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Andreas W. Mytze (1944-2021): Antiquar, Exilforscher, Klein-Verleger, Publizist, Theaterkritiker und Betreiber der Zeitschrift „europäische ideen“
Von Volker Strebel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas vorliegende und zugleich letzte Heft der „europäischen ideen“ ist Andreas W. Mytze gewidmet, einer konsequent unabhängigen Persönlichkeit, die über Jahrzehnte hinweg im Windschatten der jeweils herrschenden Meinungsmoden manch entscheidende Akzente gesetzt hatte. Am Anfang stand das blanke Entsetzen über die Verbrechen des deutschen Nationalsozialismus. Wie hatte es dazu kommen können und welche Lehren sind zu ziehen, um Derartiges nie wieder zuzulassen? Hinzu kommt das lebhafte Interesse daran, inwiefern die Länder des „real existierenden Sozialismus“ ihrer propagierten antifaschistischen Verpflichtung nachkommen.
Der 1944 geborene Andreas W. Mytze hatte die darbenden Jahre der Nachkriegszeit erlebt, den an der Ostfront vermissten Vater nie kennengelernt. Im eingemauerten West-Berlin der 1960er Jahre hatte er das Studium der Germanistik absolviert und war unmittelbar in die turbulenten Ereignisse jener Zeit involviert. Die Aufarbeitung der NS-Diktatur und der antiautoritäre Aufstand der Studentenschaft hatten ihn ebenso beeinflusst wie das Aufbegehren der kritischen Intelligenz in der Sowjetunion. Im aufregenden Prag während der von Alexander Dubček geleiteten Reformphase des „Prager Frühlings“ hatte sich Mytze unter anderem in Begleitung von Milan Kundera aufgehalten.
Von den Nazis verfolgten und ins Exil getriebenen Autoren widmete er sich in seiner 1973 gegründeten Zeitschrift „europäische ideen“ ebenso, wie Dissidenten und in Ungnade gefallenen Schriftstellern in den sozialistischen Ländern. Bis zu seinem von der DDR verhängten Einreiseverbot im November 1976 nutzte er seine Möglichkeiten der Kontaktaufnahme mit verschiedenen Regimekritikern und freien Geistern wie etwa dem von den Nazis zum Tode verurteilten oppositionellen Kommunisten Robert Havemann, dem Liedermacher Wolf Biermann oder dem Schriftsteller Reiner Kunze.
In einem intern angelegten Dossier [„Information Nr. 305/77“] über den Westberliner Publizisten Andreas W. Mytze kommt die Staatsicherheit der DDR zu einer unmissverständlichen Einschätzung. Neben der Verleumdung der Sowjetunion, der Diffamierung der DDR-Kulturpolitik und Angriffen auf die Grundaussagen des Marxismus-Leninismus sind Ausrichtung und Inhalte der „europäischen ideen“ „eindeutig auf eine ideologische Aufweichung und Zersetzung der sozialistischen Literatur sowie progressiver Kräfte in kapitalistischen Staaten ausgerichtet“.
Seit 1984 hatte Andreas W. Mytze sein legendäres Antiquariat wie auch seinen Lebensmittelpunkt nach London verlegt. Dort fühlte er sich der Emigrantenszene verbunden, mit etlichen Entronnenen und Überlebenden wie etwa Erich Fried oder Henriette Hardenberg war er befreundet. Die von ihm in mühevoller Kleinarbeit erstellten „Exilkataloge“ in drei Teilen stellen bis heute eine wahrhafte Fundgrube dar. Der deutschen Exilliteratur blieb er zeitlebens verbunden. Autoren wie Ernst Ottwald, Alfred Kantorowicz oder Erich Mühsam suchte er dem Vergessen zu entreißen.
Dieses Heft zu Ehren von Andreas W. Mytze ist das letzte Heft der von ihm gegründeten und betriebenen „europäischen ideen“. In einem wertvollen Anhang werden die von Andreas W. Mytze herausgegeben Bücher in der Reihenfolge ihres Erscheinens angeführt. Es sind allesamt Einwürfe und Schriften solitärer Persönlichkeiten und zumeist verfemter Schriftsteller aus dem undogmatischen linken Spektrum. Zudem sind die vollständigen Titel der 159 Hefte samt der 12 Sonderhefte der „europäischen ideen“ aufgelistet, die zwischen 1973 und 2021 erschienen waren.
Im vorliegenden Abschiedsheft der „europäischen ideen“ berichten Freunde, Kollegen und Mitarbeiter von ihren Erfahrungen und Erlebnissen mit Andreas W. Mytze, der immer lieber Fragen stellte, als Einblicke in seine eigenen Verhältnisse zu gewähren. Ohne Zweifel liegt auch ein schwieriger, widersprüchlicher Charakter vor, der neben seinen unstrittigen Verdiensten nicht ausgeblendet wird. Vor allem in den letzten Lebensjahren vor seinem Freitod in London schien er sich manch wunderlicher Verschwörungsphantasie zu öffnen, ohne jedoch seine lebenslange Treue zu verfolgten und bedrängten Schriftstellern abzulegen.
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