Vom Seemann zum Schriftsteller von Weltrang
Zum 100. Todestag des englischen Schriftstellers Joseph Conrad
Von Manfred Orlick
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseJoseph Conrad, der vor 100 Jahren am 3. August 1924 gestorben ist, fand spät zur Schriftstellerei. In seinen abenteuerlichen und psychologischen Erzählungen und Romanen verarbeitete er häufig seine langjährigen Erfahrungen und Erlebnisse als Seemann. Das geschah aber selten von einem verherrlichten, sondern meist von einem kritischen Standpunkt aus. Immer wieder rückte er auch das Versagen, das Schuldigwerden und die Korrumpierbarkeit der europäischen Zivilisation in den Mittelpunkt.
Joseph Conrad wurde am 3. Dezember 1857 als Józef Teodor Konrad Korzeniowski in Berditschew im damals russischen Gouvernement Kiew und einstigen Polen geboren. Der Vater Apollo Korzeniowski wurde wegen seiner Beteiligung an der polnischen nationalrevolutionären Bewegung im Oktober 1861 verhaftet, verurteilt und im Mai des folgenden Jahres mit seiner Frau Ewa und dem Sohn in die zaristische Verbannung nach Wologda geschickt. Die Bedingungen dort verschlimmerten sich noch nach dem Scheitern des nationalen Aufstandes 1863. Zwei Jahre später verstarb die Mutter in der Verbannung. Der Vater hatte als Schriftsteller selbst Stücke und Gedichte geschrieben und Shakespeare, Heine und Victor Hugo übersetzt. So wurde der Junge frühzeitig mit der Welt der Bücher vertraut gemacht. Besonders interessierten ihn Reiseberichte und Abenteuerromane.
Als der Vater 1869 starb, kam Konrad zunächst in die Obhut eines väterlichen Freundes und später in die seines Onkels Tadeusz Bobrowski, der für einige Jahre die Fürsorge und Schulausbildung übernahm. Mit 15 Jahren äußerte Konrad den Wunsch, zur See zu fahren. Entsetzt darüber schickte der Onkel ihn mit seinem Hauslehrer Adam Pulman auf eine Europareise. Hier sollte der Neffe von seinen „romantischen Hirngespinsten“ abgebracht werden. Doch die Sehnsucht nach der großen, weiten Welt blieb ungebrochen; außerdem boten die politischen Verhältnisse im zerspaltenen Polen keine Zukunftsmöglichkeiten.
So verließ Konrad 1874 gegen den Willen seiner Verwandten seine polnische Heimat, die er später nur bei wenigen kurzen Besuchen wiedersehen sollte. Der Siebzehnjährige ging nach Marseille, vor sich ein Leben voller Ungewissheiten und Abenteuer. Hier wurde er als Sohn des patriotischen Vaters von Exilpolen freundlich empfangen und er fühlte sich wohl in der Gesellschaft der Hafenarbeiter und Seeleute. Bald unternahm er seine beiden ersten Seereisen: die erste 1874/75 als Passagier nach Martinique, die zweite 1875/75 als Schiffsjunge nach Haiti. 1876/77 war Konrad an Waffenschmuggel-Fahrten beteiligt. Nach seiner Rückkehr nach Marseille war er hoch verschuldet und versuchte offenbar erfolglos, Selbstmord zu begehen.1878 betrat er erstmals englischen Boden. Es war der Beginn seiner Seemannslaufbahn unter britischer Flagge. In den nächsten Jahren folgten Fahrten nach Australien, in den Fernen Osten, nach Indien und Singapur. 1886 bekam Konrad die britische Staatsbürgerschaft. Er wurde 1888 Kapitän der „Otago“ und diente auf einer Reihe anderer Schiffe. Insgesamt 16 harte Jahre diente er in der britischen Handelsmarine (zumeist auf Segelschiffen), ehe er sich 1894 endgültig in England niederließ und Abschied vom Seefahrerleben nahm. Das britische Kapitänspatent gab er wegen seiner angegriffenen Gesundheit auf.
