Für eine halbe Minute der Größte

Jörg Fausers eindrucksvolles Lebenswerk

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 

Jörg Fausers Laufbahn als Schriftsteller begann mit dem „Cut-up“-Verfahren: Man schrieb eine Seite, zerschnitt sie, arrangierte die Teile neu und versuchte nun, auf „ein neues Bild, einen bisher verborgenen Sinn“ zu kommen. Verlegt wurden diese Texte meist in alternativen Kleinverlagen (z.B. Giftzwerg Presse) oder in Zeitschriften, zum Beispiel in UFO oder in GASOLIN 23, deren Mitherausgeber Jörg Fauser Anfang der siebziger Jahre gewesen ist. In GASOLIN 23 wurden dann auch Übersetzungen der jungen Amerikaner veröffentlicht, und damit war eigentlich der Weg vorgezeichnet: „Unser Lebensgefühl war von Amerika geprägt, ohne daß wir je dort gewesen waren oder hin wollten.“ Mit den deutschen Gegenwartsautoren konnte Jörg Fauser wenig anfangen. Peter Handke beispielsweise, der österreichische Beatle, machte – seinem Eindruck zufolge – keine innovative Literatur. Aqualunge, die erste Einzelveröffentlichung Fausers, erschien 1971 im Verlag Udo Breger. Deren Programmatik wurde einem gewissen „Kommissar Fadalla“ (sic) zugeschrieben und verstand sich als „Report“, als „Kartographie“, um den Kontinent der Drogen zu erfassen:

Es ist hinreichend bekannt, daß die unter der Sammelbezeichnung ,Speed‘ gebrauchten Präparate und Substanzen den menschlichen Organismus, vor allem die Hirnrinde, in weit kürzerer Zeit weit mehr schädigen als jedes uns bekannte Narkotikum. Der Slogan ‚speed kills‘ […] ist nicht aus dem Nebel der Tagespresse – diesem institutionalisierten Großhirnsedativum – hervorgegangen, sondern dort geprägt worden, wo die Konsequenzen tagtäglich erlebt werden. Dies ist, wie wir allmählich begreifen, das Zeitalter des Raums. Der Vorstoß in den Raum verlangt von uns Bewußtsein, das seinen Konditionen entspricht. Substanzen und Mittel, die das Bewußtsein trüben, hemmen, verschleiern oder außer Gefecht setzen, sind mit den Konditionen des Raums unvereinbar. Unsere ‘Operation Café Zentramina‘ […] heißt: Substanzen und Mittel aufzufinden, festzusetzen und unschädlich zu machen, die das Bewußtsein nicht klären oder erweitern, sondern mindern, trüben, hemmen und zerstören. Unsere Aufgabe: Die Aqualunge zu reinigen von Verschmutzung; das Hilfsmittel klar zu bekommen, mit dem wir uns in Raum und Zeit bewegen werden. Avanti!

Aqualunge ähnelt einer hektographierten Schülerzeitung auf schlechtem Papier mit miserablen Reproduktionen von Comic Strips, intarsierten Pressefotos und Beipackzetteln. Teils als Tagebuch, teils als Bewusstseinsstrom oder als Abschrift eines „Inneren Tonband[s]“ angelegt, suchen diese protokollhaften, verwaschenen (undeutlichen) Aufzeichnungen noch nach ihrer inneren Form: „Eine Lektion für Futuristen?“ Wohl kaum, eher das epigonale Zeugnis experimenteller Originaltonliteratur. Es war die Zeit, als auf diesem Sektor Bedeutendes entstand: die Hörspiele Ludwig Harigs („Staatsbegräbnis“, 1969) oder Paul Wührs („Preislied“, 1971), die Collagen Ferdinand Kriwets („Apollo Amerika“, 1969) oder – ganz anderes Niveau – die hektographierten Großromane Arno Schmidts (darunter Zettels Traum, 1970).

Jörg Fauser begann seinen Kampf gegen die Drogen, als es fast schon zu spät war. Am 16. Juli 1944 wurde er als Sohn des Frankfurter Malers Arthur Fauser und der Schauspielerin Maria Razum geboren. Er war noch ein halbes Kind, fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, als die Frankfurter Neue Presse erste journalistische Arbeiten von ihm veröffentlichte; schon 1963 wurde er Beiträger der renommierten Frankfurter Hefte. Achtzehnjährig schmiss er das Abitur und ging nach London, wo er das Heroin und synthetische Opiate kennenlernte. Zeitweise war es bös um ihn bestellt. Nach dem dann doch noch nachgeholten Abitur, während seiner Zivildienstzeit in einer Heidelberger Klinik, wo er „die verschissenen Laken der Krebskranken wechselte, ihnen den Grießbrei in den Mund schob und die von viel zu vielen Nadeln zerstochenen Arme abputzte“, wurde er suchtkrank und setzte sich nach Istanbul ab. Dort lernte er die Drogenhölle von Tophane kennen, damals das europäische Zentrum der zielsterbigen, todesverfallenen Junkies. Tophane, so hieß denn auch die frühe Prosaveröffentlichung aus dem Jahre 1972, in der Fauser für die Stoffwechselkrankheit Sucht eine adäquate Sprache suchte:

Du stehst unten im Lokus vom Club Voltaire und fummelst an der Spritze sie klemmt und mit dem zerfetzten Schlips zum Abbinden und findest das Knötchen in der Beuge nicht wo du das letzte Mal gestern noch glatt oh so beautiful reinkamst und stößt zweimal ins Leere und gehst schließlich in die Hand – haust einfach rein – das Blut schießt in die Spritze du stößt den Stempel vor die Hand beult sich aus na klar hast du die winzige Vene durchstoßen noch bevor du die Nadel rausziehst und mit dem Wind vom Schnee schon im Gesicht läuft die Blase bläulich an – dann schießt das Blut über die Hand auf die Hose auf den Boden des Lokus und du hängst noch am Rand des Klosetts mit der Spritze in der Hand über die das Blut rinnt – du gehst raus die Spritze in den zittrigen Fingern der Schlips schleift dir nach der Typ vor dem Spiegel dieser flotte linke Fritze sieht dich im Spiegel und verrät dich im Spiegel und die Paranoia treibt dich mit dem schleifenden Schlips und der blutigen Hand auf die Treppe – mitten rein in den Krakeel mit der Spritze immer noch in der Hand in die Scheiße Agitprop und Rothändle-Rauch – bevor sie schreien gefrieren ihre fiesen Gesichter für eine Sekunde – du steckst die Spritze in die Hosentasche – zersplitternde Funken: schnappt ihn! den da! bringt uns die Bullen ins Haus! UNSER Haus! schnappt ihn! – du rennst raus und die Straße hoch wo die Häuser schwitzend im Himmel und du rennst und rennst in den Park ins Dunkel du rennst –

Nachzulesen ist diese unappetitliche Amoklaufprosa, die direkt unter die Haut geht und Symptome wie Lesestress, Angst, Beklemmung, Herzklopfen verursachen mag, als Nachdruck bei Moloko Print (2011). Tophane – wer einmal in die Slums von Istanbul geraten war, in ein trostloses Loch einer verkommenen Absteige, hatte mit seinem Leben so gut wie abgeschlossen. Von den Junkies, die Fausers Lebensweg hier kreuzten, fand kaum einer ins Leben zurück. Fauser jedoch gelang es, dem Drogentod von der Schippe zu springen: Als 1973 sein Gedichtband Die Harry Gelb Story im Maro Verlag erschien, war die schwerste Krise seines Lebens überwunden. Heute, an seinem achtzigsten Geburtstag, legt sein umfangreiches Œuvre Zeugnis von seiner immensen Produktivität ab.

Auf der Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten, die vor den Regeln der Syntax nicht haltmachten, mit denen sich darstellen ließ, „was passiert, wenn das Opiat die grauen Zellen sprengt“, wurde Fauser bei den anglophonen Autoren, Burroughs vor allem, fündig: „Schon als Kind wollte ich Schriftsteller werden, weil Schriftsteller reich und berühmt sind. Sie lungern in Singapur und Rangun herum und rauchen Opium in gelben Rohseidenanzügen. Sie schnupfen Kokain in Mayfair und dringen mit einem treuergebenen Eingeborenen-Boy in verbotene Sümpfe vor, wohnen in Eingeborenenvierteln von Tanger, rauchen Haschisch und streicheln eine zahme Gazelle.“ William S. Burroughs war selber zwölf Jahre süchtig gewesen und hatte den Ausstieg über ein Morphiumderivat geschafft. Aber noch mehr zählte für Jörg Fauser, dass Burroughs etwas aus seinem Junkie-Leben gemacht hatte, dass er Schriftsteller geworden war: mit Naked Lunch (1959) oder Soft Machine (1960) avancierte er, vom äußeren Rand der Gesellschaft aus, zum wichtigsten Repräsentanten der Beat-Generation.

Fausers Roman Rohstoff (1984) enthält in einer unauffälligen, aber aufschlussreichen Begegnung zwischen dem suchtkranken Ich-Erzähler Harry Gelb und dessen Arzt ein Leitmotiv seines ganzen Lebens: „Na ja“, sagte der Arzt, „wenigstens haben Sie einen Vorteil vor vielen anderen Junkies: Sie wissen, was sie mit ihrem Leben tun wollen.“ Unser Autor wollte schreiben und hatte, ähnlich wie seine Romanfigur, einen starken Überlebenswillen; er begriff, dass er sich und der Welt beweisen musste, dass die Drogen „ein Auftrag“ waren – ein Auftrag und eine „notwendige Erfahrung“. Er verstand seine „schriftstellerische Mission“ als „drastische Warnung“ vor dem Absturz, nicht als Apologie des Opiums.

In einigen Texten hat Fauser den Drogensüchtigen mit dem Künstler äquivalent gesetzt: Beide sind asozial und ziehen sich „in der Sucht […] auf sich selbst zurück“. Nur auf der Suche nach neuem „Stoff“ nehmen sie Kontakt mit der Umwelt auf, doch sofort, wenn ihre elementarsten Bedürfnisse befriedigt sind, wird „jedweder Gemeinschaft und Gesellschaft“ wieder der Rücken gekehrt. In seinem „Solo Poem“ hat der Lyriker die Einsamkeit als Bedingung künstlerischer Produktivität beschrieben: „Und du bist nicht da. / Und wenn du da wärst / könnte ich das nicht / schreiben.“ Die Droge war ihm Metapher jeglicher Abweichung von der Normalität, und die Schriftstellerei wurde seine neue Obsession: „Der Zwang zum Ausdruck“ trat an die Stelle der alten Zwänge.

Hier hatte sich einer freigeschrieben und durfte erfahren, wie Literatur die Welt verändern kann, zumindest die eigene: „Hatte man Kerouac gelesen, waren die Straßen anders als zuvor.“ Womöglich benannte er die Hauptfigur seines Romans Der Schneemann (1981) nach Leopold Bloom, dem Odysseus der literarischen Moderne, und schickte ihn auf einen „Trip Null“ (Paul Wühr) quer durch Deutschland, die Niederlande und Belgien. Der Plot geht ungefähr wie folgt: Siegfried Blum, ein „abgetakelter Desperado mit Stirnglatze“, der in München fünf Kilo unverschnittenes Heroin abgestaubt hat, versucht, die heiße Ware an den Mann zu bringen; er entwickelt einen veritablen Verfolgungswahn, die Krankheit seiner Generation, und steht am Ende als Verlierer da.

Die erfolgreichsten Romane und Erzählungen Jörg Fausers lassen die „junkiemäßigen Techniken“ seiner Anfänge weit hinter sich. Stilistisch haben sie dem Bewusstseinsstrom à la Joyce, dessen Hirn „auch ohne Desoxyn“ („Rohstoff“) funktionierte, kaum Reverenz erwiesen. Sie stellen Spitzenprodukte eines ganz eigenen Sounds dar und tendieren zur Solidität guter Unterhaltung. Der Schneemann (1981), Rohstoff (1984), Das Schlangenmaul (1985) und Kant (1986) haben von den handlungsintensiven, gut recherchierten und spannenden Vorbildern vornehmlich amerikanischer Provenienz gelernt.

Jörg Fauser hat seinen Hausgöttern immer wieder Reverenz erwiesen. „Der galizische Jude, der österreichische Dichter und katholische Trinker Roth“ hat ihn zeitlebens fasziniert, sowohl als Mensch wie als Schriftsteller; auch Joseph Roth hatte vitale Probleme mit der Sucht, dem Alkohol und der Vereinsamung. Die Verfallenheit an den Alkohol wird auch von Graham Greene thematisiert (The Power and the Glory, 1940), mit ihm verband Fauser die politisch und moralisch korrumpierte Realität seiner Romanwelten und – vor allem wohl – die Form des handlungsintensiven Romans, die sich erzähltechnisch am Krimi orientierte. Die Essays, Reportagen, Kolumnen galten den zwischen Erfolgs- und Misserfolgsgeschichten Hin- und Hergeworfenen, zum Beispiel Charles Bukowski und Christian Dietrich Grabbe. Grabbe, den genialischen Reformer der klassischen Dramenkunst, „der im biedermeierlichen Mief seiner Umgebung krepiert war wie der sprichwörtliche arme Hund“, hat Fauser in einem seiner schönsten Gedichte („Café Grabbe“) geehrt. Grabbe war ihm immer schon nahe gewesen, denn er ließ alle seine Helden „mit den Füßen im Kot nach den Sternen greifen“.

Diese Protagonisten sind zumeist hartgesottene, ausgebuffte Typen, eher einfach strukturierte Einzelgänger mit Machomanieren, kleine Gauner mit volkstümlichen Ansichten, sei es zur Flaschengärung oder zur Kunst der „Neuen Wilden“:

Früher waren es meistens Kleckse gewesen, jetzt war wieder der schmissige Strich angesagt, wenn man nicht gleich die Spritzpistole nahm. Das Ergebnis war auch nicht besser, aber die Preise überraschten Kant.

Fausers Personal vertritt das Prinzip der ausgleichenden Ungerechtigkeit: Die Männer können austeilen und einstecken, sie nehmen die Frauen hart ran und vertragen einen kräftigen Schluck; die Frauen sind selbstbewusst, nicht auf die Klappe gefallen und kennen sich im Milieu aus. Diese „Metaphysik der Sitten“ orientiert sich an Immanuel Kant (der mit Bezug auf die Ehe nüchtern vom wechselseitigen „Gebrauch“ der „Geschlechtsorgane“ innerhalb einer „Geschlechtsgemeinschaft“ gesprochen hatte) und benamst ihre Hauptfigur entsprechend hochrangig – der „Scene-Thriller“ um den programmatischen (und „kantigen“) Kant entfaltet Kurzweil und Witz:

Etwas Warmes, Trockenes auf seinem Gesicht, die Frühlingssonne, gut. Etwas Weiches, Feuchtes an seinem Bein, ein Hund, nicht so gut. Kant teilte einen Tritt aus und stellte zu spät fest, daß er ein Kind getreten hatte, das auf dem Weg zum Sandkasten an seine Wade geraten war. Gebrüll.

