‚Interview-Essays‘ mit obsessiv literarisch Schreibenden

Axel Helbig spricht mit Dichtern und Dichterinnen über Handwerk und Haltungen in „Der eigene Ton 3“

Von Paula C. GeorgesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Paula C. Georges

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Diese Gesprächssammlung erweist sich als Literaturgeschichte mit ostdeutschem beziehungsweise deutschsprachig-osteuropäischem  Schwerpunkt und als Kaleidoskop poetologischer und erzählmethodischer Überlegungen. Die jeweils detailgenaue Werkkenntnis des Interviewers Axel Helbig kreiert das hohe Niveau dieser Gespräche mit Literaturschaffenden, in deren Universen der Schreib- und Arbeitsprozesse wir Einblick bekommen und staunen über Fülle, Beharrlichkeit, Innovation, Formbewusstsein. Diese Dichter und Dichterinnen haben viel zu sagen, zu erzählen – von ihren Lebenserfahrungen, umfangreichen Recherchen, der Hingabe an ihre literarische Arbeit. Manche tauchen jahrelang ab, um dann Werke voll neuer Einsichten und Perspektiven präsentieren zu können.

Wie der Titel schon sagt, ist dies bereits der dritte Teil der Reihe „Der eigene Ton. Gespräche mit Dichtern“. Band 1 und 2 sind 2007 und 2015 erschienen. Manche der in Band 3 Interviewten wurden bereits in den früheren Bänden zum Teil umfangreich befragt.

Die Auswahl seiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner begründet Axel Helbig mit der subjektiven „Ungeklärtheit“ seiner Position als Leser. Deren Werke hätten ihm etwas „abverlangt“, ihn „verunsichert“ (so im Vorwort zu Band 1).

Axel Helbig lebt selbst als Autor, Herausgeber und Redakteur der Zeitschrift Ostragehege in Dresden.  Die Stadt Dresden, ihre Nachkriegsgeschichte der verborgenen kulturellen Parallelgesellschaften und versteckten hinteren Bibliotheken,  ihre Gegenwart im lärmenden Diskurs „pauschalen Dagegenseins“ (Drawert) stehen im Zentrum der besprochenen Romane von Marcel Beyer (Kaltenburg, 2008), von Ingo Schulze (Die rechtschaffenen Mörder 2020) Kurt Drawert (Dresden. Die zweite Zeit, 2020), und Anne Dorns „hüben und drüben“, der erst 1990 als Fortsetzungsroman in einer Dresdner Tageszeitung erscheinen konnte. Für den desinteressierten Westen sei Dresden weiter weg als New York gewesen.

Besonders anschauliche Eindrücke vom Leben und den Zweifeln unangepasster Literaten in der  DDR finden sich in den Gesprächen mit Andreas Reimann und mit Uwe Kolbe. Die „Zerstörungs- und Zermürbungsarbeit“ der Observation (Peter Geist), die Kapriolen einer unberechenbaren Zensur, die „Maulkorbfunktion“ (Kolbe) des  Antifaschismus,  das Schweigen und der Zynismus der  Intellektuellen angesichts ihrer Kenntnis der stalinistischen Verbrechen. So analysiert Uwe Kolbe in seinem Brecht-Essay dessen Lüge vom „faschistischen Putsch“ vom 17.6.1953. 

Vermutlich auch als Gegenbewegung hinaus aus dem verordneten eindimensionalen Materialismus zu erklären ist Uwe Nösners essayistisches Interesse an der „Geschichte der theosophischen Ideen“ (erschienen 2016).

Kurt Drawert versucht in seiner DDR-Romantrilogie unterschiedliche erzählerische Bewältigungsformen, um der verleiblichten Wörtermacht aus der erlebten „Erziehungsdiktatur“ zu entkommen.

Parabolisch seziert Franz Hodjak das extrem absurde Leben und seine „Scheinwirklichkeit“ in der rumänischen  Geheimdienstdiktatur, die vom Westen lange verharmlost worden sei. Das Gespräch mit ihm ist Fortsetzung und Ergänzung eines ausführlicheren Gespräches von 2002 in Band 1, nachdem die Securitate-Akten der rumäniendeutschen Autoren zugänglich geworden waren.

„Die Unvereinbarkeit von totalitärer Macht und freiem Geist“ ist das Lebensthema von Hans Joachim Schädlich, der seit Jahrzehnten in akribischer Recherche auch historische Stoffe unter diesem Blickwinkel faktisch wie fiktional durchleuchtet. Frappierend entheroisierend ist zum Beispiel die novellistische Darstellung von „Voltaire bei Friedrich II.“: das Malträtieren eines ‚freiberuflichen‘ Schriftstellers als Hofnarr durch einen enthemmten absolutistischen Herrscher.

