Wider einen Gemeinplatz der Literaturgeschichtsschreibung

Ein von Stefan Knödler herausgegebener Sammelband lädt zur neuerlichen Beschäftigung mit Hermann Kurz ein

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Band geht auf eine Tagung zurück, die in Tübingen anlässlich des 200. Geburtstages des Autors im Jahr 2013 stattfand. Er versammelt 14 lesenswerte Beiträge. Sie tragen alle zum Ziel des Bandes bei, zur „weiteren Beschäftigung mit Hermann Kurz an[zu]regen“. Einen Anhang (beispielsweise Primär- und Sekundärliteratur, Titel- und Personenverzeichnis, Biographien der Beiträgerinnen und Beiträger) gibt es leider nicht.

In seiner Einleitung stellt der Herausgeber zu Recht heraus, dass die „Vielfalt“ von Kurz‘ „Qualitäten und Interessen“ bislang so gut wie nicht „gewürdigt“ wurde: „Neben dem Dichter stehen der Übersetzer, der Literaturwissenschaftler, der Historiker, der Mediävist, der Journalist und Redakteur, der Volkskundler, der Aktivist.“ Einen Grund dafür sieht Knödler darin, dass Kurz in keine „Epochenschublade zu stecken“ ist: „Mit den frühen Gedichten und Erzählungen gehört er dem Biedermeier an, mit den politischen der 1840er Jahre kann man ihn zum Vormärz rechnen, seine beiden Romane sind Hauptwerke des deutschen, wenn nicht des europäischen Realismus.“

Der den Band eröffnende Beitrag „Ironie und Aktualität. Melancholische Anmerkungen zur Halbwertzeit des Humors“ von Hermann Bausinger grenzt zunächst Humor von Witz ab, um dann in einem zweiten Schritt zwischen „sinnlich-anschaulichem Humor und Humor in der Form geistiger Verknüpfung“ zu unterscheiden – bei Kurz finden sich beide Formen. Um sich an Humor in der Form geistiger Verknüpfung verstehend zu erfreuen, so die zentrale These, bedürfe es des verständigen Wissens um historische Hintergründe gesellschaftlicher, sozialer, politischer und kultureller Art.

„Landschaft und Landesgeschichte, Nähe und Ferne im Werk von Hermann Kurz“ (Untertitel) lautet das Thema des Beitrags von Wolfgang Alber. Der „Weltschwabe“ Kurz wurzele in seiner „Landschaft, die Mensch und Natur, Geschichte und Kultur geformt, überformt haben. Er kann den kleinen Kosmos literarisch groß gestalten, weil er ihn als weiten Horizont imaginiert und sich zugleich auf inwendige Entdeckungsreise begibt.“ Ungeachtet fremdländischer Schauplätze in einigen Werken bewege sich Kurz doch vornehmlich in der „Gegend zwischen Neckar und Fils, Alb und Albvorland“.

Das Thema von Ute Schneider lautet „Hermann Kurz und die Stuttgarter spekulative Richtung im Verlagsbuchhandel“. Einleitend geht es um den „deutsche[n] Buchmarkt im Prozess der Industrialisierung“ und um „Stuttgart als Verlagsplatz und Unternehmensstandort“, dann und hauptsächlich um „Hermann Kurz und seine Verleger“. Ein Fazit des kenntnisreichen Beitrags lautet: „Kurz’ ständige Querelen und Auseinandersetzungen mit Verlegern, seine Nöte, seine permanenten Geldsorgen waren […] keineswegs singulär in der Sozialgeschichte des Schriftstellers im 19. Jahrhundert“, sie waren vielmehr „typisch[]“.

Ausgehend von zwei Aufsätzen von Hermann Kurz aus dem Januar beziehunsgsweise Februar 1837 geht der Herausgeber Stefan Knödler anhand von frühen Erzählungen und den Romanen Schillers Heimatjahre und Der Sonnenwirt der „Geburt des realistischen historischen Romans aus dem Geist des Volksbuchs bei Hermann Kurz“ (Untertitel) nach. Kurz habe „selbst zwei Lösungswege“ „für das Realismus-Problem beim historischen Roman“ gefunden: Verringerung der historischen Distanz zum einen und „,im Dienst der Wahrheit zu lügen‘“, zu Verlebendigen und sich jeder Moral zu enthalten zum anderen.

Katharina Grätz’ ebenso perspektivenreiche wie gründliche Beschäftigung mit Kurz’ Sonnenwirt „in Abgrenzung“ zu den Bearbeitungen des Stoffes um den Gastwirtssohn Friedrich Schwan von Abel und Schiller gehört zu den Höhepunkten des Bandes. Grätz liest den Sonnenwirt, diese „Synthese von Poesie und Historiographie“, als „exemplarisches Werk des Historismus“, hebt aber hervor, dass es Kurz nicht um „Verklärung und Idealisierung“ gehe, „sondern um die Stiftung eines kritischen Geschichtsbewusstseins“. Bei Kurz sei „eine deutliche Akzentverschiebung hin zum Zeit- und Sittenbildlichen zu beobachten.“

Auch Ulrich Gaier beschäftigt sich mit dem Sonnenwirt. In intensiver, theoretische Kontexte um das „Böse“ im Menschen berücksichtigender Arbeit am Text geht es Gaier um die im Roman offengelegte „,Nachtseite der alten Gesellschaft‘“, also um die von Friedrich Schwan angeklagten „Gauner und Räuber in der scheinheilig ehrbaren Bürgerschaft, insbesondere bei der Obrigkeit selbst“. Von daher könne der Roman, der letztlich der Frage „,wie es kommen konnte‘“ nachgehe, auch als „Kampfschrift“ aus dem Geist von „Realismus und Sozialismus“ gelesen werden.

„Recht und Unrecht in Hermann Kurz’ Der Sonnenwirt“ lautet der Titel des beeindruckenden Beitrags von Selma Danisman Olmedo. Olmedo begreift den Text mit Joachim Linder „als Analyse einer in Normen und Konventionen […] erstarrten heuchlerischen Gesellschaft sowie als Manifestation des Abscheus und Ekels vor dieser Gesellschaft“. Sie zeigt, „dass die geltende Rechtsordnung Unrecht produziert und den Verbrecher dadurch überhaupt erst macht.“ Literatur à la Kurz und Schiller formuliere „alternative Bewertungsmaßstäbe zur geltenden Rechtspraxis“ und rufe dazu auf, die „geltende[] Rechtspraxis zu verändern.

In Helmuth Mojems Beitrag „Die ‚demagogische Krankheit‘ und ihr Überwinder“ geht es um das damals hochaktuelle Cholera-Motiv in Kurz’ früher Novelle beziehungsweise frühem Roman Lisardo. Freilich gehe es nicht um die Cholera als solche, sondern um deren Funktion, die „Eigenart“ Lisardos, „den Kern seines Wesens ans Licht zu bringen.“ In einer auf gesellschaftliches Chaos und „Revolution“ hinauslaufenden Situation erweise sich Lisardo als ordnender Ausnahmemensch. Kurz feiere mit ihm „den Napoleonischen Mythos des Helden der Tat“. Dieser Mythos ende freilich in einem „biedermeierliche[n] Familienidyll“.

Gegenstand des aus geschichtsphilosophischer Perspektive argumentierenden Beitrags „Vollendete Vergangenheit“ von Sikander Singh sind fünf restaurativ grundierte, der Vergangenheit das Primat über die Gegenwart zuschreibende Erzählungen und Novellen (vergleiche Dichtungen, Erzählungen, 3 Bände) von Kurz. Es gelte, einen Schriftsteller „in seiner ästhetischen Eigenart und poetologischen Signifikanz wahrzunehmen“, der für die „Geistesgeschichte der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert“ aussagekräftig sei. Kurz’ Novellen und Erzählungen ästhetisierten „die Verlusterfahrungen einer Generation.“