So abgeklärt er schließlich zu erzählen wusste, so stark blieb Fauser dem Lebensgefühl der Beat-Generation verpflichtet, das er poetisch in seiner Prosa und prosaisch in seiner Poesie in parataktischen Fügungen beschwor:

Batterien leerer Rumflaschen unterm Ausguß, das Zischen der defekten Gasheizung, Stapel feuchter Zeitungen, Pool-Partien in der Münchner Peripherie, Hans Albers in der Musikbox […] und die Katzenpisse auf den Collagen.

Von 1974 an platzierte er ziemlich erfolgreich und zunehmend stetig Gedichte, Hörspiele, Funkessays, Drehbücher, übersetzte aus dem Englischen und verfasste Auftragsarbeiten, darunter eine Marlon-Brando-Biographie. Der erzählerische Durchbruch kam mit dem süffig erzählten Schneemann (1981). Dieser Roman aus dem Drogenmilieu wurde 1984 stark verändert von der Münchner Bavaria mit Marius Müller-Westernhagen in der Hauptrolle verfilmt. Neben seinem literarischen Werk publizierte Fauser eine Vielzahl hervorragender Reportagen, die zum Besten gehören dürften, was in diesem Genre geleistet wird. Seine Reportage über das Tournee-Theater der Gebrüder Grabowsky mag entfernt an Truman Capotes The Muses Are Heard (1956) erinnern und wurde Ausgangspunkt eines nachgelassenen Romanfragments (Die Tournee), das etwas ausführlicher gewürdigt sei.

Hier laufen drei Erzählstränge zusammen: Die Geschichte des kleinen Gauners Harry Lipschitz, die Geschichte des Münchner Galeristen und Bankrotteurs Guido Franck und die Geschichte der abgetakelten Schauspielerin Natascha Liebling. „Der eiserne Harry“ ist erst 57 und gehört doch schon zum alten Eisen. Er hat sich vom Kiez zurückgezogen und die ehemalige Prostituierte Ellie geheiratet. Als Macho zu dickköpfig, um Schwächen einzugestehen, zu fein, um zu betteln, zu stolz, um aufzugeben, hat er sich ein Bismarck’sches Lemma über sein Leben geschrieben: „Nach Canossa gehen wir nicht!“ Doch das bürgerliche Leben in der Schrebergartensiedlung Buckow gibt ihm den Rest: Harry erleidet einen Herzinfarkt und muss zur Bäderkur ins historisch kontaminierte Bad Harzburg. Dort wird er Natascha, der heruntergekommenen Schauspielerin, begegnen. Die „Liebling“, eine Schnittmenge vielleicht aus Doris Kunstmann und Hanna Schygulla, ist mit einem Liebhaber „scheußlich baden gegangen“ und über beide Ohren verschuldet. Der frühere Filmstar, am Tiefpunkt seiner Karriere angekommen, spielt aktuell in einem drittklassigen Boulevardstück die Hauptrolle. Natascha spielt um ihr Leben, lebt von der Substanz, steht auf der Kippe. Alkoholprobleme paaren sich mit einer ausgewachsenen Psychose.

Bemerkenswert ist an diesem Teilstrang des Romans, dass er aus der Sicht einer Frau erzählt wird. Fausers Protagonistin hat eine Zeit lang gemalt, und ihre Bilder gehören zum Repertoire ihres Münchener Galeristen Guido Franck, zugleich ihr Schwager – und mit seiner Galerie am Ende: Vierzigtausend muss er auftreiben, um weitermachen zu können. Bei dem Großgauner und Kredithai Felix Esterházy pumpt er sich das Geld, um es in marktgängiges Heroin zu investieren. Doch der Coup geht, wie fast alles in diesem „Buch der Desaster“, schief.