Mit  dem „Übersetzen von Schweigen in Sprache“ beschäftigen sich auch die Romane von Ulrike Draesner: in „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“ (2014), einer doppelten Vertreibungsgeschichte von Deutschen aus Polen und von Polen aus Ostpolen (heute Ukraine) und in ihrem „Schwitters“-Roman (2020) über die Sprachlosigkeit und erzwungenen „Selbstübersetzung“  des exilierten Künstlers.

Immer wieder durchziehen Fremdsein und Erinnerungsvarianten als Motive die Gespräche: die „fremde Sprache“ wird aber auch zum Movens für Selbsterfahrung. Francesco Micieli, Italiener albanischen  Ursprungs, versucht, den Sound des Arbëresh, seiner mündlichen Kindheitssprache, ins Deutsche hinüber zu komponieren. Für die in Buenos Aires geborene Maria Cecilia Barbetta ist die Unklarheit des Erzählten programmatisch, um für die traumatische Zeit am Vorabend der argentinischen Militärdiktatur eine Sprache zu finden. Als Vorbereitung ihres Armenien-Romans „Hier sind Löwen“ (2019), der eine „Bildungsreise“ (Helbig) für die Lesenden sei,  absolvierte Katerina Poladjan, geboren in Moskau, sogar ein Praktikum zur Buchrestauration, um die Ebenen und „Leerstellen“ der Erinnerung anhand einer alten Familienbibel möglichst bildhaft und präzise werden zu lassen: eine universelle Geschichte von Flucht und Verfolgung in einem etwas „märchenhaften“ Ton. „Leichtigkeit“  entstehe erst nach  dreißig-bis vierzigmaliger Überarbeitung.

Der tschechische Schriftsteller Jaroslaw Rudiž, der in seiner Romansuada  Winterbergs letzte Reise (2019) versunkenes Wissen über die Geschichte Europas in einer „irren Zugfahrt“ hörbar macht,  schreibt sowohl deutsch als auch tschechisch. Eine Art Synopsis und Dramaturgie, zunächst in der Fremdsprache Deutsch, verhelfe ihm zu größerer Klarheit.

Jenseits des „romanbesoffenen Literaturbetriebs“ mit seinen ausgedachten Figuren (Marcel Beyer)  werden Zwitterformen zwischen Essay und Roman, fiktionale Essays, erprobt. Andere betreiben aufwändige Vorarbeiten, um Figuren mit spezifischer Sprache erschaffen zu können.

Vor allem sprachexperimentell ziseliert und jenseits einer psychologischen Diktion  arbeiten in ihren lyrischen Texten Ann Cotten, Zsuzsanna Gahse, Hendrik Jackson: „Fremdwörtersonette“ (Ann Cotten), poetische „Hologramme“, um ein sprachliches „Flimmern“ zu erreichen (Zsuzsanna Gahse), „Panikraum. 3 Erkundungen“ zur Erforschung eines disparaten Ichs (Hendrik Jackson). Der Betreiber der website www.lyrikkritik.de bezweifelt einen anzustrebenden „eigenen Ton“, es gebe nur Einflüsse, „existentielle Positionen“  kämen als „altmodisch“ zu kurz, der Autor sei etwas „Gemachtes“. Postmoderne Dekonstruktionstraditionen klingen an.

Die abseits und untergründig vom realsozialistischen Herrschaftsdiskurs sich entwickelnden (selbst)ironisch genannten „Dichterschulen“ und „Avantgarden“ in der DDR  scheinen die zeitgenössische Lyrikproduktion und  -diskussion nicht unerheblich mitgeprägt zu haben, besonders im Umfeld der Berliner Szene und des Leipziger Literaturinstitutes (zum Beispiel als Faszination für Elke Erb).

Mächtige Werke antiker Vergangenheit haben Raoul Schrott und Viktor Kalinke durchforstet und sie wissenschaftlich und poetisch für die Gegenwart lebendig werden lassen. Raoul Schrott versenkt sich in die Neuübersetzungen des Gilgamesch-Epos, der Theogonie von Hesiod, der Ilias und stellt gemeinsame Mythenursprünge mit der Bibel fest.  Viktor Kalinke widmet sich als Nicht-Sinologe aufwändigen altchinesischen Studien, unter anderem der in mehrdeutigen Lese-Schichten edierten Neuausgabe des daoistischen Zhuangzi, dessen Freiheitsbegriff nicht als staatstragende Ideologie zu missbrauchen sei.

Diese Zhuangzi-Neuedition hat mich besonders neugierig gemacht. Fernab der Macht beginne ich zu lesen…

Titelbild

Axel Helbig: Der eigene Ton 3. Gespräche mit Dichtern.
Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2023.
322 Seiten , 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783866602991

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch