Die koloniale Wurzel der französischen Theorie

Onur Erdur untersucht in “Schule des Südens” das lange unbeachtet gebliebene koloniale Setting der French Theory

Von Stephan WoltingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Wolting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die auf den ersten Blick schwer zu verbindenden Begriffe im Titel geben die Zielrichtung der Untersuchung vor: Schule des Südens, koloniale Wurzeln und französische Theorie. Der nicht unumstrittene Begriff Französische Theorie ist vom englischen Begriff der French Theory übernommen, jener Sammelbezeichnung der „Philosophie“ des Posthistoire, der Postmoderne, des Poststrukturalismus oder des Dekonstruktivismus et cetera, die über viele Jahre an angelsächsischen, vor allem amerikanischen Hochschulen, breite Resonanz fand. Nach Auffassung des „neuen deutschen Philosophiestars“ Markus Gabriel, aber auch seines Turiner Kollegens Maurizio Ferraris, dauerte die Blütezeit der Postmoderne bis ins Jahr 2011 und ist seitdem von einem Neuen Realismus abgelöst worden.

Wie ist es nun um den Konnex des Kolonialismus beziehungsweise von Theorien des Dekolonialismus und den biographische Verwurzelungen der Vertreterinnen und Vertreter in Tunesien, Marokko, und vor allem in Algerien bestellt? Es ist das Verdienst des 1984 im südanatolischen Diyarbakır geborenen Ideenhistorikers diese Bezüge aufgedeckt zu haben. Elisabeth von Thadden nennt das Buch in der Zeit „das Buch des Sommers“.

Dem Werk wird der Begriff der verschiedenen Arten von Identität (religiös, politisch, kulturell) auch ex negatione (bei Derrida und Rancière) als Folie unterlegt, der seit einigen Jahren so schillernd wie zum Teil nichtssagend zugleich daherkommt. Das sollte aber nicht vorschnell als Kritik an Identitätspolitik oder Wokenesskonzepten verstanden werden, wenn Erdur zugleich betont: „Wie keine andere Strömung des 20. Jahrhunderts bildete gerade die französische Theorie einen Denkstil aus, der gegen die Identität und für die Differenz, gegen das Zentrum und für die Peripherie, gegen das Hegemoniale und für das Minoritäre eintrat.“

Zugleich stellt sich damit die Frage, ob Philosophieren einen Ort hat und inwieweit die Philosophen immer vom Rand kommen oder „Flüchtlinge aus der Fremde“ sind, so wie es Guattarie und Deleuze behauptet hatten – und inwieweit Reisen und Erzählen eine Form der Auseinandersetzung mit der Fremde wie mit sich selbst ist.

Der bisherigen mangelnden Beachtung dieses Themenkomplexes tritt der Autor mit seinem übersichtlichen Werk und der Berücksichtigung von acht Autorinnen und Autoren (in der folgenden Reihenfolge) entgegen: Pierre Bourdieu (unter dem Titel Ein algerischer Bildungsroman), Jean-Francois Lyotard (Hoffnungslose Widersprüchlichkeiten), Roland Barthes (Marokkanische Erleuchtung), Michel Foucault (Genießen und Schweigen), Jacques Derrida (Unbehagen an der Identität), Hélène Cixous (Höllisches Paradies), Étienne Balibar (Lektionen in Antirassismus) und Jacques Rancière (Desidentifiziert euch).

Erdur erwähnt, dass er auf eigene Kapitel zu Denkerinnen und Denker wie Jean-Paul Sartre, Simnone de Beauvoir, Albert Camus, Frantz Fanon, Germaine Tillion oder Raymond Aron verzichtet, zudem ist er auf Alain Badiou, der in Marokko geboren ist, oder auch auf Pierre Latours Aufenthalt in der Elfenbeinküste, nicht näher eingegangen.

Pierre Nora wird erwähnt, dabei wäre hinzuzufügen, dass Algerien in Noras berühmten dreibändigen Band Les lieux de memoires von als französischer Erinnerungsort nicht auftaucht. Von weitreichendem wissenschaftlichem Interesse könnte es sein, das genannte Werk im Vergleich zu Barthes Mythen des Alltags zu betrachten, dessen koloniale Wurzeln und Bezüge Erdur explizit herausstellt. Der Autor weist zudem darauf hin, dass bei all diesen erwähnten Autorinnen und Autoren vor allem kleinere Beiträge Erwähnungen finden, es bislang, bis auf Cicoux, kein wirklich „großes Werk“ zu dem Thema erschienen ist. Insgesamt scheint es dennoch erstaunlich, dass das „koloniale Setting des französischen Denkens so lange unbeachtet blieb.“

Erdur stellt sich die Frage, inwiefern das Aufwachsen oder Kindsein in Algerien,Marokko oder Tunesien, beziehungsweise die Aufenthalte und (selbst) gewählte Orte der Erwähnten ihre Philosophie und theoretischen Konzeptionen beeinflusst haben. Der Autor fällt keineswegs in einen unzulässigen Biographismus, interpretiert deren Werke nicht allein aus deren Lebensgeschichte. Stattdessen deutet er die Verbindung von Denk- und Lebenslinien in den Werken der Autoren an, denen sich diese größtenteils selbst durchaus bewusst waren.