Genug der Auseinandersetzung mit dem Romanfragment sowie mit Zeugnissen Fausers überhaupt, denn auch der Lyriker muss noch zu seinem Recht kommen. Fauser erfuhr, früh schon, Akzeptanz und Kanonisierung, beispielsweise durch Karl Otto Conrady als Herausgeber gewichtiger Anthologien. Fauser galt als Repräsentant der „Neuen Subjektivität“ und konnte sich auf vermintem Gelände behaupten: In der Zeitschrift Akzente war ein polemischer Streit über den Zustand (damaliger) Gegenwartsliteratur entbrannt und in anderen Medien und Formaten fortgeführt worden. Die ‚akademische Kritik‘ um Harald Hartung, Walter Höllerer, Roman Ritter oder Peter Wapnewski stritt mit ‚Praktikern‘ über (angeblich) gestaltlose „Laberlyrik“ (Ritter) im „Stammel-Look“ (Wapnewski), über prosaische Alltagslyrik ohne „formale Ambition“ und über mangelnde „Differenzqualitäten“ von Poesie und Jargon. Die „Häresie der Formlosigkeit“ (Martin Mosebach) bezog sich nicht auf den lateinischen Ritus im Gottesdienst, sondern auf den „Dienst am gebundenen Wort“: Gedichte seien „genaue Form“, so Peter Wapnewski, und hätten nicht einfach die „Unmittelbarkeit der gesprochenen Sprache“ zu vermitteln.

In diesen Fokus der Debatte gerieten auch Lyriker wie Nicolas Born, Christoph Derschau oder Ralf Thenior – und eben Jörg Fauser. Ganz ohne ira et studio lässt sich die Lyrikmisere jener Jahre wohl niemals diskutieren, zumal der Furor der Auseinandersetzungen um Medium und Form nie ganz abgeebbt ist. Der „Erfahrungshunger“ (Michael Rutschky) war oft größer als die Einsicht in die Notwendigkeit, auch die „Probleme der Lyrik“ (Gottfried Benn) wahrzunehmen und in den Griff zu bekommen. Gleichwohl verdanken wir den ‚reinen Pragmatikern‘ (darunter Karin Kiwus, Rainer Malkowski und Jürgen Theobaldy) nicht nur eine „Demokratisierung“ des Poetischen in Gestalt einer „unartifiziellen“ Gedichtsprache, sondern auch poetologische Lösungsversuche und „Textkämpfe“ (Rutschky) von Rang – dergestalt, dass die gesellschaftlichen Brüche und Verwerfungen im Gedicht gleich mit abgebildet wurden. Wolf Wondratschek konnte in seiner Interpretation von Fausers Gedicht „Der Zwang zur Prosa“ zeigen, dass sich Selbsterfahrung und Subjektivität, Erlebnis und Unmittelbarkeit durchaus mit einer anspielungsreichen, bildungsgesättigten und rationalen Durchdringung des Stofflichen verträgt. Erschienen ist seine geniale Interpretation im Rahmen der „Frankfurter Anthologie“, und das mag manchen verwundern, hatte doch Marcel Reich-Ranicki, ihr Herausgeber, dem Autor in Klagenfurt ein „non sufficit“ entgegengeschleudert – Fauser habe nicht „den geringsten literarischen Ehrgeiz“.

Wie falsch kann man liegen als Kritiker, wie fehlbar kann man sein als Literaturpapst? Fauser war ehrgeizig, begabt und glücklich, wenn ihm etwas glückte. In seinem Gedicht „Zehn Jahre später“ heißt es: „und da war diese Zeitschrift / ziemlich Establishment und etepetete / aber sie hatten ein Gedicht von mir gedruckt / und eine halbe Minute / kam ich mir vor wie der Größte.“

Kein Bild

Jörg Fauser: Tophane.
Moloko Print, Schönebeck 2011.
82 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783943603002

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Kein Bild

Jörg Fauser: Die Tournee. Roman aus dem Nachlass.
Diogenes Verlag, Zürich 2009.
269 S. , 8,90 EUR.
ISBN-13: 9783257239294

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