Jenseits der Ausstellung

In ihrem Tagungsband thematisieren Wolfgang Zimmermann, Olaf Siart und Marvin Gedigk Geschichte, Kunst und Architektur auf der mittelalterlichen Reichenau

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Bedeutung der klösterlichen und damit auch wissenschaftlich-künstlerischen Kultur der Insel Reichenau im Bodensee mag gegenüber den Aspekten ‚Erholung‘ und ‚Gemüseproduktion‘ lange eher im Windschatten gelegen haben, zuzeiten womöglich sogar in Vergessenheit geraten sein. Allerspätestens mit dem Jubiläumsjahr 2024 ist die kulturhistorische Bedeutung jedoch wieder präsent und wird nicht zuletzt im Rahmen der Großen Landesausstellung Welterbe des Mittelalters – 1300 Jahre Klosterinsel Reichenau gewürdigt. Funde und Befunde werden in opulentem Rahmen dem Publikum vorgestellt und nahegebracht, und womöglich wird auch dem gerade in jüngster Vergangenheit beschworenen ‚europäischen Geist‘ dabei Genüge getan; dokumentiert ist dies durch einen opulenten und umfangreich bebilderten Katalog.

Im Vorfeld wurden in einem Symposium im März 2023 bereits Forschungserträge vorgestellt, die in gewisser Hinsicht – oder besser formuliert: im weitesten Sinne – auch die Rahmensetzung der Ausstellung mitbedingten. Hier wurden Themen und Themenblöcke aufgegriffen, die sich visualisiert und (theoretisch) greifbar in Ausstellung wie Katalog wiederfinden lassen. Als konkretes haptisches Ergebnis des Symposiums liegt der begleitende Band Die Klosterinsel Reichenau im Mittelalter vor, der die Resultate der Tagung zusammenfasst.

Ein kurzes Vorwort zu Rahmenthema und Konferenz leitet das Buch ein, das in insgesamt vier Schwerpunkte unterteilt ist: „Die europäischen Netzwerke der Reichenau im Früh- und Hochmittelalter: Mönchtum, Reformen, Wissenskultur“, „Architektur auf der Reichenau“, „Die Reichenauer Malerei der ottonischen Zeit“ sowie den mit zwei Beiträgen kürzesten Themenbereich zur „Reichenau im Spätmittelalter“.

Die „europäischen Netzwerke“ einleitend, verweist Steffen Petzold in seinem Tagungsbeitrag „Konkurrierende Erinnerungen“ auf unterschiedliche und mit erkennbarem zeitlichem Abstand zum beschriebenen Ereignis erstellten Erinnerungstexte zur um das Jahr 724 anzusetzenden Klostergründung auf der größten Bodenseeinsel. Damit werden Programmatiken erschlossen, die Funde und Befunde in Inertialsysteme einpassen, die der mehrdimensionalen ‚Wirklichkeit‘, wie immer diese auch genau definiert werden mag, nahekommen. Und dazu gehören auch ‚Basisinformationen‘. Kulturell überstrahlt wird die Klosterinsel Reichenau durch ihre Bedeutung im ottonischen Kulturgefüge; aber die Anfänge der Klösterlichkeit liegen bereits früher.

Das gilt ebenfalls für die machtpolitische Verknüpfung von Kirchen und Politik, die von Rutger Kramer und Carine van Rhijn im lesenswerten Beitrag „Das Mönchtum als Stützpfeiler der karolingischen Herrschaft“ in den Blick genommen wird. Ebenfalls auf die Karolingerzeit verweist Albrecht Diem in seinem hervorragenden Text zur „Regulierung des Lebens“ im Kontext karolingischer Klosterregeln und deren reformprägender Auswirkungen auf die klösterliche Lebenspraxis auf der Reichenau. Régine Le Jan („Beziehungen und Politik“) macht mit Blick auf das ebenfalls aus karolingischer Zeit stammende Verbrüderungsbuch transeuropäische Verbindungen, ja nachgerade ‚Netzwerke‘ ausfindig, die – wenngleich primär in einen kirchlichen Kontext verweisend – eben auch „Stützpfeiler“ entsprechender politischer Bestrebungen sein konnten, wenn nicht gar mussten.

Mit dem Beitrag „Reichenauer Wissensnetzwerke im Spiegel zeitrechnerischer Schriften und Kodizes“ stellt Immo Warntjes den bildungspolitischen Aspekt in den Fokus. Dieser Beitrag verlässt denn auch die karolingische Epoche und mag damit als Wegbereitung zu Alison I. Beachs Text „Religiöse Frauen und die Reformprozesse des Hochmittelalters“ dienen, in dem es allerdings nicht auf eine Verlängerung des Zeitgleises ankommt, sondern primär darauf, Perspektivwechsel oder -erweiterungen hinsichtlich klösterlicher Reformprozesse des Mittelalters zu ermöglichen. Oder um es mit den Worten der Autorin zu formulieren: Diese Blickwechsel „laden uns ein, uns eine viel komplexere Reformlandschaft vorzustellen, die von Anfang an auch vor religiösen Frauen bevölkert und gestaltet wurde“.