Dabei zeigen sich Parallelen zwischen Bourdieu und Lyotard, zwischen Barthes und Foucault und zwischen Derrida und Cixous, die eine lebenslange Freundschaft pflegten, und zwischen Balibar und Rancière. Derridas Beschreibung seiner Beziehung zu Algerien geschieht beinahe „en passant“, als der Verfasser darauf verweist, dass Derrida in dem Film Derrida, anderswo (Derrida d´ailleur) von Safaa Fathys den jüdisch-algerischen Musiker Lili Sabassi im Auto auf dem Weg zur Ecole Superieure hört und meint: „Die École Normale mit dem Soundtrack von Lili Labassi, das ist nicht schlecht.“ Bourdieu und Lyotard verkörpern jene unter den Genannten, die sich praktisch und theoretisch theoretisch politisch in Bezug auf Algerien und die nachkoloniale Situation engagiert haben. Bei Bourdieu erscheint hier im Vergleich der kabylischen und pyrenäischen Bauern zum ersten Mal der später für ihn so bezeichnend werdende Begriff des Habitus. Barthes und Foucaults frönten eher einem Hedonismus in ihrem Leben in Nordfafrika. Während Foucault über viele Jahre lang zu der politischen Lage in Tunesien „lauthals schweigt“, lässt sich bei Barthes schon erkennen, dass viele in Marokko erhaltene Impulse in sein Werk, etwa in Mythen des Alltags, eingeflossen sind. Derrida und Cixous kamen beide aus einem algerisch-jüdischen Elternhaus und litten unter vielfältiger Diskriminierung, weshalb für sie Arten der Identifikation und Anti-Identifikation eine besondere Rolle spielten (bei Cixous sicherlich noch stärker als bei Derrida, der sich erst spät dazu äußerte). Bei Balibar und Rancière machen sich vor allem jene Einflüsse bemerkbar, die sich auf ihr theoretisches Werk auswirken sollen.

Erdur verbindet einige dieser theoretischen Positionen durch die These, wonach ein gewisser „Denkstil nicht etwa in Pariser Bibliotheken, sondern am Strand von Tunis und in den Straßen von Algier entstanden ist.“ Nicht zuletzt deshalb scheint auch der Begriff French Theory unangebracht. Vereint sind diese Positionen darüber hinaus in ihrer Haltung von „Schuld und Sühne“, durch die am eigenen Leib, beziehungsweise der eigenen Existenz, erfahrenen Kolonialerfahrung, dass sie zu den einflussreichsten Denkerinnen und Denkern werden konnten angedenk einer brutalen Kolonialgeschichte mit dem verlorenen Kriegen in Algerien oder etwa auch in „Indo-China“, einer anderen Kolonie. Dazu sprechen fast alle von einem „Erweckungserlebnis in den Kolonien“. Die asymmetrischen kulturellen wie gesellschaftlichen Verhältnisse werden etwa besonders augenfällig daran, dass zu dieser Zeit 4 Fünftel des französischen Tafelweins in Norafrika von Menschen produziert wurden, die diesen Wein selbst nicht tranken.

Obwohl nicht im strengen Sinne zur französischen Theorie gehörend, scheint es zunächst erstaunlich dass dem Urvater der Algerienbeschreibungen und Mitbegründer des Existenzialimus, Albert Camus, kein eigenes Kapitel gewidmet ist. Im weiteren Verlauf versteht man aber, dass Camus – obwohl er einer der wenigen ist, der Algerien wirklich in seinem Werk immer wieder zum Gegenstand macht, in „Die Pest“ (dem Werk lag ja die Chronik einer wirklichen Cholera in Oran im Jahre 1848 zugrunde), Der Wind von Timpasa“, „Sommer in Algier“, „Der erste Mensch“, – streng genommen nicht in diese Auswahl der Autoren hineingehört. Auch Louis Althusser wäre in diesem Sinne noch zu nennen, der die Zeit in dem Band „Die Zukunft hat Zeit“ selbst thematisierte, sich aber durch den Mord an seiner Frau auch theoretisch selbst marginalisiert hatte.

Das Buch bietet vor allen Dingen einen wichtigen Impuls und Inspirationsraum zum gemeinsamen Nachdenken über die Entstehung theoretischer Konzepte im algerischen bzw. nordafrikanischen Kontext.

Die einzelnen Kapitel werden von der Einleitung Im Süden der Theorie, dem Kapitel Wer hat Angst vor der Theorie und dem Schluss Die Fremden eingerahmt, was es noch einmal auf den Punkt bringt: Alle hier geschilderten Denkerinnen und Denker blieben Fremde in der Schule des Südens und doch sind ihre Werke in einem bislang unbekannten Maße von ihrem Leben und Wirken in den Maghreb-Statten beeinflusst, was innerhalb der Forschung lange Zeit nicht ausreichend beachtet wurde. Inwieweit und wie groß der Einfluss war, das beschreibt der Autor sehr eindringlich bis ins Detail und hütet sich aber zu Recht vor einer verabsolutierenden Meinung. Das Resümee des Autors lautet:

Man kann für eine politische Sache eintreten, ohne daran alles richtig zu finden. Man kann sich also engagieren, ohne dabei allem vollumfänglich zustimmen oder alle Prämissen teilen zu müssen. An diese Möglichkeit der Gleichzeitigkeit sollte man sich auch dieser Tage wieder erinnern. Denn es lohnt sich, nicht immer schnelle moralische Urteile zu fällen und stattdessen eine politische Ethik zu entwickeln, die Differenzierung zulässt.

Darüber hinausgehend stellt er die Frage: „Was lässt sich im Guten wie im Schlechten aus den Erfahrungen der französischen Intellektuellen lernen?“ Erdurs Antwort darauf lautet: „(…) Sie kamen in Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus zu theoretischen Erkenntnissen und politischen Positionen, die es wert sind, erzählt zu werden.“

Titelbild

Onur Erdur: Schule des Südens. Die kolonialen Wurzeln der französischen Theorie.
Rohstoff (Matthes & Seitz Berlin), Berlin 2024.
335 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783751820202

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