In „Perspektiven der mittleren Form“ diskutiert Lothar L. Schneider souverän das „Novellenkonzept“ von Kurz. In diesem Zusammenhang geht er auch auf „einige zentrale Begriffe der Novellenpoetik“, auf die „Novellentheorien Reinbecks und Heyses“ und auf übergeordnete Fragen zum Novellen-Diskurs des 19. Jahrhunderts ein. Kurz’ bekannteste und späteste Novelle Die beiden Tabus wird als „Meta-Novelle, d.h. als inszenierte Novellen-Poetik“, sowie als „Auseinandersetzung“ mit der „zeitgenössisch populären […] Dorfgeschichte“ gelesen.

Das Interesse von Georg Braungart gilt der „Mythologie und Erdgeschichte“ überblendenden, stark im „populären Wissen der Zeit“ ruhenden „,antediluvianische[n]“ Geschichte“ Die Liebe der Berge. Diese, die Kurz in einer stark überarbeiten zweiten Fassung Bergmärchen nannte, blieb als ein „abenteuerliches Konstrukt“ ungedruckt. Der wissenschaftlich wohl nicht sehr sattelfeste junge Kurz amalgamiere sich ausschließende geologische Theorien und kombiniere diese mit „Konventionen schwäbischer Sagendichtung“. Was so entstand, sei eine „allegorische Heimatsage […], die jeden idyllischen Rahmen sprengt.“

„Publizität und Zensur“ ist der Beitrag von Dietmar Till überschrieben. Er verhandelt Hermann Kurz’ „dezidiert politische Programmschrift“ Die Gegenwart und das freye Wort. Abstimmung eines Poeten in politischen Angelegenheiten aus dem Jahr 1845, geht aber zunächst auf die wichtigsten „literatursoziologischen und historischen Hintergründe“ dieser „kulturhistorisch, ja eigentlich „nationalmythologisch“ verfahrenden Schrift ein. Im Einzelnen geht es dann um Kurz’ „zentral[e] Standpunkte […] zur Frage der ,Pressfreiheit‘ und um einen „,aktualisierende[n] Kontextualisierungsversuch“ – Kurz als „Diskurstheoretiker“.

Auch Christian Jansen rückt den Citoyen Kurz in den Blick, und zwar als „politische[n] Kommentator“ und hinsichtlich seiner „Pläne für eine demokratisch-föderalistische Nationsbildung in den 1850er Jahren“. In der Frage der „Nationalstaatsbildung“ argumentiere Kurz für einen „Deutschen Bund“, der sich aus Österreich, Preußen und einen aus den „Mittel- und Kleinstaaten“ zu bildenden „Bundesstaat ‚Deutschland‘“ zusammensetze. Seine Skizze einer Verfassung erinnere an „Rätemodelle“ à la Proudhon. Kurz’ auf „friedliche“ Veränderungen zielende Vorschläge seien am „bellizistischen Zeitgeist im liberal-nationalistischen Lager“ gescheitert.

Schließlich Mattias Slunitschek: Der beschäftigt sich höchst kenntnisreich mit der „über 30-jährigen Beziehung“ von Hermann Kurz und Berthold Auerbach. Dieser Beschäftigung ist als Anhang die vollständige Korrespondenz der beiden „Dichter“ beigegeben, die „bei allen Gemeinsamkeiten durchaus verschiedene poetologische Positionen einnahmen.“ Slunitschek zeigt das detailliert an den jeweiligen Bearbeitungen des Apollonia-Stoffes, unter anderem aber auch an Auerbachs Friedrich der Große von Schwaben, Kurz’ darauf reagierender Auerbach-Parodie Auch eine Dorfgeschichte und seiner Besprechung des Textes, Auerbachs Essay Schrift und Volk sowie an Kurz’ Reaktion darauf.

Titelbild

Stefan Knödler (Hg.): Hermann Kurz (1813–1873). Das blaue Genie.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2024.
271 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783825366711

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