In Anbetracht der Klimakatastrophe?

Zur Rolle der Natur in der Gegenwartslyrik

Von Mario WiesmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Wiesmann

Die Natur spielt historisch eine wichtige Rolle in der Lyrik. Schon bei Francesco Petrarca wird sie zur Seelenlandschaft. Die Romantik wendet sich ihr euphorisch zu, versucht, ihre Sprache zu deuten. Und noch nach 1945 schreiben Günter Eich und Peter Huchel in der Tradition der naturmagischen Schule, suchen in den Zeichen der Natur nach einem in der Moderne verloren gegangenen Zugang zur Wirklichkeit. Spätestens seit der Shoah aber steht Literatur, die die Schönheit der Natur zu evozieren versucht, im nicht zu schlichtenden Widerspruch zur Realität. Und gleichzeitig hat sich die Natur verändert. Sie erscheint heute nicht mehr als unberührter Sehnsuchtsort, sondern ist durch menschliche Eingriffe beeinträchtigt oder zerstört.

Gerade unter diesen veränderten Voraussetzungen wenden sich ihr viele zeitgenössische Lyriker*innen aber wieder zu. Wulf Kirstens Gedicht herbst, dessen Titel noch an Hölderlin erinnert, signalisiert schon durch die Kleinschreibung den Bruch mit der Tradition. Schwärmerische Naturbeschreibungen findet man in ihm nicht. Mit unverhohlener Ironie kündigt die zweite Zeile „natur pur vor Jena belassen“ an – um dann eine Landschaft zu beschreiben, die weder pur noch belassen ist. Über den Felswänden und Bäumen, von denen anfänglich die Rede ist, erheben sich „die mühlen der stromerzeuger“, im Tal bemerkt Kirsten die „supermärkte / für heimwerker“. Und er weiß, dass „selbst der flußlauf / stromab demnächst kostspielig / asphaltiert“ wird. Der Mensch tritt als homo faber, als Erzeuger und Werker auf, vor dem die Landschaft bis auf ein paar Zeilen zurückgewichen ist.

Kirsten verlegt sich aber nicht auf eine einseitige Polemik. Seinem Blick, der ihn zuerst noch über die Felswände staunen ließ, entgeht nicht, wie die Rotorblätter der Windräder sich „eilfertig in die / laubfärbung hinein[drehn]“. Der Vorgang, den Kirsten festhält, scheint zu einer fremden Welt zu gehören – ähnlich wie in einem Gedicht von Jan Wagner, wo mit zwei Windrädern eine „probebohrung im himmel“ durchgeführt wird. Die Natur hat ihre Bedeutung als Chiffre einer verborgenen Wirklichkeit an die menschliche Kultur abgetreten. Sie wird zum Faszinosum, vielleicht sogar erhaben. Der Dichter betrachtet sie, als wüsste er nicht, zu welchem Zweck sie erschaffen wurde. Und schöpft daraus, so prosaisch sich sein Text gleichzeitig präsentieren mag, Sinn.

Auch in Marion Poschmanns Gedichtband Geliehene Landschaften (2016) spiegelt sich die Zurückdrängung der Natur durch den Menschen wider. Poschmann wendet sich Kulturlandschaften, Gärten und Parks zu, um sie zum Gegenstand von Naturgedichten zu machen. In ihren lyrischen Bestandsaufnahmen kommt Disparates zusammen. Das lyrische Ich ist gleichermaßen „umgeben / von Bernsteinbäumen und -häusern, -fußbällen, -eulen.“ Vielfältig sind auch die Mittel, mit denen Poschmann sich ihrer Materie annähert. Sie beruft sich auf die klassischen Formen des Lehrgedichts und der Elegie, schreibt aber in freien Versen und fügt dem Band eine Serie von Prosagedichten bei. Hinzu kommen zahlreiche Motti und ein Abschnitt mit Anmerkungen, als wäre der vom Menschen geprägten Natur nur beizukommen, indem die Dichterin auch erläutert und Beziehungen zu anderen Texten herstellt.

