Der Ekel in der Kultur
Winfried Mennighaus' differenzierte Geschichte einer starken Empfindung
Von Geret Luhr
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDa du doch schwarze Zähne hast, mit Runzeln hohes
Alter dir die Stirne furcht
und weitauf klafft so scheußlich zwischen dürren Backen
der Hintern wie bei einer magren Kuh!
Doch es erregt vielleicht der Busen mich? Die Brüste welk
wie Stuteneuter!
Der schlaffe Bauch, die Schenkel, strotzenden
Waden dürre angefügt?
Ausdrücklich vermerkt Horaz in dieser selten erwähnten übersetzten Epode, welche Empfindung er mit ihr illustrieren wollte: den "Ekel". Zu dem vom Dichter aufgerufenen Topos der sogenannten "vetula" - der alten Frau als Inbegriff des Ekels - gehört ferner ein "übler Geruch", vor allem aber ein unersättlicher sexueller Appetit auf junge Männer. Auf das vermeintlich unzweideutige Ansinnen der "vetula" reagiert das lyrische Ich bei Horaz deshalb mit einer kaum zu überbietenden Geringschätzung: "Damit du ihn mir hochholst von den stolzen Hoden", heißt es da, "mußt mit dem Munde du dich mühn!" Ist aber der Mund nicht eben noch als besonders widerlich bezeichnet worden? Ob hier, wie es scheint, die geheimen Wünsche des Mannes auf die Frau projiziert werden oder nicht: Offenbar geht gerade von dem als ekelhaft Verworfenen eine starke sexuelle Anziehungskraft aus. Oder in psychoanalytischer Terminologie ausgedrückt: in den Abwehrbildungen kehrt das Abgewehrte wieder.
Egal ob in Anthropologie oder Evolutionstheorie, Psychoanalyse oder empirischer Psychologie: immer wird der Ekel zu den elementaren menschlichen Gefühlen gezählt. Gleichwohl ist eine Geschichte des Ekels bisher nicht geschrieben worden. Deshalb hat sich der Berliner Literaturwissenschaftler Winfried Menninghaus in seiner Ekel-Studie darauf beschränkt, die maßgeblichen Theoretisierungen des Ekels der vergangenen 250 Jahre zu untersuchen. Nur im Medium dieser Theorien, erklärt Menninghaus, habe er einige Bruchstücke der weitgehend stummen Geschichte des Ekels zugänglich machen können.
Die meisten der behandelten Texte werden hier zum ersten Mal als Beiträge zu einer Theorie des Ekels gelesen. Daß das Sinnbild des Ekelhaften in ihnen - von Kant über Nietzsche, Freud, Kafka und Bataille bis zu Kristeva - weiblichen Geschlechts und hohen Alters ist, ist insofern nur eine der unzähligen Entdeckungen dieser Studie. Davon ausgehend kann Menninghaus jedoch zeigen, daß die Grundlegung der modernen Ästhetik um die Mitte des 18. Jahrhunderts aus dem Verbot des Ekelhaften resultierte. Denn für das, was die Klassiker neben den kanonisierten Plastiken und Statuen aus antiker Zeit unsichtbar zu machen versuchten, benutzten sie immer wieder die gleiche Chiffre: die für alles Tabuierte einstehende, ekelhafte alte Frau. Diese Frau und ihr als grotesk beschriebener Körper fungierten als negativer Gegenpol des Mannes, dessen Köper als zivilisiert, hygienisch und in seinen elementaren Verrichtungen streng reglementiert dargestellt wird.
Während die Aufklärung die Erziehung zum Ekel als Fortschritt der Menschheit und der Zivilisation feiert, entdecken das 19. und das frühe 20. Jahrhundert die Kosten dieser Erziehung sowie die verbotenen Reize des Ekelhaften. Ende des 20. Jahrhunderts schließlich wird die Erziehung zum Ekel selbst in Frage gestellt. Menninghaus diagnostiziert in der Gegenwartskultur eine Obsession für das Ekelhafte. Ob in Bezug auf die Kinder-, Jugend- oder Erwachsenenkultur: sein Buch ist auch eine Studie über aktuelle Phänomene. Die Treffsicherheit seiner Gegenwartsanalyse beruht jedoch auf dem theoretischen Fundament, das er sich in der Auseinandersetzung mit den überlieferten Texten und Theorien erwirbt. Im Mittelpunkt stehen dabei die Arbeiten Sigmund Freuds.
