Vom Boden aus gedacht

Ann Cotten verwebt in „Die Anleitungen der Vorfahren“ Lokales und Globales

Von Vanessa FrankeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Vanessa Franke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es braucht ein wenig Zeit, um sich auf diesen Text einzulassen. Weder Lyrikband noch ethnologischer Bericht noch Erzählung, verweigern Die Anleitungen der Vorfahren eine klare Gattungszuschreibung. Dazu kommt ihre Mehrsprachigkeit (Deutsch, Englisch, Japanisch, Hawaiianisch), Fotografien und ein sechs Seiten langes Glossar. Ann Cottens experimentelle Form der inklusiven Sprache, das sogenannte polnische Gendering, zählt jedoch nicht zu den größeren Hürden des Textes. Dabei werden alle für männliches und weibliches Geschlecht notwendigen Endungen in beliebiger Reihenfolge an ein Wort angehängt, zum Beispiel wird aus dem Plural ‚Künstler‘ „Künstlernnnie“ oder die dritte Person Singular wird „sier“ genannt und dementsprechend als „siehn“ und „ihrm“ dekliniert. An diese Eigenart hat man sich (erstaunlicherweise!) schon nach ein paar Seiten gewöhnt.

Die in Iowa geborene und in Wien aufgewachsene Dichterin und Wissenschaftlerin ist bekannt für ihre eher hermetischen Werke. Kritiker Ijoma Mangold urteilte polemisch 2013 über den Erzählungsband Der schaudernde Fächer, er sei „ein Schlag ins Gesicht all derer, die finden, man müsse Literatur auch verstehen können“. Ann Cotten selbst fragte schon in ihrem Essay Etwas mehr (2007) über die Prämissen der Lyrik: „Ist Dichtung Kommunikation? Darf man hermetisch sein, und in welchem Maß, und woher weiß man, ob mans nicht schon ist? Soll man Sorge tragen, dass man verstanden wird?“ Doch dieses neue Buch ist, anders als es auf den ersten Blick scheinen mag, durchaus zugänglich, oder vielleicht eher im erträglichen Maß hermetisch. Das Tempo des Erschließens gibt die erste Seite vor: „Ein Schritt nach dem anderen ist ungefähr das Äußerste, was man einerm anderen an Gedanken zumuten soll“, heißt es da. In dieser Schrittgeschwindigkeit nähert sich auch der Text der Kultur und der Geschichte Hawaiis, wo sich die Dichterin zwischen 2021 und 2022 für ein Recherchesemester aufhielt, genauer gesagt an der University of Hawai’i at Mānoa. Dass die Mutter der Erzählerin in Honolulu geboren wurde, spielt bei diesem Unterfangen nur eine periphere Rolle. Ihr geht es nicht nur um eine Erkundung von Hawaiis komplexer Vergangenheit und Gegenwart – Steine umdrehen, über Trümmer gehen –, sondern vielmehr um die eigene Verwobenheit mit globaler Geschichte und ihrer zeitlichen Tiefe; mit „Hyperobjekt[en]“, also Phänomenen, die eigentlich zu groß und zu weit sind, um sie als Mensch zu begreifen. Bemerkenswert ist, dass diese Weite bei Cotten nicht in eine Haltung des hilflosen Staunens abgleitet, sondern durch meisterhafte Arbeit an der Sprache lokale Realitäten freigelegt, beleuchtet, und gekonnt mit einer globalen Perspektive verknüpft werden.

Im Sinne Donna Haraways ist nur ein situiertes Wissen möglich, was eben nicht dasselbe bedeutet wie Relativismus. Die subjektive beobachtende und schreibende Position ist leiblich in jedem Fall in den Erkenntnisprozess miteingeschlossen, falls es zu einer solchen Erkenntnis im „unendliche[n] Abtasten des Anderen“ von Ann Cotten überhaupt abschließend kommen kann. Was ist das Andere? Wie kann man es verstehen? „Verstehen? Du verstehst mit dem Körper“, lehrt man an der Universität von Mānoa. Somit können die Anleitungen auch als beispielhafter Versuch einer ökologischen, transdisziplinären Forschungskultur und -ethik gelesen werden, in der die Grenzen zwischen Beobachtung und Beobachtet-Werden, Subjekt und Objekt, Ratio und Gefühl, wissenschaftlichem und poetischem Schreiben fließend sein dürfen. Diese Zwischenräume ertastend ist der Text auch erzählerisch am feinsten und überzeugendsten. Beispielsweise heißt es über das Große Springkraut, von dem nicht klar ist, ob es jemals nach Hawaii gelangte: „So eine narrative, so eine dramatische Blume. Manche Leute gehen mit ihren abstehenden Daumen und ihrem Zeigefinger von Kapsel zu Kapsel. Vielleicht gefällt ihnen die Fantasie, sie lösten reihenweise mit ihrem zarten kausalen Zugriff Orgasmen aus.“ Der Blick auf das Kleine, der Zugriff durch Nähe, in dem größere Zusammenhänge eben einmal bewusst verschwimmen, gelingt wunderbar, in den lyrischen wie essayistischen Passagen.