Ende der 1880er Jahre hatte Konrad mit ersten Schreibversuchen begonnen. Seinen ersten Roman Almayer’s Folly (dt. Almayers Wahn, 1935) veröffentlichte er 1895 im Alter von 38 Jahren unter dem Namen Joseph Conrad. Es ist die Geschichte eines holländischen Kaufmanns, der sich auf Borneo niedergelassen hat. Als Debüt eines völlig unbekannten Schriftstellers stieß der Roman auf ein beachtliches Interesse, sodass sich Conrad nach der Heirat mit der Buchhändlerstochter Jessie George (1873-1936) in Kent niederließ, um dort als Schriftsteller zu leben. Trotz anfänglicher Bedenken war es eine glückliche Ehe mit zwei Söhnen (1898 und 1906). Die 15 Jahre jüngere Jessie umsorgte Conrad, der zeitlebens an wiederkehrenden Krankheiten und Depressionen litt, stets liebevoll. Mit Schreibblockaden hatte er ebenfalls zu kämpfen, denn das Schreiben war für ihn eine nicht weniger mühsame Angelegenheit wie die Seefahrt davor.
Conrad schrieb in englischer Sprache, die er erst mit 19 Jahren erlernt hatte, aber ausgezeichnet beherrschte, sodass er später zu den großen Meistern der englischen Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts zählte. In den folgenden Jahren verfasste er weitere Romane und Geschichten: An Outcast of the Islands (1896, dt. Der Verdammte der Inseln (1934)), The Nigger of the „Narcissus“ (1897, dt. Der Nigger von der „Narcissus“ (1951), Neuübersetzung Der Niemand von der „Narcissus“. Eine Geschichte vom Meer (2020)) oder den Erzählband Tales of Unrest (1898, dt. Geschichten der Unrast) mit fünf Erzählungen.
Der literarische Durchbruch gelang Conrad dann mit den beiden Romanen Lord Jim: A Tale (als Fortsetzungsgeschichte 1899-1900, dt. Lord Jim (1962)) und Heart of darkness (1902, dt. Herz der Finsternis (1926)). Lord Jim erzählt von einem jungen Ersten Offizier voller hochfliegender Ideale, der jedoch auf einem Pilgerschiff in einem winzigen Augenblick der Gefahr einen schrecklichen Fehler begeht und über Bord des leckgeschlagenen Schiffes springt. In einem Prozess muss sich Jim verantworten und er verliert sein Seemannspatent. Im zweiten Teil der Handlung versucht er, auf einer fiktiven, entlegenen Insel im malaiischen Archipel seine Ehre zurückzugewinnen.
Heart of darkness ist die zentrale Erzählung in Conrads literarischem Schaffen. Im Winter 1889 hatte er im Auftrag einer belgischen Handelsgesellschaft das Kommando auf einem schäbigen Flussdampfer, der ihn auf dem Kongo weit in das Innere des afrikanischen Kontinents brachte. Auf diesen Erfahrungen basierend ist die Erzählung der Bericht des fiktiven Kapitäns Charles Marlow, der Hunderte Meilen stromaufwärts den erfolgreichen Handelsagenten Mr. Kurtz aufsucht, der mit äußerster Brutalität unvorstellbare Mengen an Elfenbein der Gesellschaft sichert. Schockiert von dem grausamen Umgang der Weißen mit den Einheimischen, schildert Conrad mit erzählerischem Realismus die Gräuel der Kolonialherrschaft, geprägt von Macht, Gewinnstreben, Korruption und Unterdrückung. Herz der Finsternis führt aber nicht nur in die „tiefste Schwärze Afrikas“ sondern auch in die dunklen Abgründe der menschlichen Natur. Die Erzählung ist eine der ersten düsteren Schilderungen des europäischen Kolonialismus und eine Kritik an der westlichen Zivilisation. Drei Jahre später veranlassten die unmenschlichen Zustände im Kongo den amerikanischen Schriftsteller Mark Twain (1835-1910) zu seiner Streitschrift King Leopold’s Soliloquy (1905, dt. König Leopolds Selbstgespräch (1961)).
Trotz des literarischen Erfolges von Lord Jim und Heart of darkness waren die ersten Jahre von Conrads Schriftstellerlaufbahn jedoch oft von materieller Not geprägt. Auf Fürsprache von Henry James (1843-1016), dessen Bücher er während seiner Seereisen verschlungen hatte, bekam Conrad 1902 eine Zuwendung von 300 Pfund vom Royal Literary Fund, womit seine desolate finanzielle Situation etwas gemildert wurde. Neben Henry James war Conrad auch mit den beiden Schriftstellerkollegen John Galsworthy (1867-1933) und Ford Madox Ford (1873-1939) näher befreundet. Mit Letzterem arbeitete er oft eng zusammen; gemeinsam veröffentlichte man u.a. den Kurzroman The Nature of a Crime (1909, erst 1923 veröffentlicht, dt. Die Natur des Verbrechens (2023)), der nach hundert Jahren erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt.
Mit Nostromo: A Tale oft he Seaboard (1904, dt. Nostromo. Eine Geschichte von der Meeresküste (1927)) schuf Conrad einen weiteren vielbeachteten Roman, der heute als einer der wichtigsten englischen Romane des 20. Jahrhunderts angesehen wird. Die Handlung spielt in dem fiktiven südamerikanischen Land Costaguana, in dem sich alles um „das Silber“ dreht. Eine ertragreiche Silbermine wird zum Gegenstand machtvoller Interessen im In- und Ausland und Conrad zeigt eindrucksvoll die katastrophalen Auswirkungen von Gier und Korruption auf die Gesellschaft. Der komplexe politische Roman stellte mit der Zersplitterung der natürlichen chronologischen Abfolge und den wechselnden Erzählperspektiven einen wichtigen Schritt zur Auflösung der traditionellen Romanform dar.
Erst 1913, im Alter von 57 Jahren stellte sich mit dem Roman Chance (1913, dt. Spiel des Zufalls (1926)) der kommerzielle Erfolg ein. Conrad beschäftigte sich hier mit sozialen Themen im Zusammenhang mit Feminismus und Finanzspekulationen. Der Roman wurde in Großbritannien und in Amerika ein Bestseller. Conrad schrieb 15 Romane, 30 Erzählungen, zahlreiche Essays sowie Theaterstücke. Sein letztes Werk Suspense – A Napoleonic Novel (1925, dt. Spannung – Ein Roman aus Napoleonischer Zeit) blieb unvollendet. Joseph Conrad starb am 3. August 1924 in Bishopsbourne, Grafschaft Kent, England.
Joseph Conrad wollte in seinen Werken der Wirklichkeit gerecht werden, mit all ihren Abgründen und Widersprüchen. Das Meer mit seinen Naturgewalten war sein erzählerisches Terrain, es sind Geschichten von Schiffen und Stürmen, von Katastrophen und Kameradschaft. Doch Conrad fühlte sich als „Schriftsteller der See“ oder gar als „Kipling der Meere“ missverstanden. Ihm ging es weniger um die Beschreibung exotischer Welten, sondern um den Menschen in schicksalhaften Entscheidungssituationen.
Conrads Werke wurden in viele Sprachen übersetzt. Ab 1926 erschien bei S. Fischer eine Werkausgabe in deutscher Sprache, zu der u.a. Thomas Mann und Jakob Wassermann begeisterte Vorworte besteuerten. Viele der berühmten Erzählungen von Conrad sind später auch verfilmt worden. So diente die Novelle Heart of darkness als Vorlage für den Antikriegsfilm Apocalypse Now (1979, u.a. mit Marlon Brando) des amerikanischen Regisseurs Francis Ford Coppola, wobei die Handlung in die Zeit des Vietnamkrieges gelegt wurde.
Heute ist Conrad zwar nicht mehr der Erfolgsschriftsteller, der er zu Beginn des 20. Jahrhunderts war, gleichwohl gilt er immer noch als einer der bedeutenden Schriftsteller der Moderne. Der Literaturhistoriker John Stape, der sich seit Jahren mit dem Leben und Werk von Joseph Conrad beschäftigt, schreibt in seiner Biografie The Several Lives of Joseph Conrad (2007, dt. Im Spiegel der See – Die Leben des Joseph Conrad (2007)): „Conrad ist unbestritten ein bedeutender Schriftsteller, weil er die Sichtweisen seiner Generation und der Nachwelt verändert hat. Im Ganzen betrachtet ist er aber vermutlich kein ganz ,großer‘ Romanschriftsteller, da ihm – ganz knapp – die eisige Perfektion eines Stendhal oder Flaubert abgeht, worin er Tolstoi oder Dostojewski ähnelt.“
Die Werke von Joseph Conrad werden seit Jahrzehnten regelmäßig in deutschen Übersetzungen (und Neuübersetzungen) herausgegeben, in letzter Zeit auch verstärkt als Hörbuch. Zu seinem diesjährigen 100. Todestag sind ebenfalls einige Neuausgaben erschienen, die hier kurz aufgelistet sind.
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