Eulen, Wasserlöcher und Kunst zum Quadrat

Annette Hagemann verleiht in ihrem „Katalog der Kiefermäuler“ mit eleganter Leichtigkeit dem Menschsein in Natur und Kultur ihre poetische Stimme

Von Marcus NeuertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcus Neuert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon Cover und Titel des 101. Bandes der stets liebevoll (und in diesem Fall ausnahmsweise quadratisch) gestalteten Bücher der „edition offenes feld“ aus Dortmund lässt das Lesepublikum schmunzeln und rätseln: was genau sind denn Kiefermäuler? Ein Blick auf die Verlagswebseite gibt die Auskunft, es handele sich hierbei um „nahezu alle heute lebenden Wirbeltiere“, mithin auch die Spezies Mensch.

Illustriert wird dieser Umstand auf surreal-ironische Weise durch die Umschlagbilder von Ricardo Cortez, die etwa einen fliegenden Wal mit aus der Rückenflosse sprießendem Baum zeigen, auf dessen Kopf ein junger Mann in romantisch-sinnender Pose steht oder ein auf kleinen Beinchen vorwärts stürmendes delfinartiges Wesen, alles in altmeisterlicher Stahlstich-Manier gehalten wie aus dem Großen Brockhaus der vorletzten Jahrhundertwende. Auch dies in gewisser Weise „eine beständige Jonglage zwischen Vorsicht und Frechheit“, womit die Autorin im ersten Gedicht die Möwen am Lido di Venezia charakterisiert. Und etwa in einem Text über den rumänischen Pavillon der Biennale begegnen uns denn auch folgerichtig „Menschen mit anderer Physis, anderen Zähnen, nur einer / Brustwarze, die etwas mir Unverständliches tun oder sagen“ – so nimmt Annette Hagemann diese ersten Eindrücke des Fantastischen auf und spinnt sie weiter. Aber es bleibt weder formal bei der bloßen Beobachtung noch inhaltlich beim durchgängig Traumhaft-Imaginären.

Der genaue Blick für das Wesen der Dinge wird von „der Lyrikkritik“ (ein Terminus, der aufgrund der auch hier zu Recht herrschenden Polyphonie fast genauso schön sinnlos ist wie derjenige von „der Wissenschaft“) ja immer wieder gern als entscheidender Faktor ins Feld geführt, wenn es um die Beurteilung von Gedichten geht. Dabei ist diese Gabe des Hinschauen-Könnens ja eigentlich nichts weiter als eine Grundvoraussetzung, um überhaupt irgendwie literarisch arbeiten zu können. Das Gedicht schreibt sich letztlich eben gerade nicht durch Rezeption und Reflexion, sondern durch den Gebrauch von Sprache. Und damit haben einige nun mehr, andere weniger Erfahrung und Gespür.

Die gebürtige Münsteranerin und heute in Hannover lebende und arbeitende Annette Hagemann ist eine derjenigen Autorinnen, die ihre Worte mit kalkulierter Präzision zu wählen wissen, und zwar dergestalt, dass der Willensakt dahinter unsichtbar wird. Darin besteht die eigentliche Kunst: die notwendigen Verschraubungen und Schweißnähte des lyrischen Arbeitsprozesses am Endprodukt zum Verschwinden zu bringen. Denn nur selten werden den Dichtenden die Verse von einer inneren oder äußeren Stimme zugeflüstert, und fast ebenso selten ist die quasi automatisierte Transformation von Erfahrenem oder Erfühltem in Sprache.

José F. A. Oliver hat in einem Interview einmal die vier Stufen der „Gedichtwerdung“ wie folgt benannt: Notiz – Notat – Verdichtung – Gedicht. Insofern ist der Untertitel „Gedichte und Notate“ vielleicht ein wenig irreführend, denn die in den Katalog der Kiefermäuler aufgenommenen Notate Hagemanns, sprich: diejenigen Texte, die nicht von vornherein aufgrund von Form und Duktus unschwer als Verse aufgefasst werden wollen, sind sprachlich ausgefeilte Beispiele einer lyrischen Prosa, die den Gedichten im Band in nichts nachstehen. Obendrein sind auch sie meist zu längeren regelmäßigen und strophenartigen Passagen zusammengefasst – das Hagemannsche Formbewusstsein lässt grüßen.

Beiden lyrischen Darreichungsarten gemeinsam ist die Eleganz des Ausdrucks. In fünf Abteilungen (Lagunenstadt / Okay, Kunst / Das Fürchten zu lernen / Vogelkatalog sowie Element Wasser) führt Annette Hagemann ihre sprachliche Eloquenz eben gerade nicht vor, wie es so häufig in durchaus beeindruckenden Gedichtbänden geschieht, sondern leitet ihr Publikum mit leichter Hand durch die wohlgesetzten Formulierungen ihrer Gedankenwelt. Dabei nimmt sie nicht selten Bezug auf die mannigfaltigen Verknüpfungen von Natur und Kultur wie etwa in Vogelkatalog, in welchem die Musik des französischen Komponisten (und übrigens auch Ornithologen!) Olivier Messiaen und des Pianisten Pierre-Laurent Aimard zu einem vielstimmigen Singvogelkonzert im abendlichen Garten ins Verhältnis gesetzt werden:

[…] Jede fein arrangierte Pianopause nutzt die Blaumerle
geradeheraus für ihre improvisierten Vorschläge. Als Solistin
singt sie weitaus ungenierter, als Menschen komponieren
oder spielen könnten. Stößt ins winzige Horn ihrer Kehle,
um plötzlich abzubrechen und auf den Flügel zu lauschen,
den Flügel des Herrn Aimard. Flügelschläge natürlich auch
über uns: Ein Pirol flattert parallel zum Pianotriller, überquert
den Himmel der Zuhörer, die immer auch Zuschauer sind. […]

In diesen Verwebungen wird häufig auch gesellschaftlich Relevantes thematisiert wie etwa in dem Gedicht über ein Werk der zimbabwischen Malerin Portia Zvavahera:

Versammlung der Eulen und Frauen, Eulen in der
Mehrzahl, Frauen unter einem Strickponcho verbunden
mit Fäden, mit Wolle wird die soziale Welt erschaffen.
Ergebnis und Sinn der Konferenz? Wir waren hier alle
beisammen. Fällt eine um, gibt es den Eulensegen.

In solchen Gedichten scheinen Traum und Fantastik überwunden, zwar spiegelt sich noch das Verrätselte in ihnen, jedoch in einem nun recht deutlichen politisch-feministischen Kontext, der allerdings nie ideologisierend wirkt, sondern wie selbstverständlich im poetischen Strom aufblitzt, selbstbewusst und in zudem auch rhythmischer Stimmigkeit seine Position einnimmt. Überhaupt scheinen Tiere und Menschen der Autorin offenbar etwas wie eine wechselseitig aufeinander angewiesene Gemeinschaft zu sein: „Schließlich, sage ich, sind wir alle / verwandt, verbunden sind wir: Wasserlöcher und Pubs suchend.“

So ist Annette Hagemann mit ihrem Katalog der Kiefermäuler einer jener eher seltenen Gedichtbände gelungen, die vermutlich auch noch nach Jahren den identitäts- und klimapolitischen Zeitgeistdebatten enthoben ihre poetische Kraft entfalten werden.

Titelbild

Annette Hagemann: Katalog der Kiefermäuler. Notate und Gedichte.
Books on Demand, Norderstedt 2024.
108 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783758320859

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