Die Landschaften, mit denen sich Poschmann befasst, sind gleichermaßen vieldeutig und unergründlich. Vieldeutig, weil sie kulturell durchdrungen, also mit Sinn aufgeladen sind. Davon zeugen Wörter wie „Laubforschung“, „Eichengriff“, „Plattenbaulaub“ oder „Gelehrtenstein[]“. Unergründlich, weil die Natur auch dort, wo der Mensch sie anlegt und einzäunt, das schlechthin Andere bleibt. „Stimmen, von weit her besprechen die Berge“, aber es bleibt unklar, „was überhaupt man als Berge bezeichnet“. Etwa auch „die Ferndiagnosen sowie die gefälschten Teile der Landschaft“? Am Ende heißt es, „die Berge sind wir“ – eine Einladung, die Natur anders zu lesen, aber auch die traurige Bilanz ihrer rücksichtslosen Urbarmachung durch den Menschen.

Auch ein Gedicht von Eva Christina Zeller, das einer invasiven Art, dem Amerikanischen Nerz, gewidmet ist, behandelt den Einfluss des Menschen auf die Natur. Das lyrische Ich beobachtet, wie ein Tier auf einer finnischen Insel mit einem Tau spielt, und lässt sich dann erklären, dass es sich um einen Nerz handelt – „aus farmen befreit, sagt finn / schwamm bis hierher, raubt vogelnester aus / bringt die balance ins schlingern“. Ein Kontrast ergibt sich hier schon zur vorigen Strophe, wo das Tier beim Spielen unschuldig und lieblich, „ganz selbst- / vergessen“ wirkt. Zeller macht deutlich, dass nicht das Tier selbst bedrohlich ist, sondern der Mensch die Natur durch sein Eingreifen ins Schlingern gebracht hat.

Was den Text literarisch interessant macht, ist die Bewegung, die Zeller in der darauffolgenden letzten Strophe nachzeichnet, einen Blick in die Weite, „hinaus auf steine“ und bis zum Meer. Das Meer „überschreit / jenes gespräch das wir sind“. Das Gespräch mit Finn über den Nerz, eben noch Thema des Gedichts, wird vom Meeresrauschen übertönt. Was dann noch übrig bleibt, lässt der Text offen. Ist im Rauschen etwas anderes zu hören als die lyrische Stimme? Oder ist sie ein Vorgeschmack auf das Ende der Menschheit, weil die gut gemeinten Erklärungen zu spät kommen?

Auf der Suche nach Proviant von einer unbewohnten Insel, wie der betreffende 2020 erschienene Gedichtband heißt, schießt Zeller aber nicht selten über das Ziel hinaus. Was sie in der Natur einer finnischen Insel vorfindet, Steine, Heidekraut, Ringelnattern und Schwalben, vermenschlicht sie, um ihm Sinn zu entlocken. Die Steine unterhalten sich, die „flechten denunzieren dich“. Es wird bedauert, „dass du die sprache nicht verstehst / die sprache des windes“.  An jeder Stelle sollen die Gedichte so etwas wie metaphysische Erfahrungen festhalten – und bleiben hinter diesem Anspruch zurück. Zeller gelingt es nicht, dem Leser ihre Assoziationen und Visionen plausibel zu machen. Und vielleicht, dieser Verdacht erhärtet sich nach der Lektüre des Bandes, ist das auch heute gar nicht mehr möglich.

Vorsichtiger sind die sprachlichen Expeditionen Heinrich Deterings. In einem Gedicht über die Grottenolme beschreibt er in aller Sachlichkeit „die farblosen Körper bei acht Grad konstant im / leicht mineralischen Wasser unter dem Berg“. Es sind nicht diese Naturbeobachtungen selbst, die das Gedicht ausmachen, sondern die Gedanken, zu denen sie den Dichter inspirieren. Es geht um den Versuch, sich das Dasein der Grottenolme „ohne Tag ohne Nacht ohne Wind ohne Licht / ohne Jahr ohne Zeiten ohne jede Zeit“ trotzdem als Leben vorzustellen. Mehrmals ruft er sich ins Gedächtnis, dass auch das „eine Art Leben sein [muss]“, nur um im nächsten Moment wieder von ihm befremdet zu sein. Detering inszeniert einen scheiternden Verständnisversuch. Der Widerspruch bleibt bis zuletzt ungeschlichtet: „Es muss eine Art Leben sein das sie führen / vielleicht die Hölle bei konstant acht Grad oder / eine Art Nirwana oder etwas das wir // nicht verstehen […].“

Deterings Texte geben nicht vor, mehr zu sein, als Literatur heute noch sein kann. Wo die Natur als das Andere, Unbegreifliche in den Blick kommt, bleiben auch die Fragen, die das Gedicht aufwirft, unbeantwortet. Naturlyrik erweist sich hier als zeitgemäß um den Preis ihres positiven Gehalts. In der Negativität des Textes liegt aber eine Aufforderung an die Leserin, vom Text aus weiterzudenken, -zufühlen und -zuphantasieren und so versuchsweise über die Grenze hinauszukommen, die dem Verstand und der Sprache gesetzt ist.

