Erkennen Sie die Melodie?

Stephan Krass erzählt hundert Jahre „Radiozeiten“

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ich erinnere mich an eine Erzählung unseres Geschichtslehrers, Ende der 70er Jahre. Er hatte im Abendprogramm eine Melodie gehört, die ihn elektrisierte: Er kannte sie seit Kindertagen genau, aber in anderer Einspielung. Was mochte das sein. Er rief einen Kollegen an, unseren Musiklehrer, und bat ihn, sich den Sender ebenfalls einzustellen. Der Musiklehrer erkannte den Komponisten und die Fanfare: Franz Liszts Heldenmotiv aus der sinfonischen Dichtung „Les Préludes“ – einst die Erkennungsmelodie von „Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt“. Jeder Deutsche seines Jahrgangs – unser Geschichtslehrer war 1937 geboren worden – war damit aufgewachsen.

Der Vielfalt der deutschen Hörfunkprogramme entsprach seit jeher eine Vielfalt der Pausenzeichen, wie der Literatur- und Medienwissenschaftler Stephan Krass in seiner Kulturgeschichte des Radios ausführt. Galt es doch, die Totenstille zu überbrücken, die entstanden wäre, wenn sich zwischen zwei Sendeblöcken eine Lücke aufgetan hätte. Die Programmleitungen waren bemüht, „den Kontakt mit dem Empfänger nicht abreißen zu lassen“, nur deshalb wurde das Pausenzeichen eingeführt:

Während ein kurzes Interludium erklang, waren hinter den Kulissen die Techniker damit beschäftigt, Hebel umzulegen, Stecker umzustöpseln, Regler hochzufahren oder Tastaturen zu bedienen. Der Zeittakt des Sendeplans musste eingehalten werden, und im Ablauf des Programms durften keine schalltoten Löcher entstehen. Was als pragmatisches Zwischenspiel begann, entwickelte sich schon bald zum Marken- und Erkennungszeichen der einzelnen Sender.

Wenige Takte aus dem Lied „D Zyt isch do“ genügten, um als Erkennungsmelodie des deutsch-schweizerischen Rundfunks zu fungieren – vierzig Jahre lang.

„Radiozeiten“ sind gute und schlechte Zeiten, tröstliche und schreckliche. Ihre Anfänge in Deutschland lassen sich unterschiedlich datieren: Beispielsweise auf den 22. Dezember 1920, als von Königs Wusterhausen (Brandenburg) aus ein Weihnachtskonzert über den Äther ging. Offiziell gilt der 29. Oktober 1923 als Startschuss des Rundfunks hierzulande. Bereits am 20./21. Mai 1927 konnten Hörer die Alleinüberquerung des Atlantiks durch Charles Lindbergh spektakulär per Funk mitverfolgen. Von da an drang per Knopfdruck das Geschehen bis in die entlegensten Winkel der Welt.

Auch Heidegger hatte den Finger am Puls der Zeit, als er in seiner Existenzialontologie von der Ausdehnung des Erfahrungsraumes durch das neue Medium schwärmte:

Alle Arten der Steigerung der Geschwindigkeit, die wir heute mehr oder minder gezwungen mitmachen, drängen auf Überwindung der Entferntheit. Mit dem ,Rundfunk‘ zum Beispiel vollzieht das Dasein heute eine in ihrem Daseinssinn noch nicht übersehbare Entfernung der ,Welt‘ auf dem Wege einer Erweiterung der alltäglichen Umwelt.

Im Unterschied zu Heidegger verdammte Max Picard das sujetlose Rauschen des Radios. Seine maßlose Tirade trieb erstaunliche Blüten: Gott selbst, „der ewig Dauernde“, sei „abgesetzt“. Stephan Krass kommentiert diese Extremposition mit viel Witz:

Als Max Picard 1965 starb, erschien in der Wochenzeitung DIE ZEIT ein Nachruf, in dem er ein ,Seher‘ genannt wurde. Es läge nahe, hier die Pointe anzufügen: Ein Hörer war er jedenfalls nicht.

Auch dem österreichischen Satiriker Anton Kuh galt Radio als Frevel: Vom Berge Sinai dürfe „nur Gottes Stimme schallen“ – die Elektrotechniker hätten sich mit ihrer drahtlosen Übertragung von Stimmen und Geräuschen zu weit vorgewagt.

Philosophen, die von der Sache nichts verstehen, machen selten eine gute Figur. Die Pragmatiker laufen ihnen den Rang ab, die Propagandisten nutzen die Gunst der Stunde, um den „Kult des neuen Staates“ zu feiern, und die Phonographen erobern die Haushalte, indem sie das Ohr als Organ der Wahrnehmung aufwerten: Ein Erzähler wie Peter Kurzeck etwa wird vor allem für seine virtuose Mündlichkeit gerühmt – wer mag ihn lesen, wenn man ihn hören kann?

