Von vorn beginnen
Marlene Streeruwitz zieht eine düstere Bilanz für die Toleranz
Von Jörn Münkner
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseNeun Ortstermine ohne strenge Chronologie, aber mit präziser Rahmung. Da ist zunächst die Passagierkabine eines Transatlantikfliegers, gekoppelt mit der Abflughalle in Wien, von dort geht es in die Neue Tretjakow Galerie nach Moskau, dann in die Bleecker Street in Manhattan, weiter zur Scuola Grande di San Rocco in Venedig, zurück in die Bleecker Street, um in die Immigration Line im Flughafen von Newark und anschließend ins Museum of Jewish Heritage in Lower Manhattan zu wechseln. Der Exit aus dem Transit in Newark und die Fahrt vom Flughafen in den Big Apple markiert die achte Szene. In diese Passage des Hin und Her begibt sich Marlene Streeruwitz am 20. März 2023, als sie in Wien an Bord des besagten Fliegers geht. Flug OS089 führt sie nonstop nach Übersee, wo sie achteinhalb Stunden später landet. Sieben Wochen später kehrt sie am 12. Mai 2023 in die österreichische Kapitale zurück, wo die neunte und letzte Szene spielt. Die Rahmendaten der Reise sind also klar, der Besuch und der Aufenthalt in den USA mit den synchronen und erinnerten Stationen bieten den Anlass und den Hintergrund für kritische Gedanken der Reisenden über das Problem der Toleranz.
Die Atmosphäre und Dynamik in einer vollen EconomyClass als Ausgangsszenario zu wählen, ist clever. Die räumliche Enge, in der sich 360 Menschen miteinander arrangieren müssen, ermöglicht es, die Herausforderungen von Toleranz in medias res, ganz wirklichkeitsnah zu beschreiben: Wie sich die Passagiere akkomodieren und wie sie es über den Wolken miteinander aushalten. Streeruwitz trifft den Nagel auf den Kopf, wenn sie erkennt, die meisten würden versuchen, Contenance zu wahren, bei sich zu bleiben und den Sitznachbarn weitgehend zu ignorieren. Die Passagiere verbinde nichts miteinander. Nicht wirklich. Oder doch, der Vertrag mit der Fluggesellschaft, heil nach New York gebracht zu werden, der verbindet sie. Sie alle, Passagiere und Crew, bilden für die Dauer des Fluges geradezu eine Schicksalsgemeinschaft. Das Ganze, vorgebracht im Streeruwitz-Sound – nüchtern bis unterkühlt, Sätze mit Auslassungen, Leerstellenrede, >Vollbremsungen< im Textfluss, zur Kenntlichkeit entstellte Wörter, Sinnpuzzle, Besinnungsdrang – mag banal sein, ist es aber nicht. Nur die wenigsten Passagiere einer heterogenen Gruppe wie bei einem Langstreckenflug haben einen gemeinsamen Reisegrund. In der Regel treffen dort wildfremde Menschen aufeinander, die unausweichliche Nähe zwischen ihnen wird nicht moderiert, sie ist den Umständen geschuldet, die Wahrnehmung von Anderssein und Fremdheit zweifellos potenziert. Dass viele der so plötzlich in enge Nachbarschaft Geratenen Gegensätze voneinander trennen (Essensgewohnheiten, Medienkonsum etc.), ist klar. Dass sich die Fremden auch zwanglos näherkommen könn(t)en, weil sie Gemeinsamkeiten erkennen, ist ebenso Realität. Das Fremdeln in einem anonymen Massenzusammenhang jedenfalls grundiert den Auftakt im Flugzeugbauch. Ein Antidot hat Marlene Streeruwitz indessen aber auch parat, und zwar die lebenserhaltende Gewissheit, dass die Gegensätze zum Nachbarn, ob tatsächlich oder imaginiert, ausgeblendet werden müssen, wenn alle heil ans Ziel kommen wollen. Man muss sich dulden, Vorbehalte hintanstellen, die Eigenarten (und Spleens) des Anderen gelten lassen. Toleranz hält die Schicksalsgemeinschaft zusammen, Intoleranz gefährdet den Flug. Aber halt! Ist das schon Toleranz, wenn man den fremden Sitznachbarn einen Flug lang duldet? Wie lässt sich ein ganzer hürdenvoller Alltag mit dem Anderen aushalten, wenn kein so baldiger Zielort winkt, an dem sich >Auf Nimmerwiedersehen< zueinander sagen lässt?