Einen anderen Weg schlägt Mathias Jeschke ein. Von einer Lyrik, die in der Natur nach den Spuren einer verbogenen Hinterwelt sucht, hält er offenbar nicht viel.

[…] Das scheint ja
so eine Art Profession zu sein, Sinn zu
finden in den Belanglosigkeiten
dieser Welt. Ich lese Geheimbotschaften
in den Steinen, in den Sternen.

Um die Geheimnisse der Steine ging es auch in Zellers Insel-Gedichten. Jeschke beschreibt das eigene Schreiben aber auffällig distanziert und fast spöttisch. Die Ambivalenz dieser Poetik in nuce zeigt sich auch in seinen Gedichten. In ihnen befasst sich Jeschke intensiv mit den Belanglosigkeiten der Welt, verzichtet aber darauf, Geheimbotschaften in sie hineinzulesen.

Auffällig ist Jeschkes Unaufgeregtheit. Er dichtet nicht nur wie Detering in einem sachlichen Stil, sondern bleibt auch inhaltlich bei den Tatsachen. Das liest sich dann so: „Drei Goldglänzende Rosenkäfer, / zwei Holzbienen, Fliegen und Hummeln, / hier ist ganz schön was los.“ Keine Anthropomorphismen mehr, kein Raunen. Jeschke zählt nur auf, wobei er den Belanglosigkeiten der Welt durch die Aufnahme in den Text Bedeutung zuspricht – nicht als Metaphern, sondern als das, was sie sind. Es ist deshalb nicht falsch, zu sagen, dass Jeschke in solchen Gedichten nach Sinn sucht. Man kann sogar mit Recht behaupten, dass er ihn findet. Für seine Lyrik gilt, was er an einer Stelle über seinen Gewährsmann Philippe Jaccottet schreibt. Beide halten ein „Plädoyer für das Eigentliche“: „Wir sind, wer wir sind und stehen / nicht für etwas anderes. // Das gilt auch für Vögel, Insekten / und Blüten. Niemand ist dem Mythos oder / der Idylle ausgeliefert.“ Auch das Naturgedicht ist es bei Jeschke nicht mehr. 

Es werden aber auch heute noch Gedichte geschrieben, die in der Natur den besonderen Ausdruck von etwas anderem erkennen, ohne sich in Schweigen zu hüllen. Ein ganzes Buch mit solchen Gedichten hat Michael Krüger geschrieben. Der Band Im Wald, im Holzhaus (2021) ist ein lyrisches Tagebuch der Isolation während der Corona-Pandemie. In den durchnummerierten Gedichten hält Krüger fest, was er beim Blick aus dem Fenster oder Spaziergängen in der ländlichen Abgeschiedenheit beobachtet. Zwar wirkt das Rotkehlchen, das sein Federkleid schüttelt, „wie ein religiöser Eiferer, es schüttelt sich zurecht fürs Gebet.“ Seinen eigenen dichterischen Eifer fängt Krüger aber gleich wieder ein und gibt zu Protokoll, dass ihn Gespräche „mit den Fotografien von Stojan Kebler“ und anderen dazu inspiriert hätten, diese „heiligen Wörter / aufzuschreiben“ und – was das Entscheidende ist – sie „mit den alltäglichen zu vermischen“.

In einem anderen Gedicht beschreibt Krüger eine frisch gemähte Wiese, die ihn nacheinander an „ein holländisches Bild / nach der Natur“, ein Gemälde von Claude Lorrain, über den er gerade einen Essay von Karlheinz Lüdeking liest, später an die Himmel von Dalí und schließlich an Zeilen von Peter Huchel erinnert. Huchel dichtet: „es richtet / sich auf das Gras / wie eine Wahrheit“. Bescheidener ist Krügers Assoziation: Die gemähte Wiese erscheint ihm jetzt „leer, als wäre da lange ein Stück Wäsche gelegen.“

Krügers Eindrücke aus der Natur vor dem Holzhaus fließen in ein Journal seines Alltags ein, wo sie unvermittelt neben anderem stehen: dem politischen Tagesgeschehen, anderen Kunstwerken, Lektüren und Beschreibungen der eigenen Arbeit, privaten Erinnerungen und Sorgen um die Gesundheit. Die Naturmotive treten in Dialoge mit verschiedenen Diskursen. Ob diese Dialoge zu einer Verständigung führen, ist einmal mehr von der Leserin abhängig. Der Text stellt nur Konstellationen her, bleibt also über jeden Verdacht erhaben. Und doch steht hier wieder die Möglichkeit im Raum, dass sich etwas über das Leben und die Gesellschaft lernen lässt, wenn man beim Arbeiten, beim Lesen oder Nachdenken innehält und den Blick nach draußen schweifen lässt. Krüger bekennt:

[…] Ich sehe nicht mehr, was auf der Welt geschieht,
ich muss es nachlesen. Eine baufällige Welt, sagen viele,
aber ich sehe in meinem Fenster nur die schönen Seiten,
unabhängig davon, was dann auf dem Papier steht.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Natur wieder Seelenlandschaft wird, zumindest etwas Vergleichbares. Die Zusammenhänge sind aber nicht mehr eindeutig. Und sie sind komplex: Was wir in den Gedichten lesen, ist nicht mehr unbedingt das, was der Dichter durchs Fenster gesehen hat. Und wenn wir darin das Weltgeschehen erkennen, dann ist es gleichzeitig Gelesenes, das wir wieder-lesen. Lektüren und Beobachtungen sind unentwirrbar verflochten. Das heißt aber auch, dass sich überall Spuren finden, denen der Leser nachgehen kann. Nur garantiert der Dichter nicht mehr, dass sie zur Wahrheit führen.

Das Vorbild für diese Art zu schreiben ist Jürgen Becker. In seinem Werk ist die Vergangenheit das vorherrschende Thema. Sich zu erinnern, ist für den Autor kein willkürlicher Akt, sondern ein Prozess, der von außen angestoßen wird. Mal durch ein Gespräch, mal wenn das lyrische Ich in seiner Umgebung auf Vertrautes stößt, das das Zurückdenken in Gang bringt. Dann kann ein heimischer Vogel im Garten, der Geruch der Äpfel im Keller oder ein Blick in die Felder eine Serie von Kurzschlüssen auslösen, in denen Gegenwart und Vergangenheit so verschmolzen sind, wie das lyrische Ich sie in einer unwillkürlichen ästhetischen Erfahrung erlebt: „Weiße Inseln auf der Wiese, Schneereste / im März, in der Stadt die letzten Widerstandsnester. / Schwärme von Bergfinken besetzen / die zerzausten Gärten, und die Brücken / liegen im Wasser.“

Um noch einmal den Unterschied zu einem gedankenlosen naturmagischen Schreiben deutlich zu machen: Die Engführungen, die Becker vornimmt, sind plausibel als Erleben eines Zeitzeugen, der in seiner Umwelt Spuren der Vergangenheit erkennt. Sie sind außerdem glaubwürdig, weil wir selbst vergleichbare Erfahrungen machen, wenn bestimmte Gegenstände, Situationen oder Formulierungen auf uns wirken, als würde in ihnen Vergangenes in der Gegenwart durchscheinen. Dass die Natur zum Kriegsschauplatz wird, bedarf bei Becker deshalb keiner Erklärung. Ein Semikolon genügt, um oberflächlich Disparates, Präsens und Präteritum wie in einer logischen Folgerung aneinanderzufügen: „Das Maisfeld gegenüber / raschelt; vereinzelt tauchten Fallschirmjäger auf, als / weiter nördlich sich die Zange schloß.“