Wenn uns hier vor allem die Schriftsteller interessieren, so ist dies auch schon bei Stephan Krass so angelegt, der sich – indem er ein Radiogedicht von Thomas Kling zitiert – quasi selbst beim Namen nennt: „aus der ekstasehöhle / eine frauenstimme, richtig krass. / wozu bespannung stark / vibriert.“

Zur „große[n] Kulturmaschine“ (Alfred Andersch) entwickelte sich der „Funk“ erst allmählich und zögerlich. Funk war ein vages Etwas: „Drahtlos wird etwas übertragen, durch ein Nichts.“ (Bertolt Brecht) Wer Sender und wer Empfänger war, war noch undefiniert: Stimmen von Abwesenden drangen durch ein Stückchen Stoff und standen plötzlich im Raum. Dieser Vorgang des Numinosen erinnert Stephan Krass an Pythagoras, der sich hinter einem Vorhang versteckt haben soll, wenn er zu seinen Schülern sprach – und dozierte. Die antiken Akusmatiker (Zuhörer) sollten von der reinen Lehre nicht durch die Körperlichkeit ihres Lehrers abgelenkt werden.

Mühsal der Anfänge! Zu ertragen nur durch das Faszinosum der Technik. Anfangs hatte man noch einen Knopf im Ohr oder musste noch Kopfhörer tragen, wer die Sprache und Musik erlauschen wollte, die auf elektromagnetischen Wellen in den Raum geschickt wurden. Unermüdlich bastelten „Radiopioniere“ an Optimierungen. Hans Bredow, technischer Direktor bei Telefunken, später Ministerialdirektor im Reichspostministerium, tüftelte mit dem Schauspieler und Reporter Alfred Braun im Berliner Vox-Haus an einer „Funk-Stunde“, die „drahtlose Belehrung“ ermöglichen sollte:

Drei Minuten vor acht Uhr. Alles versammelt sich im Senderaum. Erwartungsvoll beobachtet man das Vorrücken des Zeigers der Uhr. Acht Uhr! Alles schweigt. In das Mikrophon ertönen nun die Worte: ,Achtung! Achtung! […] Wir bringen die kurze Mitteilung, dass die Berliner Sendestelle Vox-Haus mit dem Unterhaltungsrundfunk beginnt.‘

In der Zwischenkriegszeit wurden Sendequalität, Frequenz und Dauer stetig verbessert. Unter Hitler entwickelte sich der Funk zum Propagandamedium. In Kriegs- und Nachkriegszeiten wurden Grenzen und Räume fast gegenstandslos. Beim Weltmeisterschafts-Endspiel 1954 in Bern gelangen legendäre Aufnahmen: „Rahn schießt! Tor! Tor! Tor!“

Stephan Krass verweilt mit seinem Essay auf Sendezeiten und bei Persönlichkeiten, die prägend waren. Gottfried Benn „praktizierte Radio, aber er glaubte nicht daran, damit irgendeine Wirkung zu erzielen!“ Heute können wir uns glücklich schätzen über dieses einzigartige Hörwerk, das Benn sogar zu Gedichten angeregt hat. Benn ist zugleich ein Repräsentant der dunklen, janusköpfigen Geschichte des Mediums.

Ein anderer ist Werner Höfer, der langjährige Gastgeber des „Frühschoppens“, der 1943 ein Todesurteil gegen einen jungen Pianisten öffentlich gerechtfertigt hatte: Karlrobert Kreiten hatte sich im privaten Kreis überzeugt gezeigt, dass der Krieg verloren sei, war denunziert und hingerichtet worden. Roland Freisler urteilte, der Angeklagte habe „mitten im totalen Krieg die kämpferische Widerstandskraft einer deutschen Volksgenossin durch niedrigste Verunglimpfung des Führers, das Voraussagen der Revolution und den Rat, sich vom Nationalsozialismus abzukehren, volksverräterisch zu zersetzen versucht und dadurch unserem Kriegsfeind geholfen.“

Die Nachkriegsgeschichte ist in dieser Darstellung von Stephan Krass stark auf den Westen, weniger auf den Osten fokussiert. Die föderale Struktur der „Rundfunklandschaft“ kam der erwähnten Vielfalt zugute: Man sollte den Frauenfunk erwähnen, der Hilfestellung im Alltag anbot, wo guter Rat teuer war. Man könnte Arno Schmidt für seine Nachtprogramme loben. Die Radiokunst und das Hörspiel nicht zu vergessen, das mit einer eigenen Auszeichnung – dem bedeutenden Hörspielpreis der Kriegsblinden – gewürdigt wurde. Die vielleicht wichtigste Funktion des Radios erwähnt Stephan Krass ganz zum Schluss: Man kann es abschalten.

Titelbild

Stephan Krass: Radiozeiten. Vom Ätherspuk zum Podcast.
(zu Klampen Essays herausgegeben von Anne Hamilton).
zu Klampen Verlag, Springe 2022.
254 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783866748347

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