Emanzipation auf Indisch
Der bereits vor 30 Jahren geschriebene Generationenroman „Mai“ der indischen Autorin Geetanjali Shree zeigt den schwierigen Umgang mit dem kolonialen Erbe
Von Miriam Seidler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas Verhältnis der Generationen zueinander ist meist kein einfaches. Vor besondere Herausforderungen wird es gestellt, wenn eine traditionelle Segmentierung der Gesellschaft die Geschlechter oder gesellschaftliche Gruppen strikt voneinander abgrenzt. Ein Wandlungsprozess ist in der indischen Gesellschaft mit der Unabhängigkeit von der Kolonialmacht England 1947 angestoßen worden und auf unterschiedlichen Ebenen noch lange nicht abgeschlossen. Die indische Autorin Geetanjali Shree zeichnet die Auswirkung dieses Prozesses in ihrem bereits vor 30 Jahren erschienen Debütroman Mai nach. Die Autorin geht in ihrem Werk einen anderen Weg als viele ihrer indischen Kolleginnen und Kollegen, die aufgrund der vielen in Indien gesprochenen Sprachen auf Englisch schreiben, um ein großes Publikum zu erreichen. Im Gegensatz dazu veröffentlicht Shree in ihrer Muttersprache Hindi, die ihr eine adäquatere Ausdrucksweise bietet. Seit ihr letzter Roman Tomb of Sand (Originaltitel: Ret Samadhi) mit dem International Booker Prize 2022 für den besten ins Englische übersetzten fiktiven Text Aufmerksamkeit erlangt hat, ist die Autorin ins Blickfeld der westlichen literarischen Welt gerückt. Zwar ist der ausgezeichnete Roman noch nicht auf Deutsch erhältlich, allerdings hat der Unionsverlag den 2010 von Reinhold Schein aus dem Hindi ins Deutsche übersetzten Roman Mai nun neu aufgelegt.
Geetanjali Shree beschreibt in Mai auf sensible Weise den Alltag einer indischen Mittelstandsfamilie am Ende des 20. Jahrhunderts. Erzählt wird der Roman aus der Perspektive von Sunaina. Sie und ihr zwei Jahre jüngerer Bruder Subodh gehören der jüngsten Generation einer indischen Großfamilie an. Auf dem Grundstück der Familie und im Haus können sie sich als Kinder frei bewegen. Zunehmend beginnen sie die Strukturen, in denen sie aufwachsen, zu hinterfragen: Der Großvater, ein Anhänger Mahatma Ghandis, residiert in einem großen Zimmer zur Straße hin, wo er täglich Freunde und Bekannte empfängt, die von der Schwiegertochter bewirtet werden. Diese tritt allerdings nicht selbst in Erscheinung, denn ein Diener überbrückt die Schwelle vom Inneren des Hauses zu den vom Großvater bewohnten halböffentlichen Räumen. Im Innenhof überwacht die Großmutter, was im Inneren des Hauses vor sich geht. Als Befehlshaberin dirigiert sie die Schwiegertochter und die Hausangestellte. Eine gefügige Schwiegertochter wird nicht nur als erstrebenswert angesehen. Da die Mutter die Frau für den Sohn auswählt, ist es ihr Verdienst, wenn sich die Schwiegertochter gut in die Familie integriert. Am glücklichsten ist die Großmutter aber, wenn der über alles geliebte Sohn am Abend bei ihr sitzt. Der Vater der beiden Kinder, der als Ingenieur tätig ist, wirkt seltsam blass und den Eltern ergeben. Seine Frau, von den Kindern nur Mai (auf Hindi: Mutter), genannt, verbringt den Tag überwiegend in der Küche mit der Zubereitung traditioneller Speisen. Die gebückte Haltung über dem Herd schadet ihrem Körper. Die gekrümmte Wirbelsäule wird zur Metapher für ihre Unterdrückung. Steht sie doch als Schwiegertochter nicht nur ganz im Dienst der Familie ihres Mannes, auch der Kontakt zu ihrer Herkunftsfamilie ist abgebrochen, wodurch sie beinahe völlig von der Außenwelt abgeschnitten ist.