Eine Reise in die USA ist eine Reise in das Land, dessen Gründung „die Frage der Toleranz und Intoleranz zum Mittelpunkt“ hat. Nicht nur die Situation im Großraumflieger, auch die Destination regen die Gedanken über das Dulden und Gewährenlassen anderer Meinungen und Vorstellungen an. Die Gründungsurkunde der USA wird vergegenwärtigt, vor allem das Postulat der Gleichheit aller und die Möglichkeit für jeden, auf seine Art glücklich zu werden, zudem die Vorsorge, dass niemand seine Macht missbrauchen kann, diese Grundrechte zurückzunehmen. So steht es da und so war es angedacht. Wie sieht es heute aus? Für Streeruwitz bestimmt ein Hegemonialitätsstreben das Dasein. Sobald es um die Macht geht, geht es um den Besitz an Körpern und Gütern, mithin um das Recht auf sich selbst, um Selbstbestimmung. Die Sklaverei in den USA ist Thema, es wird ein Bogen ins moderne Europa mit der strukturellen Erbschaft des römisch-katholischen Absolutismus geschlagen, nirgends ein Maß von Freiheit für die Menschen, das Toleranz ermöglicht, das Toleranz vielleicht sogar obsolet macht.
In Moskau kommt der österreichischen Galeriebesucherin beim Anblick eines Bildes die kommunistische Landesgeschichte in den Sinn, wieviele Menschen sind im Namen des Heilsversprechens der Revolution, des alles-besser-und-Gerechtermachens >verandert< und geopfert worden! Intoleranz allenthalben, gründliche Vernichtung der „NichtZuGehörigen.DerNichtGleichDenkenden“. Eine vergleichbare Erfahrung zeitigt die Vertiefung in die Bilderpracht in der Scuola Grande in Venedig, wo sich die katholisch sozialisierte Streeruwitz angesichts der grausamsten Folterdarstellungen von Heiligen den Botschaftsirrsinn der römischen Kirche vergegenwärtigt: „Alles Raunen der Kindheit wird zum lauten Gestöhne. Das Elend all dieser Gewalt. Durch alle Zeiten. Die Erziehung in diese Gewalt hinein. Ich ging hinaus. Ich wartete draußen. Ich ließ meine Erziehung zur Intoleranz hinter mir.“ Keineswegs nur die finsteren Unduldsamkeitsepochen machen die (Un)Möglichkeitsbedingungen von Toleranz deutlich, auch in den distinguierten Public Schools im United Kingdom sind Strukturen am Werk, die die Auslieferung der Schüler an die Macht der Institution bezwecken. Den jungen Schülern wird die Empathie(fähigkeit) ausgetrieben, nur so kann die privilegierte Gruppe der Absolventen der >totalen< Räson folgen und die Führungspositionen im Land besetzen. Schließlich eine Szene im Newarker Flughafen, wo eine Frau in der Immigration Line zusammenbricht. Nicht, dass ihr geholfen würde, sie wird isoliert und beargwöhnt, sich als Migrantin ins Land stehlen zu wollen. Migrantin, „eine Benennung, die Voraussetzung für höchste Intoleranzen des Politischen bedeutet“. Wie verfahren ist die Lage, wenn Menschen, vor Intoleranz auf der Flucht, in einen Staat wie die USA fliehen, auch wenn der das Ziel der Toleranz (längst) aufgegeben hat.
Streeruwitz‘ Gedankenspiele sind unsentimentale Analysen der (Un)Möglichkeit von echter und nachhaltiger Toleranz. Der Glaube an die Toleranz ist lebendig, das Gerede, es brauche die Toleranz nur die Vernunft, intensiv. Das alles erweist sich jedoch als heiße Luft, als billiger Trost, und – Streeruwitz hat recht – „als Blendwerk des Patriarchats“. Was wird, so die unnachgiebige, scharfe Infragestellerin Streeruwitz, wenn, wie zu erwarten, die Klimaprobleme intolerante Lösungen finden, wenn ein universaler Zugang zu sauberer Luft und klarem Wasser Desiderat bleibt, wenn die Ressourcen schwinden? „Wie soll das Heil der Gleichheit aller plötzlich ausbrechen“, wie lässt es sich auf Dauer sichern? So lange nicht jedem das Lebensrecht zugestanden und abgesichert ist, so lange bleibt Toleranz ein Feigenblatt für gute Absichten. Für kleine Ziele, etwa beim Langstreckenflug die Schicksalsgemeinschaft unterstützen, wird die Toleranz ausreichen. Was hilft dann, wenn weder Solidarität noch Zusammengehörigkeit, Gemeinschaftlichkeit und Mitgefühl zu wirksamer Toleranz führen können? Vielleicht die Liebe, so wie Streeruwitz es überlegt: „Eine Welt, die wir alle als Überlebende der geschichtlichen Schrecken in Liebe teilen mögen.“
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