Mit Katharina Gedigk und René Wetzel („Ab insula ad eremum“) schließt sich der chronologische Kreis insofern wieder, als mit Meinrad ein ‚seltsamer Heiliger‘ und Märtyrer der karolingischen Epoche vorgestellt wird, der im Zuge seiner Peregrinatio nicht nur quasi zum Gründer des schweizerischen Ortes Einsiedeln wurde und dessen Leben und Streben durch diverse Legenden vornehmlich im alemannischen Sprachraum tradiert worden war, sondern der schließlich sogar zum konfessionspolitisch wirksamen homo politicus avancierte, um den (beziehungsweise um die auf Meinrad bezogenen Überlieferungen) sich die Exponenten der Gegenreformation scharten und damit durchaus erfolgreich waren.

Nach dem eher allgemein-kulturgeschichtlich gehaltenen ersten Großbereich folgt der thematisch enger zugeschnittene Abschnitt zur „Architektur auf der Reichenau“. Matthias Untermann führt unter dem zunächst Überraschung auslösenden Titel „Ein Kloster, sieben Kirchen“ komprimiert und zugleich aussagekräftig in die „Baugeschichte der Reichenau“ ein – wobei der Rezensent als Kritikaster vom Wortspiel ‚Baugeschichte(n)‘ eher überzeugt gewesen wäre, handelt es sich doch um die drei Inselkirchen Oberzell, Mittelzell und Unterzell, deren architektonische Entwicklung untersucht wird. Neben dem informativen Text überzeugt hier die Zusammenstellung realer aktueller Fotos mit virtuellen Darstellungen früherer Bauperioden; überdies werden auch Pläne und Grundrisse gezeigt, die das Ganze exzellent abrunden. Marlene Kleiner geht – konzentriert auf das Münster Mittelzell – ebenfalls diesem Ansatz nach, indem sie unter dem Titel „Keine Gründung auf der grünen Wiese?“, ebenfalls durch adäquate Abbildungen belegt, „[n]eue Thesen und offene Fragen zur Baugeschichte des Reichenauer Münsters“ thematisiert.

Das Thema findet seine Fortsetzung bei Andreas Odenthal, dem es um die „Skaraltopographie und Stationsliturgie des Reichenauer Münsters St. Maria und Markus“ zu tun ist. In diesem Zusammenhang werden nicht nur architektonische, sondern auch schriftliche Quellen einbezogen, die das tatsächliche religiöse Leben in diesem Münster aus dem Vorhandenen heraus gut verständlich machen.

Auf den ‚Vater aller (früh-)mittelalterlichen Klosteranlagen‘ schaut Tino Licht, indem er den Blick auf „[n]eue Beobachtungen zu Schriftgeschichte, Wortlaut und Rezeption des St. Galler Klosterplans“ lenkt und damit nicht nur die Region um den Bodensee in den Fokus stellt. Sandra Kriszt geht auf die kleinere Schwester des Münsters ein und stellt „Die Baugeschichte der Stiftskirche St. Peter in Reichenau-Niederzell“ anhand großformatiger Grundrissabbildungen vor. Und vom Detail zum Ganzen geht Burghard Lohrum („Offen – verdeckt – geschlossen“), während er die hochmittelalterlichen Kirchendachwerke der Insel Reichenau in einen – auf Dachkonstruktionen bezogenen – europäischen Kontext setzt.

Ist dieser Beitrag schon eher auf eine pragmatische Perspektive ausgerichtet, gilt dies erst recht für den die Architektur abschließenden Text zu „Häfen und Schiffsländen der Reichenau und ihrer Marktorte“ von Bertram Jenisch. Hier werden anhand archäologischer Funde und Befunde einerseits die Reziprozitäten zwischen Kirche und Welt erkennbar, andererseits aber auch Entwicklungslinien deutlich gemacht, die auf die eine oder andere Weise bis in die Gegenwart reichen. Um das Fazit des Verfassers aufzugreifen, „diese Forschungen stehen noch am Anfang, und man darf mit Spannung die Ergebnisse einer systematischen Erfassung dieser archäologischen Spuren erwarten“.

Der dritte Themenblock „Die Reichenauer Malerei der ottonischen“ Zeit bildet den vermutlich ‚ästhetischsten‘ Aspekt des Tagungsbandes (und sicherlich auch der Ausstellung selbst). Klaus Gereon Beuckers leitet diesen Abschnitt mit seinen „Bemerkungen zur Reichenauer Buchmalerei im 10. Jahrhundert“ ein, in denen – verdeutlicht durch eine adäquate Zahl entsprechender Abbildungen – die wesentlichen Beispiele dieser faszinierenden Handschriften-Illustrationen vorgestellt werden.

