Ein Plädoyer zum „anders lesen“

Ruth Klügers literaturwissenschaftliche Aufsätze zu ihren zwei Lebensthemen in einem Band

Von Linda MaedingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Linda Maeding

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

weiter leben nannte Ruth Klüger 1992 ihre Holocaust-Erinnerungen, mit denen sie einen ganz ungewohnten Ton in die autobiographische Literatur von Überlebenden einbrachte, in ihrer Wirkung vergleichbar vielleicht nur mit Imre Kertész̛ Roman eines Schicksalslosen. Aber auch als Literaturwissenschaftlerin wurde und wird Klüger gelesen und hoch geschätzt. Die gebürtige Wienerin, 2020 verstorben, gelangte nach ihrer Internierung in Theresienstadt und in Auschwitz in die USA, wo sie sich der deutschsprachigen Herkunft als Germanistin wieder zuwandte.

anders lesen heißt nun, in deutlicher Anlehnung an Klügers Erinnerungsbuch, der von Gesa Dane herausgegebene Band mit Aufsätzen, der sich – so der Untertitel – „Juden und Frauen in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts“ widmet. Er umfasst sowohl unveröffentlichte als auch abgelegen publizierte Texte, entstanden seit den 1990er Jahren, bei denen es sich mehrheitlich um Vorträge Klügers handelt. Die Zusammenstellung von „Juden und Frauen“ mag zunächst Fragen aufwerfen, bezeichnet jedoch die beiden bevorzugten Forschungsfelder der Autorin. Tatsächlich ist mit dem Titel nämlich noch ein drittes Buch Klügers aufgerufen, das nach einem gleichnamigen Aufsatz „Frauen lesen anders“ heißt. Mit dieser Formel schlägt Klüger jedoch gerade keine essentialistische Lesart vor, so die Herausgeberin und Nachlassverwalterin Dane im Nachwort. Das ist ein wichtiger Hinweis, der sich bei der Lektüre immer wieder aufs Neue bestätigen lässt und auch auf den nun vorliegenden Band zutrifft: „Frauen“ ebenso wie „Juden“ sind keine essenzhaften Kategorien; die Autorin interessiert sich für sie in ihrem soziogeschichtlichen Umfeld, als Intellektuelle und Schreibende in einem spezifischen Kontext ebenso wie als literarische Figuren. Beide Dimensionen – Akteur und Figur – kommen in den Texten des Bandes zum Tragen. Wertungen und Abwertungen, wie sie sich in der Literaturtradition gegen Juden oder Frauen richteten, werden dabei kritisch aufgearbeitet.

Eröffnet wird der Band mit einem schon beinahe klassisch zu nennenden Aufsatz von 1992, Dichten über die Shoah. Zum Problem des literarischen Umgangs mit dem Massenmord. Die verbreitete Kritik, dass „Massenmord und Belletristik nicht zusammenpassen“, enthebe die Literatur nicht der Verantwortung, sich dem Denkproblem Shoah zu stellen, ethisch wie auch ästhetisch. Der Anspruch des Aufsatzes, grundlegende Problematiken der sogenannten Holocaustliteratur zu benennen, hat an Aktualität in einem überaus produktiven Forschungsfeld erstaunlicherweise kaum verloren: der Anspruch auf Authentizität und Faktualität, Lesererwartungen und die Darstellbarkeit des Grauens abseits des Kitsches (also ohne „eine Buttersauce von Sentimentalität“) sind auch heute noch polemisch diskutierte Aspekte der Literatur über den Holocaust. Verbunden werden diese Fragen im Aufsatz zudem mit einer Darlegung des persönlichen Kanons der Autorin, der mit Tadeusz Borowskis Die steinerne Welt, André Schwarz-Barths Der Letzte der Gerechten und Jerzy Kosinskis Der bemalte Vogel auch weniger bekannte Texte enthält.