In zwei dieses bzw. letztes Jahr erschienenen Gedichtbänden schließlich erlangt die Natur als Wortreservoir neue Bedeutung. Auch Autor*innen wie Zeller oder Poschmann wenden sich der Natur programmatisch als Inspirationsquelle zu, wovon eben Titel wie Proviant von einer unbewohnten Insel und Geliehene Landschaften zeugen. In Simone Lapperts lyrischem Debütband von 2022 passiert aber etwas anderes. Die Landschaft ist nicht mehr als Sujet Referenzpunkt des lyrischen Textes, sondern erweist sich als reiche Zeichen- und Motivquelle für die kreative Arbeit der Dichterin. Lappert schöpft aus ihr, um eine Sprache zu entwickeln, in der sie sich ausdrücken kann. Auch dieses Programm wird schon im Titel angekündigt: Lapperts erklärtes Ziel ist die längst fällige verwilderung der Sprache; der Untertitel weist ihre Texte gleichermaßen als gedichte und gespinste aus. In ihnen ist dann vom Versuch, sich „bis zum gefrierbrand zu monden“, und vom „kerngehäuse“ der Geduld die Rede, von einer „vermoosung der gedanken“ und scheuem „wortwild“. Lappert geht es nicht in erster Linie darum, Landschaften und Tiere zu beschreiben, sondern um eine dichterische Selbstvergewisserung, für die die Natur Stichworte und Metaphern, teilweise aber auch nur Stimmungen oder Klänge liefert.

Ähnliches passiert in Nico Bleutges Band schlafbaum-variationen (2023). Wie bei Lappert steht hier schon im Titel der kreative Akt, die Variation, im Zentrum. Bleutge verfährt aber radikaler. In seinen Gedichten tritt das Sujet in den Hintergrund, der grammatische Zusammenhalt des Textes ist zum Teil aufgehoben. An ihre Stelle tritt die Sprache in ihrer klanglichen und semantischen Eigendynamik. Im Habitat der Texte stößt die Leserin auf seltsame Wortschöpfungen wie „mulchtau“, „nektargras“ oder „fuchsluft“. Assonanzen und Assoziationen sind dafür verantwortlich, dass das Gedicht nirgends Halt macht:

schneebeere, leichthin weiße mit überhängenden
zweigen. schlaufen. weiße beere, die im kopf ist
über wochen. seekugel. salzige flocken, wochen
aus rückzug an diese ufer. wellen vor augen, salzige
seen. […]

Bleutges Texte wollen nicht in vertraute Bilder oder Szenen rückübersetzt werden, sondern als Sprachkunstwerke wirken. Die Natur kommt in ihnen immer wieder zum Vorschein, aber als Bezeichnete, als Wortfeld. Das eigentliche Thema ist die Variation, nicht die Schneebeere oder der Schlafbaum. Sie lädt dazu ein, das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt, auch zur Natur, neu zu betrachten und zu gestalten – ein Prozess, der im Geist beginnt, bei den Wörtern.

Die Stichprobe zeigt, wie sich das Verhältnis der deutschsprachigen Lyrik zur Natur im 21. Jahrhundert gewandelt hat. Die Lyrik der Gegenwart reagiert auf ein verändertes Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt, ist aber nicht auf ein gesellschaftskritisches Lamento zu reduzieren. Vom Klimawandel fällt auch ein Licht auf die Sprache als Medium, das das Andere dem Denken verfügbar macht. Während der Versuch, im Gedicht die Magie der Natur freizusetzen, heute aussichtslos erscheint, haben einige Lyriker*innen der Gegenwart aber das Vertrauen in die Magie der Sprache nicht verloren. Der diskursiven Vereinnahmung der Natur lässt sich mit eigenwilligen Wortschöpfungen und motivischen Konstellationen noch etwas entgegensetzen. Der Anspruch aber ist bescheidener: den Menschen in seiner veränderten Umwelt zu verorten und Fragen wie die nach Sinn oder nach dem Eigentlichen neu zu stellen, ohne die Gewissheit, dass sie sich überhaupt beantworten lassen.

 

Literaturhinweise

- Becker, Jürgen: Dorfrand mit Tankstelle. Gedichte. Frankfurt a.M. 2007.
- Bleutge, Nico: schlafbaum-variationen. gedichte. Hamburg 2023.
- Detering, Heinrich: Wundertiere. Gedichte. Göttingen 2015.
- Jeschke, Mathias: Es traten Wälder aus mir heraus. Gedichte. Mit Tuschezeichnungen von Peter Schlack. Innsbruck/Wien 2022.
- Kirsten, Wulf: erdanziehung. gedichte. Frankfurt a.M. 2019.
- Krüger, Michael: Im Wald, im Holzhaus. Gedichte. Berlin 2021.
- Lappert, Simone: längst fällige verwilderung. gedichte und gespinste. Zürich 2022.
- Poschmann, Marion: Geliehene Landschaften. Berlin 2016.
- Zeller, Eva Christina: Proviant von einer unbewohnten Insel. Gedichte. Tübingen 2020.