Zurück an den Küsten der Erinnerung
Angelo Tijssens „An Rändern“ erzählt eine melancholische Reise in die Vergangenheit eines Mannes, der sich seinen Kindheitsdämonen gegenüber sieht
Von Dascha Shnyakina
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAngelo Tijssens Debütroman An Rändern landete sofort nach seinem Erscheinen auf verschiedenen Beststeller-Listen. Dass dieser Erfolg nur wenig überrascht, liegt daran, dass Angelo Tijssens keine unbekannte Person ist. Geboren 1986 im belgischen Blankenberge, ist er ein international gefeierter Drehbuchautor, Theatermacher, Schauspieler und nun Schriftsteller. Erfahrungen im Schreiben besitzt er also schon vorab. Seine Arbeiten wurden zahlreich ausgezeichnet, der Film Close, für den Tijssens das Drehbuch verfasste, war 2023 für den Oscar und den Europäischen Filmpreis nominiert und gewann unter anderem den Großen Preis der Jury in Cannes. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass sein Werk für Gesprächsstoffe bei der Leipziger-Buchmesse gesorgt hat.
Im Kern des Romans steht die Rückkehr eines namenlosen Protagonisten an die Küste seiner Kindheit. Nach dem Tod seiner Mutter kehrt er an den Ort seiner Kindheit zurück, an die belgische Küste, um ihren Nachlass zu sortieren. Dabei taucht er tief in seine Vergangenheit ein. Rückblenden enthüllen eine traumatische Kindheit, in der die Mutter ihn ohne ersichtlichen Grund grausam behandelte. Während seines Besuchs nutzt er die Gelegenheit, seine erste große Liebe wiederzusehen, mit der er einst seine Homosexualität entdeckte, und verbringt auch eine gemeinsame Nacht in einem verlassenen Ferienpark mit seinem früheren Freund, zu dem er seit Jahren keinen Kontakt mehr hatte. Im Mittelpunkt des Romans steht das intensive nächtliche Gespräch zwischen dem Protagonisten und seinem früheren Freund. Dabei reflektieren sie gemeinsam ihre geteilte Vergangenheit, insbesondere ihre erste Liebe und die Entdeckung der eigenen Sexualität. Eingebettet in dieses Gespräch sind Rückblenden, die die traumatischen Erlebnisse des Protagonisten in der Kindheit offenbaren. Der ungewöhnlich gewählte Ort der Erzählung ist eine aufgegebene Ferienanlage. Angrenzend an der Nordsee, erstrahlt Blankenberge zu einer lebendigen Küstenstadt in den Sommermonaten. Abseits der belebten Sommermonate verwandelt sich die Stadt in einen menschenleeren Ort, gezeichnet vom Einfluss des Meeres.
Diese trostlose und traurige Atmosphäre spiegelt sich in An Rändern wider. Der Protagonist kommt radelnd im strömenden Regen bei dem namenslosen Freund an und folgt ihm in den beheimatenden Bungalow. Auf den nächsten Seiten unterhalten sie sich die ganze Nacht über ihren Werdegang und die gemeinsame Vergangenheit. Die Kapitel sind kurz und durch ihre Gespräche wirken sie noch kürzer. Bei der Lektüre fliegt man durch das Buch, ohne zu bemerken, wie schnell man sich dem Ende nähert. Die Zeilen sind geprägt von kurzen, fragmentarischen Sätzen und einer direkten, ungeschönten Erzählweise. Durch diese innere Monologstruktur taucht der Leser tief in die Gedankenwelt des Protagonisten ein, die voller Fragen, Zweifel und Unklarheiten ist und die Unsicherheit sowie die Komplexität seiner zwischenmenschlichen Beziehungen widerspiegelt. Die Gespräche der Figuren changieren zwischen einer schmerzhaften Ehrlichkeit, in der unverblümt über ihre Ängste und Verluste gesprochen wird, und Momenten plötzlicher Stille oder dem Ausweichen vor emotionalen Themen. Diese Wechsel erzeugen eine latente Spannung und spiegeln die Unsicherheiten in ihrer Beziehung wider. Die direkten Fragen und Antworten der Figuren schaffen einerseits eine Konfrontation mit unangenehmen Wahrheiten, während die Momente der Zurückhaltung – etwa das plötzliche Abbrechen eines Themas oder das Ausbleiben einer Antwort – den Eindruck hinterlassen, dass nicht alles gesagt werden darf oder kann.Die Beschreibungen der Umgebung und der atmosphärischen Bedingungen verleihen der Szene eine zusätzliche Intensität, während Tijssens Sprachführung die geheime verletzliche Seite des Protagonisten entblößt, besonders wenn sich der Protagonist in der Gegenwart befindet.
Der Roman eröffnet in der Handlung zwei Zeitebenen, die sich fast nach jedem Kapitel abwechseln. Der Protagonist kehrt immer wieder zu seiner schmerzhaften Vergangenheit zurück und wechselt dabei den Erzählstil: Während die erzählende Gegenwart, in der das nächtliche Gespräch stattfindet, sich auf die Gedanken und Reflexionen des Protagonisten in der ersten Person („ich“) konzentriert, werden die Vergangenheitskapitel mit „du“ angesprochen. Hier werden konkrete Sinneswahrnehmungen wie „du spürst“, „du schmeckst“, „du riechst“ verwendet. Die Vergangenheits-Ausschnitte sind in einer noch intensiveren und bildhafteren Sprache verfasst. Sie ist roher und direkter, ohne dabei an emotionaler Tiefe zu verlieren. Als Leser hat man fast den Eindruck, dass die Misshandlungen einem selbst widerfahren. Die Handlung in der Vergangenheit wird weniger durch wörtliche Rede vorangetrieben, sondern durch die Beschreibung der Ereignisse und die Gedanken des Protagonisten darüber.
Die gestalterische Besonderheit des Buches liegt darin, dass über die unpaginierten 128 Seiten hinweg alles an den äußeren Rändern platziert wurde. Der Text ist nicht mehr zentriert. Die textuelle Gestaltung des Romans zeigt sich buchstäblich an der Platzierung des Textes am oberen rechten Rand der Seiten, während die restlichen Ränder viel weißen Raum haben. Die gestalterische Besonderheit des Romans liegt darin, dass der Text nicht wie üblich mittig auf den Seiten zentriert ist. Stattdessen verläuft er am oberen rechten Rand, sodass weite weiße Flächen die restlichen Seiten dominieren. Diese unkonventionelle Gestaltung verstärkt das Gefühl von Leere und Isolation, das auch thematisch im Roman präsent ist. Der Titel An Rändern lässt sich somit auf drei Aspekte des Buches beziehen: die geografische Lage der Handlung an einer Küste, die besondere Gestaltung der Buchseiten und das Leben der Figuren. Letztere befinden sich sowohl geografisch als auch metaphorisch am Rand des Geschehens. Aufgrund ihrer Sexualität werden sie an den Rand der Gesellschaft gedrängt und ihre Gespräche sind trotz scheinbarer Tiefe oft oberflächlich – sie verbleiben an den Rändern. Nicht nur die Rand-Metaphorik zieht sich jedoch durch den Roman, auch eine große Anzahl an Leerstellen, die auf gestalterischer wie inhaltlicher Ebene bewusst von Tijssen gesetzt werden.Eine zentrale Leerstelle ist etwa die Frage nach der Motivation der Mutter, ihren Sohn zu misshandeln. Tijssens lässt die Gründe dafür bewusst offen. Ebenso bleibt die Zukunft des Protagonisten nach dem nächtlichen Gespräch ungewiss – der Leser muss selbst entscheiden, ob diese Begegnung heilend oder schmerzlich war. Er überlässt es der Leserschaft, diese Lücken mit ihrer Imagination zu füllen.
Angelo Tijssens greift wie andere Autoren der queeren Gegenwartsliteratur große Themenfelder auf, wie etwa Identität, Sexualität und gesellschaftliche Ausgrenzung. Während andere Autoren umfangreiche Eindrücke, Erfahrungen und klare Strukturen liefern, wählt Tijssens bewusst einen anderen Weg. Er führt die Leser empathisch an seine Geschichte heran und vermeidet es, sich in kryptischen Darstellungen zu verlieren. Stattdessen verwandelt er seinen dichten und konzentrierten Roman geschickt zu einer großen Leerstelle. Innovativ ist insbesondere Tijssens Fähigkeit, Leerstellen sowohl inhaltlich als auch formal zu inszenieren, ohne den Leser dabei zu verlieren. Indem er bewusst auf stringente Handlungsstrukturen verzichtet und die Fragmentierung der Kapitel mit kurzen, dichten Sätzen unterstreicht, schafft er eine emotionale Direktheit, die selten in diesem Genre ist. Diese bewusste Offenheit wirkt nicht kryptisch, sondern ermöglicht es, dass sich die Leserschaft eigene Antworten erarbeitet. Das Ergebnis ist ein trauriger und melancholischer Roman, der einen Kloß im Hals hinterlässt.
Der Erfolg des Romans und die überaus sehr positiven Pressestimmen, die ihn als neuen Klassiker der queeren Literatur ernennen, ist verständlich: An Rändern weist einen einzigartigen Stil und eine intensive atmosphärischen Dichte auf, die beeindruckt. Die Fähigkeit von Tijssens, die innere Welt des Protagonisten so authentisch und unmittelbar darzustellen, ist bemerkenswert und lässt den Leser tief in den Roman versinken. Beim Lesen scheint die Zeit stillzustehen. Dennoch lässt der Roman einen mit zwiegespaltenen Gefühlen zurück. Die bewusste Leerstelle, die Tijssens schafft, erfordert eine aktive Mitarbeit, mit eigener Interpretation und Imagination. Dies kann sowohl faszinierend als auch frustrierend sein. Die Oberflächlichkeit der Dialoge und die Tatsache, dass die Charaktere namenlos bleiben, hinterließen gelegentlich ein unbefriedigendes Gefühl und erschweren eine tiefere emotionale Bindung aufzubauen. Unterstützt wird dies durch die Kürze des Buches, die die Intensität und Konzentration der Erzählung zwar verstärkt, allerdings auch das Gefühl hinterlässt, dass etwas fehlt. Der emotionale Höhepunkt ist zwar stark, aber auch schnell wieder vorbei. Trotzdem kann man den Reiz und die Einzigartigkeit von An Rändern nicht leugnen. Es ist ein Buch, das mit seiner Sprache und Struktur fasziniert und definitiv nachhaltig wirkt.
Am Ende bleibt An Rändern ein Roman, der lesenswert ist, aber auch stark polarisiert und sicherlich verschiedene Reaktionen hervorrufen wird. Er stellt einen bemerkenswerten Beitrag zur queeren Literatur dar, aber ob er tatsächlich zum Klassiker werden kann, wird sich zeigen.
Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2024 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2024 erscheinen.
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