Zu diesem Essay bietet der Aufsatz über Binjamin Wilkomirski und sein später als Täuschung entlarvtes Holocaust-Erinnerungsbuch Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-1948 ein selbstreflexives Gegenstück, in dem Klüger darüber nachdenkt, wie sich die Lektüre nach Aufdecken des Skandals um Wilkomirskis erfundene Erinnerungen verändert, weil der Text „von einer Gattung in die andere übergegangen ist“: Wir lesen ein Buch, das uns als authentische Geschichte nahegebracht wird, anders als einen fiktionalen Text. Dass die Fälschung erst so spät aufgeflogen sei, so Klüger mit Blick auf eine besonders erschütternde Stelle von Wilkomirskis vermeintlichen Erinnerungen, habe auch damit zu tun, dass Kitsch „allzu plausibel“ sei.

Auch in einem Aufsatz zu Wolfgang Koeppen und Alfred Andersch geht es um eine verwandte Problematik des Ich-Erzählers und der „Zeugensprache“ im Schatten des Holocausts. Andere Texte des Bandes greifen zeitlich weiter zurück und widmen sich z. B. dem Judenhass in Wilhelm Raabes beliebtem Hungerpastor, Schnitzlers Frauenfiguren oder Hugo von Hofmannsthals Rosenkavalier. Zwei Aufsätze handeln von Heinrich Heine und seinem literarischen Streben nach Selbstbehauptung in einem judenfeindlichen Kontext. Interessant ist insbesondere ihre Bewertung von Heines Leistung (unter anderem mit seiner Schrift über „Die romantische Schule“) für die entstehende Germanistik.

Übergreifend geht es Klüger immer auch um die Rolle von Literatur in der Gesellschaft – ein werkimmanenter Ansatz muss sich für die Überlebende erübrigen. „Die Dichtung mag ein Labyrinth von Irrwegen sein, die jedoch immer noch einen Ausweg, den Weg zur Wahrheit, in Aussicht stellen.“ Damit beendet sie ihren Aufsatz, eine Rede eigentlich, zu Ingeborg Bachmann und dem Wahrheitsanspruch, den diese an Literatur stellte. Getragen ist dieser Text von einer großen Empathie für die österreichische Schriftstellerin (ebenso wie im übrigen ihr Aufsatz zur heute wenig beachteten Marie Luise Kaschnitz), und überhaupt fällt auf, wie die von denkerischer Prägnanz und großer Belesenheit geprägten Texte ohne die zutiefst persönliche Positionierung der Autorin, ohne den Ausdruck ihrer Nähe zu den besprochenen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, ganz unvollständig wären. Im Aufsatz zu Stefan Zweigs Schachnovelle liefert sie nicht nur eine gestochen scharfe Analyse des Protagonisten und seines geistigen Zustandes in der Isolation des Hotelzimmers, sondern trägt auch hier ihre eigene Geschichte und ihre Erinnerungen in den Text mit hinein, wenn sie anführt, dass das Beibringen des Schachspiels eines der wenigen Geschenke gewesen sei, dass ihr von den Nazis ermordeter Vater ihr hinterlasse habe.

Auch bei „ihren“ Schrifstellern richtet sich das Interesse nicht nur auf deren Figuren, sondern schließt den Autor mit ein. Als sie die Selbstgefährdung des verstandesverlustigen Protagonisten in ihrem Schachnovelle-Aufsatz bedenkt, schwenkt sie um auf den Selbstmord Zweigs und fügt in Klammern hinzu: „(Ja, auch ich habe in Schulen und Seminaren gelernt und selber gepredigt, dass man das nicht tun soll, doch die säuberliche Trennung von Erzähler und Autor scheint mir zu puristisch und nicht immer gerechtfertigt.)“ Die ungezügelte  Aufrichtigkeit macht die Texte nicht nur lehrreich, sondern auch lebendig. Das von Klüger praktizierte Gegen-den-Strich-lesen verkommt nie zur Attitüde und wirkt nie aufgesetzt oder bemüht, wird vielmehr immer durch die Persönlichkeit beglaubigt: Die Literaturwissenschaftlerin interpretiert, positioniert sich und riskiert dabei stets auch viel. Wer die Kunst des Lesens und der Interpretation als Wagnis begreift, das Schreiben und Leben gleichermaßen adressiert, der wird sich bei Klüger gut aufgehoben fühlen.

Titelbild

Ruth Klüger: Anders lesen. Juden und Frauen in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts.
Herausgegeben von Gesa Dane.
Wallstein Verlag, Göttingen 2023.
264 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783835353435

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