Verdächtiger Paradiessucher

Karl Philipp Moritz auf seiner Englandwanderung im Jahr 1782

Von Tilman FischerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tilman Fischer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ein Fußgänger scheint hier ein Wundertier zu sein, das von jedermann, der ihm begegnet, angestaunt, bedauert, in Verdacht gehalten und geflohen wird" - zu diesem Schluss kommt der 26jährige Karl Philipp Moritz am 23. 6. 1782, nachdem er den Weg von Richmond bis Windsor als Wanderer zurückgelegt hat. Nach seinem dreiwöchigen Londonaufenthalt bricht er zu Fuß auf, den Norden Englands zu erkunden. In London hat er die üblichen Sehenswürdigkeiten besucht und war Dank zahlreicher Empfehlungsschreiben in einem festen Netz sozialer Kontakte eingebunden. Jetzt auf sich allein gestellt, muss er erfahren, dass seine Reisemethode ihm durchweg Misstrauen und Verachtung einträgt. Dennoch hält er daran fest, nimmt nur widerwillig eine Strecke Wegs die Postkutsche, die er entweder als "Kerker" empfindet oder - wenn er an der "Outside" mitreist, d. h. der Witterung auf dem Dach ausgesetzt, als lebensgefährliches Vehikel erlebt. Denn was er in Rousseauscher Manier sucht, ist nur laufend zu erlangen: das einsame und empfindsame Naturerlebnis. Ständig hält er Ausschau nach dem idealen Aussichtspunkt, dem ergreifenden Landschaftserlebnis; was er dabei von Anfang an und immer wieder findet ist eine "paradiesische Gegend". Moritz´ Naturbegeisterung läuft auf die zu Recht berühmt gewordene Schilderung seines Besuchs der Höhle von Castelton in Derbyshire zu, zugleich nördlichster Punkt seiner Wanderung.

Auf dem Weg dahin macht er zahlreiche Bekanntschaften, nicht nur mit Straßendieben, wie er vermutet, sondern auch mit Handwerkern, deren Bildungsniveau er bewundert, und mit einem Prediger, der ihn in Oxford in einen Kreis zechender Pastoren führt, die nächtliche Bibelexegese betreiben. Vor allem aber erfährt der Leser etwas über die in Anspruch genommenen Landgasthöfe mit ihrem unfreundlichen Personal und über die Reisemodalitäten des 18. Jahrhunderts überhaupt - Moritz informiert eingehend über jeden ausgegebenen Shilling.

Diese Differenz zu unseren heutigen Reisegewohnheiten begründet sicherlich zu großen Teilen den Reiz, den Moritz´ Erzählung ausmacht. Weniger ist es die Einladung, auf seinen Spuren England nachzuerleben, wie dies der Verlag bei seiner Ausgabe von Fontanes "Ein Sommer in London" mit seinem angehängten "Fontane-Spaziergang durch das heutige London" nahelegt. Dazu ist schon Moritz´ Perspektive zu ungewöhnlich. Im Gegensatz zu seinen deutschen Zeitgenossen verfügt er über eine außergewöhnliche englische Sprachkompetenz; vor allem aber ist er mit der englischen Literatur seiner Zeit bestens vertraut. So ist sein Blick derart präfiguriert, dass ihm das Gesehene nicht selten zur nachträglichen Illustration seiner Lektüreerlebnisse wird. Paradoxerweise ist es gerade Miltons "Paradise Lost", das er auf seiner Paradiessuche während jeder Rast aufschlägt, um ein paar Verse zu lesen, die seine Wahrnehmung beflügeln mögen. Auch dies ein Verhalten, das ihn seiner sozialen Umgebung fremd macht: "Allein es ward mir bald beschwerlich, daß mich die Vorbeireitenden und Fahrenden immer mit einer solchen Verwunderung angafften, und solche bedeutende Mienen machten, als ob sie mich für einen Verrückten hielten, so sonderbar mußte es ihnen vorkommen, einen Menschen an der öffentlichen Landstraße sitzen, und in einem Buch lesen zu sehen."

Was Moritz sucht, ist das Naturerlebnis, zeitlos und ästhetisch gesteigert zum superlativen Eindruck. Vielleicht ist dies der Grund, warum der Verlag glaubt, ohne jegliche Anmerkungen auskommen, ja nicht einmal mit einem Inhaltsverzeichnis aufwarten zu müssen. Gerade im Londonteil, der rund die Hälfte des Reiseberichts ausmacht, kommt aber durchaus auch Zeitgeschichtliches und Tagesaktuelles zur Sprache, für das heutigen Lesern einige erläuternde Hinweise gewiss willkommen gewesen wären. Besonderes Interesse zeigt Moritz hier beispielsweise für das Geschehen im Parlament, das er als rhetorisches Spektakel erlebt. Für seinen ursprünglichen Adressaten, den Schuldirektor Gedike, bemüht er sich ferner, seine Londonerlebnisse ständig auf Vergleichbares in Berlin umzubrechen, was gleichermaßen die historische Differenz wie die Gemeinsamkeiten der beiden Städte konturiert. Was für viele zeitgenössische Englandbesucher hingegen mehr und mehr fesselnder Beobachtungsgegenstand wurde, die beginnende Industrialisierung und die ökonomische Weltmachtstellung des Inselstaates, interessiert Moritz gar nicht. Birmingham flieht er, kaum angekommen, und die Warenwelt in den Londoner Schaufenstern begreift er lediglich als ein "Kunstkabinett", das besonders gut zum Anschauungsunterricht für Kinder tauge, aber nicht als Ausdruck einer veränderten Produktionsweise.

Diese subjektive Prägung, die seit Ende des 18. Jahrhunderts in der Reiseliteratur zu beobachten ist, macht die Texte auch für heutige Leser zur interessanten, unterhaltsamen Lektüre - und Wiederpublikationen verlegerisch lukrativ. Dass in den Berichten aber keineswegs alles für bare Münze genommen werden sollte, betont Heide Hollmer, Mitherausgeberin der Moritz-Ausgabe im Deutschen Klassiker Verlag, in ihrem informativen, biographisch und werkgeschichtlich ausgerichteten Nachwort. Sie rückt damit gerade, was die Werbeabteilung des Verlags sich frei fabulierend herausgenommen hat, nämlich Moritz´ Buch "die erste authentische Schilderung einer Englandreise" zu nennen, die auch noch "mehrere Monate" gedauert (es waren sieben Wochen) und in ein "damals weithin unbekanntes Land" geführt haben soll. Moritz sah das ganz anders: Er hielt die "Londoner Plätze und Straßen" für "weltbekannter, als die meisten unsrer Städte". So konnte es für ihn auch nur der "eigene Gesichtspunkt" sein, der die erneute Beschreibung rechtfertigte, und der ist Moritz gewiss nicht abzusprechen.

Titelbild

Karl Philipp Moritz: Reisen eines Deutschen in England im Jahre 1782.
Insel Verlag, Frankfurt 2000.
194 Seiten, 8,60 EUR.
ISBN-10: 3458343415

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