Solche Stellen, die eine poetologische ebenso wie stärker kulturreferenzielle Lesart erlauben, kommen, wie man es von der Dichterin gewohnt ist, häufig vor. „Monokausale Erzählungen erzeugen ein leichtes Gefühl der Enttäuschung“, schreibt Cotten. In der Literatur und gerade in der Lyrik ist dies natürlich keine neue Einsicht. Auf der epistemologischen Ebene allerdings ruft diese Aussage die Frage auf, wie man in einer polykausalen, nicht-teleologischen Geschichtserzählung überhaupt über Verantwortung und Schuld sprechen kann. James Cook schleppte im 18. Jahrhundert zusammen mit seiner Besatzung Geschlechtskrankheiten auf der Insel ein und wurde dort zuerst als Gott verehrt, später getötet. Der Text untergräbt (fort)bestehende Herrschaftsbeziehungen nicht, aber arbeitet sich stets, mitunter humorvoll, an Ambivalenzen ab:

Es schaut nicht gut aus hier, eine weiße Frau, egal was sier tut. Wenn harmlos, dann lächerlich; wenn effektiv, dann furchterregend oder bloß stressig. Was bei den meisten Frauen auf der Welt Würde und Macht ausstrahlt, schaut bei weißen aus wie Überhebung, Bemühtheit, Stress – und man muss wissen, was die Leute sehen, wenn sie einne ansehen. Jahrhunderte von Blödsinn bekommt man nicht so schnell aus dem Leib, Bewegungen und Reaktionen werden über Generationen vererbt. Sei nicht so eitel, sagt sier dann zu sich, sei halt nützlich.

Die fremde, weiße Frau auf Hawaii kann mal harmlos, mal furchterregend oder auch nützlich sein, doch sie bleibt durch den Blick der anderen und den Blick auf die anderen eine fremde, weiße Frau. Die Identität der Forschungsreisenden changiert gezwungenermaßen zwischen Fremd- und Selbstbestimmung. Also versucht sie, in diesem Changieren Halt zu finden, indem sie zum Beispiel Hawaiianisch und Japanisch lernt, deren sprachliche Ordnungen am eigenen Schreiben überprüft, sich auf die lokale Kultur einlassen will, ohne Hast und Bemühtheit, und ohne ins Fahrwasser der „Relativistischen Flotte“ zu gelangen. Eindrücklich sind bezüglich der Suche nach Identität auch die Metaphern des Schattens und des Flecks. Identität „wandert über den Tag“, verformt sich, holt einen ein oder „[v]erschmiert […], auf einmal“. Dass kulturelle Identität zumindest aus literarischer Perspektive nicht fixiert werden kann und soll, dürfte der Text klarmachen. Auch die titelgebenden Anleitungen sind solch ein Schatten, denn wie Cotten im Abschnitt „Anleitungen“ oder im Gedicht „Schweigen“ verdeutlicht, erklären Vorfahren nicht, warum etwas auf eine bestimmte Art gemacht wird, und daher auch nicht, wie man im Heute mit Hybridität und Ambivalenz umzugehen hat.

Nach ihrer letzten Veröffentlichung Lyophilia (O-Ton der Autorin: „Science-Fiction auf Hegelbasis“) kommt Die Anleitungen der Vorfahren zwar nicht weniger ambitioniert daher, aber vielleicht ein bisschen offener und geerdeter, da hier, um noch einmal die Autorin zu zitieren, „die Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit […] am eigenen Leib gefühlt“ wird. Dieses Fühlen der Spannung am eigenen Leib erweist sich letztendlich als entscheidend, denn so hebt Cottens Untersuchung nie zu sehr ab und bleibt trotz aller Komplexität stets auf Augenhöhe mit ihrer Umwelt sowie den Rezipient:innen.

Ann Cottens persönliche Annäherung an das sogenannte Andere auf Hawaii ist tatsächlich oft zart und zaghaft, ebenso wie sie als Forschungs- und Spracharbeit unglaublich klug und minutiös erscheint. Auch für Leser:innen, die nichts mit Lyrik anfangen können, gibt es in diesem vielgestaltigen Text Faszinierendes zu entdecken – wie zum Beispiel die Spuren zweier Nacktschnecken.

Titelbild

Ann Cotten: Die Anleitungen der Vorfahren.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023.
170 Seiten , 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518029817

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