Mit Goethe im Heizungskeller
Jörg Neugebauers „Und jetzt erst sehe ich dich: Ein Quintett“ verbindet grotesk-fantastische Sprachkostbarkeiten in Prosa mit melancholischer Verlustlyrik abseits der Larmoyanz
Von Marcus Neuert
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseJörg Neugebauer, geboren 1949 in Braunschweig, lebt heute in Neu-Ulm und ist seit etwa der Jahrtausendwende vor allem als Lyriker, Kurzprosa-Autor und Rezitator hervorgetreten. Seine Zielrichtung ist das Absurd-Komische, was sich schon in einigen Titeln seiner Gedicht-Publikationen wie Brüllende Apparate (Bonn 2004) oder Jimi Hendrix traf Kafka und fragte ihn nach der Uhrzeit (Potsdam 2015) widerspiegelte. Ist dies vielleicht das Ergebnis der literarischen Reflexion eines Menschen, der einst in München und Tübingen geisteswissenschaftliche Studien in Philosophie, Geschichte und Germanistik treiben durfte und dann – quasi aus elfenbeinernem Turm – in den Strudel des Alltäglichen als langjähriger Gymnasiallehrer gekippt wurde?
Es mutet jedenfalls so an, als spräche da jemand aus der Tiefe seiner Erfahrungen, der aber dennoch weiß, dass er nichts weiß, und der dem Leben nur in der Gestalt eines dichtenden Narren entgegentreten kann. Doch nur in diesem Nicht-Ernstnehmen seiner Umwelt kann für Neugebauer die Haltung gegenüber allfälliger Überheblichkeit, Selbstüberschätzung, Dummheit oder ganz einfach auch abgrundtiefer Langweiligkeit der Mitmenschen bestehen. Und er verfällt nicht dem Fehler so vieler, sich selbst für besser zu halten und vor solchen Untugenden gefeit zu sein.
In seinem neuesten Werk Und jetzt erst sehe ich dich vereinigt er Kürzestgeschichten und Prosanotate auf der einen und feinsinnige Alltagslyrik auf der anderen Seite miteinander. Das Skurrile ist immer präsent, doch in den Gedichten scheint dem lyrischen Ich zudem ein konkreter Lebensmensch abhanden gekommen zu sein; sie sind der leisere, anrührendere Teil der Sammlung, die aus drei Kapiteln Prosa und zwei symmetrisch eingeschobenen, vergleichsweise kurzen Abteilungen in Versform besteht.
Das dergestalt entstandene Quintett, so der Untertitel, beginnt mit dreizehn kurzen Prosastücken unter dem Titel Moralisch im Lot. Auf einer halben bis maximal zweieinhalb Seiten frühstückt Neugebauer die ganze Palette zeitgeistigen Irrsinns ab. So nimmt er in Halbargentinier die Verwerfungen hippen Identitätswahns aufs Korn, in Tugend-Mopp das schon fast krankhafte Dazu-gehören-Wollen zur Fraktion der (vermeintlich) Guten. In Fest im Sattel beschreibt er mit den Mitteln der Satire eine schleichende Ent-Demokratisierung, die sich als Entbürokratisierung tarnt und genau diejenige Normativität der staatsbürgerlichen Existenz erzeugt, der sie vorzubeugen vorgibt:
Ja, ich darf sagen, wir, die Gesamtheit aller Verwaltenden, agierten zunehmend wie Eine Person. […] Dergestalt geeint in dem Willen, keinerlei Abweichung von unserer spezifischen Vielfalt zu dulden, lösten wir oder die Eine Person, die wir nunmehr waren, zu guter Letzt auch die Regierung auf, wählten mein Pferd zum Staatsoberhaupt und blickten fortschrittlich entspannt in die Zukunft.
Caligula lässt grüßen. Ob ein wieder aufkeimender Militarismus aus der Mitte der Gesellschaft, ein in linksliberalen Kreisen längst ausgestorben geglaubtes duckmäuserisches Denunziantentum oder eine Reichsbürger-Regierung unter dem „Erbprinz von Schubladen“, die „in einem feierlichen Akt den ersten Weltkrieg rückgängig“ macht – alle real existierenden oder imaginierten Absurditäten werden bei Neugebauer auf ironische Art und Weise literarisiert.
Unwirklich und fantasievoll wirken die in den Kapiteln Irgendwas stimmt hier nicht mit den Zahlen und Der See stellt uns die Leiter versammelten Gedichte, die sich vordergründig oft mit dem Leben und dem Schreiben, im Kern aber vor allem mit dem Tod beschäftigen wie in wenn alle gehen:
wohin auch immer
bleibst du zurück
ein Zimmer mit Aussicht
und Blumen
die Köpfe gesenkt
stehen Menschen
von irgendwo oben
wo manche den Himmel vermuten
erklingt noch Applaus
bleibst du zurück
ein Zimmer mit Aussicht
und Blumen
die Köpfe gesenkt
stehen Menschen
von irgendwo oben
wo manche den Himmel vermuten
erklingt noch Applaus
Die Ironie ist in diesen Gedichten allenfalls noch ein fernes Echo, das sich mit der Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen verwebt wie in Unten am Fluss, wo ein lyrisches Ich vom „Liebes-Stelldichein“ mit einer Verstorbenen träumt, „bis es dann Zeit wär / und du wieder zurückmüsstest in deine Schatten“.
Doch sobald die Prosa im Kapitel Im Holzlicht des Mondes sowie dem titelgebenden Abschnitt Und jetzt erst sehe ich dich wieder einsetzt, schlagen auch Neugebauers groteske Verzerrungen des Alltagslebens erneut unvermindert zu. In ihnen literarisiert er absurde Situationen mit Exfrauen, Handwerkern, in Heizungskellern und auf Symposien, mit Größen wie Goethe und Kafka, einer desaströsen Hochzeit und dem philosophischen Gespräch mit einem Schneemann. Insgesamt erscheinen diese Texte zeitloser, allgemein-menschlicher als der erste Teil der Kürzestgeschichten, ohne jedoch wirklich weniger aktuell zu sein.
Man kann sich wahrhaft erfreuen am feinen Witz dieser sprachlich so knapp wie genau gefügten Texte, von denen einem viele lange nicht mehr aus dem Sinn gehen, und man fragt sich, woher es wohl rühren mag, dass Jörg Neugebauer nicht schon viel mehr bedeutende literarische Ehrungen zuteil geworden sind als der Jurypreis des Irrseer Pegasus 2007, der FDA-Förderpreis 2008 und ein dritter Platz beim Lyrikpreis München 2012. Vielleicht liegt es an der Bescheidenheit eines Autors, der sich nicht ständig irgendwo um seine literarische Anerkennung bemüht? Oder aber an einer unterschwelligen Geringschätzung des Komischen, Abseitigen und Fantastischen durch Fachjurys in der Literatur, vor allem in der Lyrik? Jedenfalls wäre diesem Autor eine deutlich größere Resonanz für sein subtiles Werk zu wünschen.
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