Die Ekel-Theorie, so kann Menninghaus zeigen, ist integraler Bestandteil der Freudschen These von der "Emergenz des aufrechten Ganges und der zivilisierenden Verekelung der analen Lust und des Riechens an den Genitalien." Der leitende Sinn für die Sexualität beim Tier sei der Geruch, schrieb Freud bereits 1897 an Wilhelm Fließ, und nur solange der Geruchssinn herrsche, wirkten Harn, Kot und die gesamte Körperoberfläche als sexuell erregend. Durch den aufrechten Gang des Menschen verliere der Geruch jedoch an Bedeutung, wodurch die orale und anale Libido dem Ekelgebot verfallen. Denn nach Freud gilt für jeden Kulturprozeß das Gesetz, "daß eine vorangegangene Stufe eben deshalb, weil sie von der höheren überwunden und zurückgedrängt wird, nun neben dieser in erniedrigter Form fortbesteht, so daß die Objekte ihrer Verehrung in solche des Abscheus sich umwandeln." In diesem Sinn definieren die Ekelschranken schließlich die verdrängten Triebregungen, über die die Libido jedoch immer wieder triumphieren muß: denn nur durch das Ausleben "perverser" Praktiken könne eine strukturelle Neurotisierung innerhalb der Kultur verhindert werden. "Alle Rhetoriken der notwendigen Befreiung des Verekelten, der desublimierenden Gegenbewegung gegen die triebsublimierende Zivilisation", so Menninghaus, "gründen in Freuds nostalgisch eingefärbter Erzählung vom untergegangenen Kontinent analer und verekelter Lüste; eine Erzählung, die am Anfang seiner psychoanalytischen Erfahrung steht und seiner gesamten Theoriebildung eingeschrieben bleibt."
Für den komplexen psychischen Vorgang der Wiederkehr der verdrängten Lüste findet Freud immer wieder rhetorisch glänzende Formulierungen. In Bezug auf die Lage der Genitalien "inter urinas et faeces", schreibt er: "Man könnte hier, ein bekanntes Wort des großen Napoleon variierend, sagen: die Anatomie ist das Schicksal. Die Genitalien selbst haben die Entwicklung der menschlichen Körperformen zur Schönheit nicht mitgemacht, sie sind tierisch geblieben, und so ist auch die Liebe im Grunde heute ebenso animalisch, wie sie es von jeher war." Der "oft genug trügerischen Simplizität des Stils, mit der Freud noch seine spekulativsten Theoreme vortragen konnte", erliegt Mennighaus jedoch nicht. Vielmehr gelingt es ihm, aus einer distanzierten Position heraus in die tieferen Schichten der Texte Freuds einzudringen. So steht am Ende die genaue Interpretation von Freuds Dienstmädchentraum, die mit einem überraschenden Ergebnis aufwartet: die häßliche, geile Alte, Freuds "vetula", wird nicht mehr als Dämon und Hexe verteufelt, sondern als "Relikt einer älteren Lustreligion in dankbarem Andenken verehrt." Am Ende steht aber auch die Erkenntnis, daß die empirische Psychologie bis heute nicht über Freuds Interpretation des Ekels in der Kultur hinausgelangt ist.
An Freud scheint auch Kafka angeknüpft zu haben, bei dem Freuds Dienstmädchen "Resi" auf geheimnisvolle Weise unter gleichem Namen wieder auftaucht. Und doch liegt bei Kafka alles viel schwieriger. Um in Kafkas Ekel-Kosmos einzudringen, benötigt Menninghaus nicht weniger als150 Seiten: die allein jedoch machen das Buch zu einer Pflichtlektüre. Lange nicht ist über Kafka so viel Erhellendes mitgeteilt worden, Menninghaus scheint gar einige der scheinbar unlösbaren Rätsel der Kafkaschen Existenz gelöst zu haben. Neben Kafkas Ekel-Kunst, der es gelingt, die Präsenz des Ekelhaften unsichtbar zu machen, erkennt Mennighaus jedoch die Folterobsession Kafkas als konstitutiv für dessen Poetik. Folter als "Sprachfindung", das ist die provozierende wie einleuchtende These von Menninghaus
Wer sich bei dem Prager Schriftsteller derart zurechtfindet, den kann auch das Werk Julia Kristevas nicht mehr schrecken, dessen Analyse die Studie abschließt. In Kristevas sehr erfolgreichem "Versuch über die Abjektion" erkennt Mennighaus vor allem ein Paradox: das Buch handele "von dem verdrängten Heterogenen, Unassimilierbaren, Nicht-Totalisierbaren des mütterlichen Körpers" und leiste, "indem es die gesamte Geschichte des Subjekts und der kulturellen Objektivationen als das Prozessieren dieser Leitreferenz" auslege, selbst eine geradezu exemplarische Totalisierung. Für solche großen Thorie-Entwürfe sei die Zeit offenbar wieder bereit. Jedenfalls kehre im vermeintlichen Zeitalter des Virtuellen das Reale vornehmlich als das Ekelhafte zurück. Da Winfried Mennighaus ein Autor ist, der zwar der zitierten Horaz-Epode einen Reiz abgewinnen kann, aber nicht einem "splatter video", das verbissen auf das nur noch rudimentäre Tabugefühl seiner Zuschauer eindrischt, muß sein Urteil über die Gegenwart kritisch ausfallen. Wird das Ekelhafte ein für allemal den Sieg über die Idealisierung der Form davontragen? Nein, denn da wir einen einzigen Dauerreiz nicht ertragen könnten, würden die Menschen schon dafür sorgen, daß weiterhin "neue Konjunktionen des Schönen und des Ekelhaften, des Ekelhaften und des Schönen" entstehen.
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