar“ in Schwabing spielenden ‚Emanzipations‘-Roman Beat Girls um einen typischen trivialliterarischen bzw. Schematext handelt; obendrein um einen, der zumindest für mich nicht einmal sonderlichen Wiedererkennungs- oder Unterhaltungswert bietet – von Erkenntniswert kann bei dieser Art Literatur ohnehin nur in literatursoziologischer Hinsicht die Rede sein.

Flache, mehr oder minder eindimensional entworfene Figuren mit konfektionierten Gefühlen und Gewissheiten und teils tränendrüsigen Schicksalen, die entlang von Schwarz-Weiß- bzw. Gut-Böse ohne einschlägige Graustufen ein entsprechend schlichtes Figurenensemble abgeben; ein damit in Verbindung stehendes schablonenhaftes Bild von Welt und Wirklichkeit; klischeehafte, oft ins Melodramatische oder Sentimentale gewendete Konflikte und (Liebes-)Verbindungen; geschwätzige Sätze mit abgegriffenem, gefühligem Vokabular (dutzende Mal ist man „mitfühlend“ oder „einfühlsam“) und von einer Banalität, die keinen Raum für ein Sowohl-als-auch, für ein Vielleicht, für Mitschwingendes oder für Hintergründiges und Fragen lassen; gestelzte Dialoge en Masse und die langatmige bloße Wiedergabe alltäglicher Geschehensabfolgen ohne ideellen Mehrwert; ein Aufbau von Spannung, die aufgrund von Vorhersehbarkeit des Kommenden faktisch keine ist; Handlungsweisen, deren teils mit „aus unerfindlichen Gründen“ beglaubigte Glaubwürdigkeit man guten Grundes in Frage stellen kann; Zufälle, dass man an göttliche Fügung zu glauben bereit ist: Auf seine Kosten kommt mit diesem Roman nur derjenige Leser, der jedes Nachdenkens, jeder interpretatorischen Anstrengung, jeder Irritation, Verunsicherung oder gar Selbstkorrektur enthoben sein möchte und diesbezüglich nur nach Bestätigung seiner erzernen Meinungen, in Zement gegossenen Überzeugungen, seines wahrheitsgemäßen Weltbildes und seiner professionellen Prognosefähigkeit verlangt. Und der gerne von den Ab- und Umwegen der schließlich doch triumphierenden Liebe liest.

Ob dieser Leser von Beat Girls gut unterhalten wird, vermag ich nicht zu beurteilen, wohl aber zu bezweifeln. Denn in der Regel bleibt der Text weitestgehend unanschaulich und atmosphärelos, hält fest, dass sich etwas ereignet hat – „Der Auftritt [der Band der ‚Heldinnen‘] war bis auf einen kleinen Patzer beim vorletzten Stück ein voller Erfolg gewesen. Am Ende hatten sie noch drei Zugaben gegeben“, heißt es beispielsweise –, lässt den Leser dies aber nicht miterleben. Nur an ganz wenigen Stellen ist der Leser einmal ‚hautnah‘ dabei, an einer Stelle bezeichnenderweise, wo es – Stichworte: Voyeurismus, Sex sells – zum Geschlechtsverkehr zwischen Monika, einem der „Beat Girls“ in der reinen Frauenband „Monaco Birds“, und dem ‚bad guy‘ Charly kommt – der, ein Macho par excellence, leitet die reine Männerband „Charly’s Beatboys“, in der auch Monikas hoch anständiger Bruder Siegfried spielt: „Er öffnete seine Hose und schob sie bis zu seinen Schenkeln [zu wessen sonst?] herunter. Wenige Minuten später hatte auch sie den Rock hochgeschoben, den Slip [1966 besser wohl: die Unterhose] ausgezogen und saß rittlings auf seinem Schoß.“

Ausgesprochen dürftig ist auch der Wiedererkennungswert des Romans, der durch eine Fülle an Fakten und genaue Tagesangaben (s. u.) realistisch zu sein vorgibt. Ja, damals fuhren auf den Straßen Mokicks und Zündapp Super-Combinettes, ja, am 24. Juni 1966 traten die Beatles im Rahmen der „Bravo-Beatles-Blitztournee“ (München, Essen, Hamburg) im Circus-Krone-Bau in München u. a. mit der Vorband Cliff Bennett and the Rebel Rousers  auf, ja, man rauchte „Ernte 23“, trank „Escorial“, „Steinhäger“ oder „Doornkaat“, trug Miniröcke, las Anne Golons Angélique und tanzte im „Big Apple“ in der Münchner Leopoldstraße, ja, der TSV 1860 München wurde 1966 Deutscher Fußballmeister und der damalige Bundeskanzler hieß Ludwig Erhard – usw. usf. (ob man damals schon von „sich einbringen“ sprach wie Monikas Mutter Maria das tut, sei freilich dahingestellt). Doch ergibt dies alles andere als ein Porträt des zwischen Muff und Aufbruch changierenden Jahres 1966 als dem Vorabend der Kulturrevolution 1967/68, bleiben doch Gesellschaftliches, (Welt-)Politisches und Zeitgeistiges weitgehend ausgeblendet – mit der Ausnahme Geschlechterbilder, -rollen und -entwürfe vielleicht. Diese Ausnahme wirkt aber nicht selten mit heutigem Denken amalgamiert und ist penetrant von Stereotypischem und Didaktik durchwirkt. Vor diesem Hintergrund bewegen sich die Romanfiguren in einer schemenhaften Welt der Andeutungen, die, leichte Retuschen vorausgesetzt, austauschbar wirkt.

Der Ordnung halber noch einige Hinweise auf Formales und Inhaltliches: Der luftig auf 382 Seiten gesetzte Roman ist in 32 Kapitel untergliedert, die alternierend und jeweils mit präzisem Datum (beginnend mit dem 9. Mai 1966 und endend mit dem 23. Juli 1966) versehen die vier ‚Heldinnen‘ des Romans in den Mittelpunkt stellen: Das sind die 20 Jahre alte Metzgerstochter und dem dringlichen Wunsch der Eltern nach Metzgerei-Fachverkäuferin gewordene Monika Fischer, die für die Beatles schwärmt und in ihrer konservativen, ebenso hinterhältigen wie herrschsüchtigen Schwägerin Astrid eine hartnäckige Antagonistin hat; die ebenfalls zwanzigjährige, noch jungfräuliche und sogar ungeküsste Rita Haslinger, die in der Bar ihrer ebenso attraktiven wie lebenshungrigen Mutter Angie arbeitet und ohne ihren getürmten Vater Gerald aufgewachsen ist – gegen Romanende wird sie gleich zwei folgenschwere Entdeckungen machen, nämlich …; dazu die, man höre und staune, emanzipatorisch erzogene, dreiundzwanzigjährige amerikanische Kindergärtnerin Peggy Sue Malone, die auf eineinhalb Jahre mit ihrem der US-Army angehörenden, außerordentlich eifersüchtigen und bis zur Gewalttätigkeit aggressiven Ehemann Harry „in der amerikanischen Siedlung im Perlacher Forst“ lebt; dazu schließlich die „in einem großen Modegeschäft in der Nähe des Stachus“ arbeitende, fünfundzwanzigjährige Verkäuferin Inge Becker geb. Klobinger, die zwei Jahre zuvor durch einen Unfall ihren über alles geliebten, in jeder Hinsicht vorbildlichen und liebenswerten Mann Bernd verloren hat. Was diese vier doch recht unterschiedlichen jungen Frauen eint ist ihre unbedingte Liebe zur Musik und ihr musikalisches Talent – Monika beispielsweise spielt nicht nur diverse Instrumente, sondern ist auch Texterin, Komponistin und Arrangeurin.