Es ist unschwer zu erkennen, dass die Familienmitglieder als Stellvertreterfiguren für gesellschaftliche Rollen angelegt sind. So stehen die Kinder in diesem Generationenroman für den Kampf gegen überkommene gesellschaftliche Regeln. Bereits früh verstehen sie, dass eine Frau in diesem Familiengefüge nicht glücklich werden kann. Sie definieren daher für sich das Ziel, Mai zu befreien. Doch am Anfang der Erzählung muss sich Sunaina der Frage stellen, wer Mai war: „Ich will von Mai berichten, aber die Wegstrecke von der realen Mai zum Berichten ist so beschwerlich, so voller Widerstände, dass nicht abzusehen ist, was geschehen wird und wie weit ich auf diesem Weg komme.“ Dass trotz der gefühlten Nähe eine unüberwindbare Distanz zur eigenen Mutter besteht, muss die Tochter auf schmerzliche Weise erfahren. Zugleich werden Leserinnen und Leser durch solche reflexiven Passagen immer wieder dazu angeregt zu hinterfragen, ob Mai tatsächlich so unglücklich ist mit der Rolle, die sie im Familiengefüge einnimmt.
Der Generationenroman erzählt die Familiengeschichte von der frühen Kindheit Sunainas und Subodhs bis zum Tod der Mutter. Einzelne Stationen bilden ein Gerüst, an dem entlang Geetanjali Shree mit viel psychologischem Gespür die Veränderungen in der Beziehung der Kinder zu ihrer Mutter offenlegt. Eine besondere Rolle spielt in diesem Prozess die Frage, wo die Tochter studieren soll. Subodh, dem als Junge eine gute Ausbildung nach englischem Vorbild sicher ist, setzt sich vehement dafür ein, dass auch Sunaina in einer größeren Stadt ein Studium aufnehmen kann. Das führt zu erheblichen Konflikten innerhalb der Familie:
Großvater schrie oft: „Ihr Bruder war als Schüler einer der Besten im ganzen Land, aber was hat sie denn geleistet, dass sie große Sprünge machen und fern von zu Hause studieren will? Wir wollen und dürfen die Zukunft unserer Kinder nicht ruinieren, indem wir sie an unbekannte Orte schicken. Die Töchter aller unserer Bekannten studieren hier am Ort, sind die vielleicht alle blöd?“ Papa weinte, und Subodh fragte: „Suni, ist das hier ein Bühnenklamauk?“ Unter vier Augen bekam ich später von Mai einiges zu hören: „Denk gut darüber nach, Suni! Was, wenn Papa etwas zustößt? Ich will doch auch, dass ihr beide es zu etwas bringt, dass ihr euch einen Namen macht. […] Du bist so versessen darauf, wegzukommen. Warum eigentlich? Denk selbst nach und werde dir darüber klar.“
Noch versteht Sunaina nicht, welche Macht ihre Mutter über sie hat. Mai ermöglicht es ihr, die Erfahrungen zu machen, die ihr selbst verwehrt geblieben sind. Ob sie damit ihre Tochter fördert oder ihr schadet, kann sie zu diesem Zeitpunkt selbst nicht durchschauen. Wichtig ist Mai, ihre Kinder in die Welt zu entlassen, ohne ihnen ihren Weg vorzuschreiben. Das Selbstbewusstsein und die bedingungslose Liebe, die in dieser Haltung zum Ausdruck kommen, lernt die Tochter erst spät schätzen.
Nicht Unterdrückung, sondern ein Schutz soll es sein, den die Familienstruktur und die ungleiche Behandlung den Frauen in Indien bietet. Im Dezember 2012 wurde ein Vergewaltigungsfall international bekannt, bei dem eine 23-Jährige Physiotherapeutin in Delhi von sechs Männern brutal misshandelt wurde. Auch die Begleitung ihres Freundes bot ihr keinen Schutz. Wenige Tage später starb die Frau an den ihr zugefügten Verletzungen und in Indien erhoben sich monatelang Proteste, die mehr Rechte und Schutz für Frauen forderten. Die Regierung greift seither hart gegen Vergewaltiger durch, dennoch hat sich an der grundsätzlichen Lage der Frauen wenig geändert.