„‚Mit diesem Buch möge dir, Kaiser Otto, Gott das Herz bekleiden‘“ ist der Beitrag Jochen Hermann Vennebuschs überschrieben, der – nicht zuletzt wieder einmal anhand zahlreicher farbiger Abbildungen – den Liuthar-Kodex aus dem Aachener Domschatz in den Kontext der Reichenauer Buchmalerei stellt. Der sich anschließende Text „Materielle Pracht und künstlerische Praxis“ von Doris Oltrogge und Robert Fuchs diskutiert passenderweise sowohl das künstlerisch-gestaltende Moment als auch (farb-)technische Fragen der Liuthar-Gruppe. Im abschließenden Beitrag – „Die Wandmalerei von St. Georg in Reichenau-Oberzell und ihr Rückgriff auf die frühbyzantinische Allegorese des Codex Rossano – zieht Rainer Warland Querverbindungen zwischen der liturgisch-bildnerischen Ausgestaltung des Kirchenraums und Traditionen der Buchmalerei.

Der kleine Themenkomplex „Die Reichenau im Spätmittelalter“ beschließt die Sammlung. „Die geistliche Reform der Abtei Reichenau im Spätmittelalter (Harald Derschka) sowie „Zwischen den Zeiten. Gallus Öhem (1441–1521) und seine Cronick des gotshuses Rychenowe“ (Felix Heinzer) weisen grundsätzlich interessante Aspekte der Geschichte der Klosterinsel Reichenau aus. Diese fallen aber – nicht zuletzt weil sie einen Zeitraum deutlich nach der künstlerischen wie theologischen Blütezeit zum Thema haben – hier doch ‚aus dem Rahmen‘ und bieten letztlich auch nicht wirklich die Umsetzung einer Idee von Vollständigkeit, weil entsprechende Linien in die Zeit des Barock und später nicht aufgegriffen werden. Das kann und soll der Qualität der Beiträge keinen Abbruch tun, doch es bleibt an dieser Stelle das Gefühl einer ‚Unwucht‘ im Raume stehen. Endgültig abgeschlossen wird der Band mit einem umfangreichen Literaturverzeichnis, einem Registerteil sowie Quellen- und Abbildungsbelegen.

Die Publikation ist stark durch ihrem Bezug zur Ausstellung und dem Katalogband geprägt; der Tagungsband zeichnet sich vornehmlich dadurch aus, dass hier grundlegende Informationen geliefert beziehungsweise in Bezug auf die Ausstellung ‚vor-gelegt‘ werden, die für das unmittelbare Erlebnis des Ausstellungsbesuchs und auch der Kataloglektüre zwar nicht unabdingbar, aber doch zur Vertiefung in die Thematik dringend zu empfehlen sind. Fundiert ausgearbeitete, lektürefreundlich formulierte und nicht zuletzt gut illustrierte Beiträge machen den unbestreitbaren Wert dieses Bandes aus.

In gewisser Hinsicht mag der Publikation ein hybrider Charakter zugeschrieben werden, weil sie sich offenkundig auch an ein größeres Publikum wendet. Da sich aber auch hinsichtlich entsprechender Essay-Bände die Zeiten dahingehend gewandelt haben, dass die ‚Letternfriedhöfe‘ früherer Tage mittlerweile immer öfter durch umfangreich bebilderte Werke ersetzt werden, bietet Die Klosterinsel Reichenau im Mittelalter auch etwas fürs Auge, zumal die großformatigen und farbigen Abbildungen gerade nicht nur einen bloßen Alibi-Charakter haben. Zuletzt sei unbedingt auf die Möglichkeit hingewiesen, das Werk inklusive dem zugehörigen Ausstellungsband preisreduziert als Reichenau-Set zu erwerben. So oder so, mit oder ohne Besuch der Ausstellung, stellt der Tagungsband eine uneingeschränkt lohnenswerte Anschaffung dar.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Wolfgang Zimmermann / Olaf Siart / Marvin Gedigk (Hg.): Die Klosterinsel Reichenau im Mittelalter. Geschichte – Kunst – Architektur.
Verlag Schnell und Steiner, Regensburg 2024.
352 Seiten, 60,00 EUR.
ISBN-13: 9783795438739

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Titelbild

Badisches Landesmuseum / Wolfgang Zimmermann / Olaf Siart / Marvin Gedigk (Hg.): Das Reichenau-Set. Tagungsband & Ausstellungsband.
Verlagsgruppe Schnell & Steiner, Regensburg 2024.
900 Seiten, 95,00 EUR.
ISBN-13: 9783795439187

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