Neben diesen vier ‚Heldinnen‘, die jeweils einem freilich als nachvollziehbar bzw. natürlich dargestellten ‚wunden Punkt‘ (Fehltritt, Identität, Notlügen, Alkohol) zum Trotz im Grunde genommen als kreuzbrave junge Frauen mit hohem, bei Lichte besehen risikolosen Identifikationspotential erzählt werden und die von daher nur wenig von dem haben, was das in den Swinging Sixties wohl im London aufgenommene Coverbild des Buches zeigt – vier ebenso unbeschwerte wie unbändige junge Frauen mit Kessheit ausstrahlenden Frisuren und gewagtem Outfit, die lachend und vor Lebensfreude sprühend auf den Betrachter zustürmen –, gibt es noch zahlreiche weitere Figuren. Die gehören den jeweiligen Familien, dem Bekannten-, Freundes- oder Kollegenkreis an und repräsentieren – immerhin! – nicht nur mehrere Generationen, sondern auch unterschiedliche Charaktere, Mentalitäten, Lebenseinstellungen, Verhaltensmuster und Kulturen – siehe u. a. die in „Angies Vogelbar“ kellnernde türkische „Gastarbeiterin“ Leyla. Als von außen dazustoßende Figur von einschlägigem Gewicht für den Erzählkern ist der Hamburger „Musikproduzent“ Martin Adam hervorzuheben, der in München im Kreis um Monika et al. selbstverständlich nicht nur beruflich ‚andockt‘.

Stichwort Erzählkern: Weil die vier genannten, zufällig zueinander findenden ‚Heldinnen‘ aufgrund ihrer dominant machistischen Umwelt keine Chance auf öffentliche Auftritte in einer Band haben, tun sie sich zusammen und gründen die bereits erwähnte Frauenband „Monaco Birds“. Trotz diverser Hemmnisse und Turbulenzen gelingt es ihnen, an einem vom erwähnten Martin Adam organisierten Wettbewerb um einen „Plattenvertrag“ teilzunehmen – der findet ebenso selbstredend wie unglaubwürdigerweise in „Angies Vogelbar“ statt. Dabei haben sie sich nicht nur mit sieben Konkurrenten auseinanderzusetzen, sondern auch mit sich selbst und ihren Ängsten sowie mit einem Sabotageakt klarzukommen. Wie das wohl ausgehen mag? Der Roman erzählt es – ich nicht.

Aber der Roman selbst erzählt auch nicht alles. Offen bleibt beispielsweise, warum Monika gegen Schluss mit Schwindelanfällen zu kämpfen hat und wie es mit Peggy Sue weitergehen wird, die ja – aber auch hier ist von meiner Seite Verschwiegenheit mit Rücksicht auf diejenigen angesagt, die diesen Roman selbst lesen möchten. Denen darf aber verraten werden, dass auf der Rückseite des Buches zu lesen ist, bei Beat Girls handele es sich um den „ersten Band über vier lebenshungrige junge Frauen“; es wird also mindestens eine Fortsetzung geben (den zweiten Teil „Beat Girls – Das Glück gehört uns“ hat der Verlag bereits angekündigt).

Stellt sich mir abschließend die Frage, wie dieser Roman Beat Girls, der vor Zeiten unter Auslassung weniger Szenen wohl als mäßiges Mädchenbuch klassifiziert worden wäre, in das Programm des Aufbau Taschenbuchs gelangen konnte. Fraglos scheint mir hingegen zu sein, dass der den Werbetext auf der Rückseite einleitende Satz „München, 1966: In den Kneipen tobt das pure Leben, Rock ‚n‘ Roll-Künstler aus England und Amerika sind die großen Idole“ insofern unangemessen ist, als von diesem tobenden puren Leben im Roman so gut wie nichts zu spüren ist. Und: 1966 dürften es der Beat und dessen Heroen gewesen sein, die die Jugend mitrissen, weniger der in den 1950er Jahren zu verortende Rock ‚n‘ Roll.

Titelbild

Anika Schwarz: Beat Girls. Die Bühne gehört uns.
Roman.
Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2023.
382 Seiten , 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783746639185

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