Ein Bewusstsein für diese Lebensrealität haben Sunaina und ihr Bruder nicht und können die Ängste der älteren Generationen nicht verstehen. Das Innere des Hauses nehmen die Jugendlichen nicht als geschützten Raum, sondern als Gefängnis wahr. Ein Studium in einer fernen Stadt stellen sie sich als Abenteuer vor, Ängste – wenn z. B. ein Bahnreisender das Portemonnaie in einen Schuh steckt, den er sich als Kissen unter den Kopf schiebt, während er schläft – werden belächelt oder ignoriert.
Mai aus der Enge des Hauses befreien, wird im Verlauf des Romans für die Geschwister zu einer Obsession. Frustriert müssen sie nicht nur feststellen, dass Mai sich immer wieder dem Wünschen ihres Mannes fügt, sondern dass sie auch jedes Selbstbewusstsein verliert, wenn sie sich außerhalb des Hauses bewegt. Das Aufeinandertreffen von unterschiedlichen Erwartungen und Lebensrealitäten erzählt Shree mit einem herausragenden Gespür für die Komik, die aus diesen erwächst.
Dass Mai innerhalb der Grenzen des Hauses stillschweigend ihre Machtposition ausgebaut und sich so ein Leben geschaffen hat, in dem sie zufrieden ist, sehen die Geschwister nicht. Sie projizieren ihre eigenen Ziele auf ihre Mutter, ohne dabei auf deren Wünsche und Interessen Rücksicht zu nehmen. Diesen Prozess beschreibt die Autorin auf einfühlsame Weise. Dabei steht vor allem die Frage nach Rollenvorbildern für die Tochter im Fokus steht. Hat Mai als Ehefrau und Schwiegertochter einen Platz in der Gesellschaft, so sucht die unverheiratete Sunaina ihren eigenen Weg. Das führt zunehmend zu einer Unzufriedenheit, die die junge Frau nur schwer in Worte fassen kann:
Wir hatten den Ausbruch bereits geschafft. Wir konnten uns in freier Luft nach eigenem Belieben entfalten. Wir blickten ja so gründlich durch. […] Was in der Welt gerecht war und was ungerecht, welche Gleichberechtigung und welche Ungleichheit es gab, das hatten wir alles gründlich durchleuchtet. Befangen in unserer so hochgeschätzten Individualität, sahen wir alles wie aus einer Seifenblase heraus. Uns war alles lieb, was die schillernden Farben unserer Seifenblase trug. Im Übrigen färbten wir das, was wir schön finden wollten, mit diesen Farben ein. Wenn Mai daher scheinbar stur darauf beharrte, anders zu sein, verunsicherte uns das. Wir waren ja im Recht, wir blickten durch, und deshalb konnten alle, die nicht genau wie wir dachten, sondern irgendwie anders, nur uneinsichtig und im Irrtum sein. Mai war letzten Endes doch nicht wie wir.
Sunainas Kommentare werden ironisch und selbstkritisch. Es gelingt ihr nicht, ein alternatives Lebensmodell zu entwickeln, das sie glücklich macht. Bereits früh stellt sich die Frage, ob sie das Land verlassen muss, um wirklich selbständig und frei leben zu können.
Die Konfliktlinie zwischen Mutter und Kindern wird von Geetanjali Shree einfühlsam aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. So entsteht ein Familienroman, der nicht nur über drei Generationen hinweg den historischen Wandel beschreibt, sondern zugleich die Frage stellt, ob die junge Generation tatsächlich als eine befreite Generation angesehen werden kann. Haben Sunaina und Subodh nicht vielmehr ein neues Gefängnis erschaffen, von dem aus ihnen der Blick auf die Realität verwehrt bleibt und das sie auf keinen Fall verlassen möchten, weil sie dann die Welt nicht mehr durch die bunten Schlieren ihrer eigenen Realität sehen können? Dass im Generationenkonflikt keine richtige oder falsche Entscheidung getroffen werden kann, hat Shree mit Mai auf einmalige Art und Weise beschrieben.
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