Über Wiederankommen in der Heimat und Liebe

Philipp Brotz‘ Entwicklungsroman „Die Ungleichzeitigen“

Von Miriam RothRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Roth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seinem Roman Die Ungleichzeitigen erzählt Philipp Brotz, der unter anderem mit dem schwäbischen Literaturpreis ausgezeichnet wurde, die Geschichte eines entwurzelten jungen Mannes namens Hagen, der verzweifelt Vertrautes sucht.

Nach dem Unfalltod der mit ihm zerstrittenen Eltern kehrt Hagen in den Schwarzwald zurück. Nachdem er als „ewiger Student ohne Abschluss“ in Berlin gescheitert ist, hofft er darauf, im verlassenen Elternhaus an sein altes Leben anknüpfen zu können. Erschüttert stellt er fest, dass sich in der Heimat niemand mehr an ihn erinnern kann. Im Wald, der ihm früher als Zufluchtsort diente, sollen Flüchtlingsunterkünfte errichtet werden.

Brotz zeichnet mit Hagen einen Protagonisten, der den Boden unter den Füßen verloren hat und sich trotz schwieriger Kindheit an das klammert, was aus dieser Zeit übriggeblieben ist. Ein Symbol für das verzweifelte Festhalten an Vertrautem sowie die Angst vor Neuem ist seine Katze „Memory“, um die sich Hagen voller Hingabe kümmert. Mit ihrem drohendem Tod will er sich nicht abfinden:

Und jetzt kniete er auf dem Parkett und sah, wie allmählich der Tod in dieses Bündel aus stumpfem Fell und grätendünnen Knochen schlüpfte und seine blassen Farben in das Katzengesicht tupfte. Tränen kitzelten Hagens Nase […]. Ja, die Tierarztpraxis im Nachbardorf war sicher noch eine Zeit geöffnet. Dr. Schroth musste Memory behandeln, ihr etwas spritzen, Vitamine, Blutplasma, keine Ahnung, was, Hagen würde sofort hinfahren.

Hagens vermeintlich aussichtsloser Kampf gegen alles ihm Fremde verändert sich, als er die geflüchtete und mittlerweile im Dorf lebende Jesidin Adana kennenlernt. Auch sie scheint entwurzelt zu sein und traumatische Ereignisse durchlebt zu haben. Während jedoch Hagen um seine Vergangenheit kämpft, führt Adana einen inneren Kampf gegen das Vergangene.

Dem Autor gelingt es, zwei Figuren zu entwerfen, die trotz ihrer Ähnlichkeit sehr unterschiedlich sind: Hagen lässt sich zu Übersprungshandlungen verleiten und wirkt dadurch sehr unreif und verzweifelt. Wie gelähmt sieht er zu, wie ihm sein Leben entgleitet. Beim Lesen möchte man diese zunächst unsympathische Figur gerne wachrütteln. Dieses Gefühl wird durch langatmige Passagen zuweilen unterstützt. So wird zum Beispiel über mehrere Seiten hinweg beschrieben, wie Hagen versucht, Geld an der Börse zu machen und am Ende alles verliert.

Mit der zunehmenden Präsenz Adanas beginnt die Geschichte zu fesseln. Adana wirkt im Gegensatz zu Hagen stark, zielstrebig, klug und steckt voller Energie und Lebensfreude. Sie nimmt ihr Schicksal an und versucht aktiv ihre Situation zu verbessern. Dank ihr kann Hagen sich ins Leben zurückkämpfen. Er entwickelt sich vom zurückgezogenen Einzelgänger zum engagierten, hilfsbereiten Teamplayer.

Der Erzähler, der selbst nicht Teil der Geschichte ist, ermöglicht durch die Fokalisierung einen Einblick in Hagens Gefühlswelt. Durch anachronistisches Erzählen kann man als Leser*in nachempfinden, wie Hagens Kindheit gewesen sein muss. Seine Erinnerungen sind fester Bestandteil des Romans und helfen, die schwierige Vater-Sohn-Beziehung zu veranschaulichen. Diese Informationen machen Hagen sympathischer und sein irrationales Handeln nachvollziehbarer.

Die Leser*innen bekommen aber auch einen Einblick in Adanas traumatische Vergangenheit im Irak. Die Binnenerzählung, in der Adana aus ihrer eigenen Perspektive von ihrer Flucht berichtet, wirkt allerdings wie aus dem Roman herausgelöst. Durch die neutral und wenig emotional vorgetragene Binnenerzählung erhält man den Eindruck, es handle sich eher um eine Art Wikipedia-Eintrag als um eine individuelle Fluchtbiografie.

Brotz gewährt in seinem Roman realistische Einblicke in ein Dorfleben, wie es möglicherweise auch in manchen Gegenden Deutschlands zu finden sein könnte: Rechtsdenkende Wähler*innen, die sich gegen Flüchtlinge wehren, wohnen neben weltoffenen Bürger*innen, die sich für ein friedliches Miteinander engagieren. Damit erzählt Brotz am Puls der Zeit, verliert sich aber zunehmend in einer kitschigen Liebesgeschichte mit Happy End: Adana bekommt ihren Wunschstudienplatz für Psychologie und geht – den religiösen Geboten entgegen – eine Beziehung mit Hagen ein. Am Ende fliegen die beiden gemeinsam in den Irak, um endgültig mit Adanas Vergangenheit abzuschließen. Hagen, der trotz seiner hohen Schulden keine Privatinsolvenz beantragen muss und das Elternhaus behalten darf, bekommt ohne Studienabschluss ein sehr aussichtsreiches Jobangebot. Auch die anderen Geflüchteten im Dorf können ihre Träume verwirklichen: Sie sprechen nahezu perfektes Deutsch, bekommen Ausbildungsplätze und drohende Abschiebungen können verhindert werden. Die zunächst realistisch grundierte Geschichte endet in einer utopischen Wunschvorstellung.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Philipp Brotz: Die Ungleichzeitigen. Roman.
8 grad verlag, Freiburg 2023.
317 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783910228122

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch