Zeitdenken und sprachliche Verdichtung
Über das Schreiben von Peter Rosenthal
Von Susanne Zepp-Zwirner
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseKürzlich ist eine der ersten literarischen Historisierungen der Covid 19-Pandemie erschienen, die sehr viel mehr Aufmerksamkeit verdient hätte, als ihr bislang zugestanden wurde. Der Arzt und Schriftsteller Peter Rosenthal hat 2022 mit dem Buch Impfnovelle eine kleine Geschichte der Stadt Köln während der Pandemie vorgelegt. Dabei geht es ausgehend von den Erfahrungen des Autors als Impfarzt auch um den Versuch, eine Sprache für jene so eigene Zeiterfahrung zu finden, die mit diesen Jahren des globalen Gesundheitsnotstands verbunden war. In den Fahrten mit dem Fahrrad durch die Stadt im Lockdown, aber auch im Impfalltag begegnen dem Erzähler immer wieder Fragmente deutscher Geschichte:
Einen anderen Impfling, Herrn Professor Soundso, fragte er, in welchem Fach er seinen Lehrstuhl habe. Er war Historiker in Rente und bereitete eine Arbeit über die Geschichte der Fakultät der Stadt vor. ‚Auch über die medizinische Fakultät?‘, fragte er. ‚Natürlich‘, erwiderte der Professor. Und besonders interessieren würde ihn das anatomische Institut und die Provenienz seiner menschlichen Präparate aus den Jahren 1933-1945. (Impfnovelle, S. 14 f.)
Diesen Momenten setzt der Roman eine erneute Entdeckung der Kölner Gegenwart durch den personalen Erzähler entgegen:
Unterwegs zu den unterschiedlichen Einsätzen fuhr er meist mit dem Rad quer durch die Stadt, seine eigene Stadt, dies- und jenseits des Flusses durch Orte, die er zuvor nie gesehen hatte. Es waren Heime für Obdachlose, oder Asylsuchende. Sie waren meist, ja, am Rande der Stadt…, Unterkünfte auf Zeit in baufälligen Gebäuden, auf Grundstücken über denen schon die Augen der Immobilienspekulanten kreisten. Andererseits waren es auch fast idyllisch anmutende Gegenden, welche sich etwas außerhalb, zwischen künstlichen Grünanlagen, Tankstellen, Baumärkten und Straßenkreuzungen versteckten. (Impfnovelle, Seite 36 f.)
In ihrer Zeitkritik und in ihren literarischen Verfahren schließt Rosenthals Impfnovelle an seine bisherigen literarischen Werke an, sind doch Zeitbewusstsein und historische Erfahrung stets Gegenstände der Texte, die er in den letzten beiden Jahrzehnten veröffentlicht hat. Schon 2001 hatte Andreas Kilcher in seiner Rezension des ersten, damals im Igel Verlag Osnabrück erschienenen Romans von Peter Rosenthal Entlang der Venloer Straße in der Neuen Zürcher Zeitung auf die ganz eigene Art der literarischen Verflechtung verschiedener Orte, Zeiten und Sprachen hingewiesen. Die Reflexion über den Weg des Erzählers aus Rumänien nach Köln ist in Entlang der Venloer Straße in der Form eines Briefromans im Tagebuchstil gehalten. Der Ich-Erzähler versprachlicht seine Kölner Erfahrung in Dialog mit einem Jugendfreund, der aus Rumänien nicht nach Deutschland, sondern nach Israel gelangt ist, dort seine säkulare Existenz als Informatiker hinter sich gelassen hat und sich nun dem Thorastudium widmet. Die Antworten des Freundes gibt der Roman nicht wieder. Davon unbenommen unternehmen die Briefe des Romans den Versuch, dem Freund das eigene Leben nahezubringen:
Februar 1997: Du lebst jetzt in Jerusalem und ich in Köln. Die Bilder der Kindheit in Rumänien sind in mir wie kleine Steine auf einen Faden gereiht, den ich auf der Venloer Straße weiterspinnen werde, um ihn mit anderen Bildern zu bereichern. Dann kannst Du Dir vorstellen, wie ich in meiner neuen Heimatstadt lebe. Auf meinem täglichen Fahrradweg zur Arbeit möchte ich Dich durch Köln lotsen. Dieser Weg liegt auf einer Geraden, die den Kölner Dom, die türkische Moschee an der Inneren Kanalstraße und die Synagoge in Pulheim verbindet. Diese Linie kann man erahnen, wenn man sich die Mühe macht, auf den Kölner Dom zu steigen, und dann nach Westen schaut. Wahrscheinlich bin ich unter den vielen Besuchern des Doms dennoch mit dieser Perspektive alleine, und deshalb werde ich Dir darüber schreiben. (Entlang der Venloer Straße, S. 8)
Dieser Ankündigung, den Freund durch die Topographie der Stadt zu führen, folgen über die folgenden vier Jahre datierte Briefe, in denen in behutsamer und zugleich eindringlicher Weise stets auch die Frage nach der Darstellbarkeit jüdischer Geschichte in deutscher Sprache gestellt wird. Was dabei das Schreiben von Rosenthal in Entlang der Venloer Straße, aber auch in allen anderen seiner bislang veröffentlichten Texte ausmacht, ist der Umstand, dass Zeit und Erzählung in ihrer wechselseitigen Bezugnahme zum Ausdruck gebracht werden. Diese wechselseitige Bezugnahme wird jedoch nicht in Form eines ausladenden Familienromans, in Form eines linearen Narrativs mit Anfang, Mitte und Ende, sondern in aneinandergereihten, verdichteten kleineren Formen zum Ausdruck gebracht. Die knapp gehaltenen Fragmente verschiedener Zeiten werden nicht nur chronologisch, sondern zuweilen auch in jener Gleichzeitigkeit verknüpft, wie sie das menschliche Gedächtnis ebenfalls erlaubt. Darauf scheint auch das oben zitierte Bild der Kindheitserinnerungen, die „wie kleine Steine auf einen Faden gereiht“ in der Gegenwart weitergesponnen werden, zu verweisen. Zugleich beschreibt das Bild auch die Makrostruktur von Rosenthals Texten.
Als Arzt weiß der Autor um die Komplexität jener semantisch-kognitiven Beziehungsgefüge, welche die Wissensorganisation im menschlichen Gedächtnis ausmacht. Als Schriftsteller arbeitet Rosenthal in einer Weise mit der Sprache, die nicht nur Diagnose und Befund, sondern genuin literarisch ist. So gilt für dieses Werk insgesamt, was eingangs schon für den jüngsten Roman konstatiert wurde: Eben weil diese Texte in Form und Gehalt jenseits der Routinen ausladender Familiengeschichten geschrieben sind, vielmehr kognitive Erinnerungsräume in sprachlich eindringlichen, aneinandergereihten Fragmenten markieren, ist dieses Werk von Relevanz für unsere Gegenwart. Denn Rosenthals Texte fordern eingeschliffene Vorstellungen romanesker Familiengeschichten heraus, ohne sich von Traditionsbezügen zu lösen. Dies gilt für die Formgeschichte ebenso wie für das Zeitdenken, das in dieser Form aufgehoben ist.
In ihrem Arrangement „wie kleine Steine auf einen Faden gereiht“ und in ihrer Kompaktheit erinnern die Textabschnitte in Rosenthals Romanen, aber auch die Gedichte aus dem 2018 erschienen Band Ehrenfeld Alphabet, an den Zusammenhang von Franz Kafkas Zürauer Aphorismen. Dass diese Texte eng mit Kafkas Tuberkulose-Erkrankung verbunden sind, macht sie nicht zuletzt als Bezug für die Impfnovelle plausibel. Zumindest würde dieser intertextuelle Bezug erlauben, den Wechsel vom stärker autobiographisch konturierten Ich-Erzähler in den vorherigen Romanen zu einem selbstreflexiv-personalen Erzähler in der Impfnovelle nachzuvollziehen. In seinem Eintrag zu den Zürauer Aphorismen im Kafka-Handbuch charakterisiert Manfred Engel die aphoristische Schreibweise des Prager Schriftstellers als eine „Alternative zur Selbstbeobachtung im Tagebuchstil“. (Kafka-Handbuch, S. 288) Während Rosenthals Debütroman Entlang der Venloer Straße und auch der 2013 veröffentlichte Roman In die Zeit fallen Selbstreflexionen in der ersten Person versprachlichen, ist das Textsubjekt in der Impfnovelle in die dritte Person transponiert.
Doch die Bezüge auf Kafka im Schreiben Peter Rosenthals beschränken sich nicht auf diese Distanzierungstechnik, sondern finden sich auch in der sprachlichen Verdichtung und Verkettung der einzelnen kurzen Textteile. Für die Aphorismen hat Manfred Engel herausgearbeitet, dass Kafka seine kurzen Texte auch als „Spruch“ bezeichnet hat, was „sowohl auf die Bibel (Buch der Sprüche) wie auch auf die talmudische und chassidische Tradition des ‚māšāl‘ verweist und damit einen weiteren Textraum von Anregungsmöglichkeiten eröffnet.“ (Kafka-Handbuch, S. 284). So kann auch die Verbindung von Kürze und formaler Geschlossenheit in Rosenthals Texten als Vergegenständlichung einer jüdischen Geschichtserfahrung verstanden werden, die sich allen Formen von Essentialisierungen widersetzt, und eben auch der Totalität einer kollektiven Autobiographie, die Familien- und Generationenromane beanspruchen. So wird das Schreiben in Rosenthals 2013 erschienenen Roman In die Zeit fallen wie folgt charakterisiert:
Die Sehnsucht zu schreiben war etwas, was eng mit meiner jüdischen Herkunft verbunden ist. Versuchte den Spagat, mir selbst als Juden treu zu bleiben und stets nach jenem Anderssein zu trachten, das sich zwischen der Welt des Glaubens und jener der Assimilation, also über die Abgründe der jüdischen Geschichte, nicht erst nach der Shoa spannt, im Schreiben zu vollziehen und der wachsenden Ferne von der Schrift und von der Tradition auf dem Umweg des Schreibens entgegenzutreten. Es war diese Art der Ambivalenz zwischen Nähe und Ferne, Annäherung und Entfernung, zwischen tiefer innerer Bekenntnis und äußerlichem radikalen Wandel, zwischen Ost und West, die mich schon aus meiner Geburtsstadt Arad bis nach Köln und nach Jerusalem begleitet hatte. Es ist diese Ambivalenz, die mich im Verborgenen zu schreiben antreibt. Das, was in Wirklichkeit keinen oder einen falschen Sinn ergibt, scheint sich auf dem Papier selbst zu erklären. (In die Zeit fallen, S. 116)
Dass diese Klärungsarbeit mit Kafka verbunden ist, zeigt eine Passage aus dem Roman In die Zeit fallen, wenn der Autor von seinem Schulschwänzen im Café Wahlen am Hohenzollernring berichtet:
Das Café gibt es noch, auch die Savarin, sogar den Tisch, an dem ich eines Morgens statt zur Schule zu fahren ‚Die Verwandlung‘ von Franz Kafka aus dem Schulranzen zog. Satz für Satz wurde ich dort lesend ein anderer, ein anderes Ich. Ich wuchs mit Gregor Samsa, und die Welt um mich herum wurde groß und hell, die Sahne, die Glut der Zigarette, alles. Die Zeit schien mal zu rasen, mal zu stehen, alles um mich herum löste sich auf in eine gigantische Miniatur, alles verlor an Bedeutung, indem es bedeutungsvoll wurde. (In die Zeit fallen, S. 127)
Es sind spezifische Verknüpfungen dieser Art, die deutlich machen, wie sehr die Mikrostruktur auf die Makrostruktur der Texte von Rosenthal verweist. Hier wird ein genaues Bewusstsein für die temporale Repräsentation deutlich, also den Versuch, durch zeitlich strukturierte Repräsentation von Ereignissequenzen eine besondere Affinität zur Zeiterfahrung in der Lebenswelt herzustellen. Dabei ist die damit verbundene Arbeit an der Sprache, die in Rosenthals Darstellungsverfahren offenbar wird, einer vergangenen Geschichtserfahrung geschuldet, die mit Vielsprachigkeit verbunden war:
Schon vor der Regentschaft der Maria Theresia hatten die österreichisch-ungarischen Monarchen die günstigen Klimabedingungen für den Gartenbau am Marosch erkannt und ließen schwäbische Gärtnerfamilien ins Land kommen. Mit den Siedlern fasste die deutsche Sprache Wurzeln in dieser Gegend. Wohl eben zu dieser Zeit verbreitete sich die deutsche Sprache auch in der Bukowina, der Heimat Deiner Eltern, dort hauptsächlich durch den Zustrom jüdischer Familien. […] Die Gegenden an Marosch und Prut – im Banat und in der Bukowina sind heute ruhiger, und ihnen ist mehr gemeinsam, als dass ihre Städte Arad und Czernowitz an diesen Flüssen in die Kukurutzfelder gebettet sind, von denen Rose Ausländer in den Gedichten über ihre Kindheit in Czernowitz schreibt. Es sind beides vielsprachige Gegenden mit romanischen, slawischen, deutschen und türkischen Einflüssen, die allesamt von einer reichen Geschichte zeugen. Heute gilt für beide, was Paul Celan über die Bukowina gesagt hat, dass sie eine der ‚Geschichtslosigkeit anheim gefallene Provinz der ehemaligen Habsburgermonarchie‘ sei. Der Banat ist es auch. In der Geschichte dieser ‚Geschichtslosigkeit‘ stehen zuoberst die Unfreiheit, die Armut und die Zerstörung, aber auch die Mehrsprachigkeit. Das Sprachenbabel prägt unsere Banater und Bukowina Gegenden, die seit Jahrhunderten Grenzgebiete waren. Ist es so, dass sie auch nach dem Zusammenbruch des Ostblocks als vereinsamte Splitter der österreichisch-ungarischen Monarchie am Wegrand der Geschichte bleiben werden? Bedeuten sie uns nicht doch mehr als nur Erinnerung? (Entlang der Venloer Straße, S. 12)
Aus dieser Erfahrung wird im Roman In die Zeit fallen die Hoffnung, im Deutschen diese Mehrsprachigkeit zum Klingen zu bringen:
Rumänisch habe ich zwar nicht vergessen, aber eine wirkliche Muttersprache ist es nicht mehr und strenggenommen auch nie gewesen. Ungarisch noch viel weniger, obwohl ich es mit meinen Großeltern sprach, die im Banat zur ungarisch sprechenden Minderheit gehörten. Leider bin ich in dieser Sprache ein Analphabet. Deutsch kam in der Schule hinzu und blieb tatsächlich, nach der Umsiedlung nach Köln, meine Erstsprache, aber alles in allem versuchte ich mir einzureden, dass die Mehrsprachigkeit meine Muttersprache ist. Schade eigentlich, dass man nicht in mehreren Sprachen gleichzeitig schreibt, es würde mir wahrscheinlich entgegenkommen, andererseits würde sich der eigene Abstand von dem, was auf dem Papier kommt, verringern, was wiederum der Gestaltung nicht zuträglich wäre. So bleibt einem die Kunst, stets neues Terrain zu erobern, sich immer mehr in etwas zu beheimaten, was ehemals fremd war, in der Hoffnung, dass es mit der Zeit zwar vertraut, aber doch immer wieder neu erscheint. (In die Zeit fallen, S. 117)
Zeit- und Spracherfahrung sind hier auf das Engste verbunden, und zugleich Ausdruck einer Selbstreflexion, welche die Differenz zwischen dem Eigenen und dem Anderen im Inneren des Textsubjekts verortet. Rosenthals anti-essentialistisches Werk schließt an eine Tradition kosmopolitischen, formbewussten Schreibens über jüdische Geschichtserfahrung in deutscher Sprache an. Wie im eingangs zitierten Gespräch mit einem pensionierten Historiker im Impfzentrum gehören zu den Zeitenräumen der Stadt Köln, die in den Texten von Rosenthal sondiert werden, immer wieder auch die Spuren des Zivilisationsbruchs. Im Debütroman finden sich diese Spuren schon bei der Ankunft in der Stadt, am Kölner Hauptbahnhof:
Bei der Ankunft merkt ein aufmerksamer Gast, dass es hier mit der Erinnerung nicht so einfach ist. Dafür steht eine einzelne Eisenbahnschiene, die Teil eines Werkes von dem Künstler Dani Karavan aus Tel Aviv ist. Es hat den Titel ‚Ma’alot (Stufen), Gras, Bäume, Ziegelsteine, Granit, Gusseisen, Eisenbahnschiene.‘ Diese Eisenbahnschiene zeigte auf den Dom und führte zum Rhein, würde sie nicht von schwarz-weißen, gusseisernen Stufen unterbrochen. So treffen sich hier unter den Türmen des Doms zwei Eisenbahnstrecken: die täglich befahrene und die einzelne Schiene der Erinnerung – Erinnerung an den Weg in die Vernichtung. (Entlang der Venloer Straße, S. 16)
So zeichnet Peter Rosenthal sowohl die Topographie jüdischer Geschichte wie auch die ihrer Vernichtung im Stadtbild Kölns nach – und ergänzt sie um Darstellungen jüdischer Gegenwart und Zukunft im Severinsviertel und darüber hinaus. Dieses „lebendige Gewebe der Hoffnung auf eine Zukunft in Köln“ (In die Zeit fallen, S. 36) markiert die eigene Temporalität im Schreiben Peter Rosenthals, in der im Raum der Stadt über die Vergangenheit stets auch die Gegenwart erschlossen wird. Der 2018 erschienene Gedichtband Ehrenfeld Alphabet buchstabiert diese Spurensuche von A bis Z aus. Als ersten Eintrag unter „A“ findet sich das Gedicht „Ameisenhotel“:
Wo früher in der Körnerstraße
Eine Synagoge stand,
Lehnt sich ein Ameisenhotel
(in keinem Reiseführer erwähnt)
An das was blieb: einen Bunker.
Weiter in Richtung Venloer Straße
Stehen überflüssig gute Ideen Schlange:
Kleider aus Industriematerial,
Hühner im Schaufenster,
Vitrinen mit der Banane versehen,
Und die Bar an der Ecke heißt
Nachtigall.
Auf dem Nachbargrundstück der Körnerstraße 93, an der bis zum November 1938 die nach Entwürfen des Architekten Robert Stern in den Jahren 1926 und 1927 erbaute Synagoge Ehrenfeld stand, hat sich der 1942 errichtete Hochbunker erhalten. Heute wird im Eingangsbereich des Hochbunkers Körnerstraße an die zerstörte Ehrenfelder Synagoge erinnert. Rosenthals Gedicht unternimmt jedoch mehr, als nur Gedächtnisspuren nachzuzeichnen: Es schreibt die Leerstelle der zerstörten jüdischen Geschichte Ehrenfelds in die Körnerstraße ein.
Aus Rosenthals Darstellungsverfahren wird ein Zeitdenken erkennbar, welches weniger die Vergänglichkeit des Moments als die Gleichzeitigkeiten im menschlichen Gedächtnis in den Blick nimmt, in denen sich das Vorher in ein Nachher zu verlängern vermag. Dies hält die in den Texten buchstäblich verräumlichte Geschichte Kölns frei von jeder Logik des Agonalen. Die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit, der rumänisch-jüdischen Familiengeschichte und der Gegenwart in der religiös wie kulturell vielfältigen Stadt Köln konkurrieren nicht miteinander, sondern erscheinen „wie kleine Steine auf einen Faden gereiht“, wie ein Bezugsgewebe.
In einer Zeit, in der sich verschiedene Geschichtserfahrungen gegeneinander ausgespielt sehen, erinnern die Texte von Peter Rosenthal daran, dass historische Unterscheidung nicht Hierarchisierung bedeutet, aber dass Urteilkraft und Zeitdenken auf das Engste miteinander verschränkt sind. Und dafür hat Peter Rosenthal eine der schönsten Formulierungen der Gegenwartsliteraturen gefunden, die zu Recht seinem 2013 veröffentlichten Roman den Titel gegeben hat: „Es war der Blick zurück in die andere Zeit von damals, der mir von Erinnerung zu Erinnerung die Sicht befreite: ich lernte in die Zeit fallen.“ (In die Zeit fallen, S. 132)
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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