„Früher haben die Leute einfach gebeichtet“

Timon Karl Kaleyta entwirft in „Heilung“ einen sanatorischen Trip durch Innen- und Außenwelt

Von Dennis BorghardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dennis Borghardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach Die Geschichte eines einfachen Mannes (2021) geht es in Timon Karl Kaleytas zweitem Roman Heilung um Gesundheit, zwischenmenschliche Beziehungen und Wellness-Diktate. Der unter chronischen Schlafstörungen und damit einhergehender Müdigkeit leidende, namenlose Ich-Erzähler begibt sich – auf Drängen seiner Ehefrau Imogen – zu Professor Trinkl, Leiter des Luxussanatoriums San Vita in den Dolomiten, um sich dort von seinem kaum ergründbaren Leiden heilen zu lassen. Dort werden ihm mit Leinöl garniertes Gemüsegulasch und gedämpfte Maispoularden kredenzt; er wird, medizinisch absichtsvoll, in eine Dunkelkammer gesperrt, schwimmt durch Höhlengewölbe und verliebt sich nicht zuletzt ein wenig in seine Mitpatientin Mana; fast en passant werden ihm zudem Gesichtsfalten entfernt, was neben dem therapeutischen Ansatz eine kosmetische Wirkung nicht verfehlt.

Anhand zweier, sorgfältig nach Innen und Außen getrennter Teile spielt der Roman dann noch ein zweites Szenario durch: Der gebeutelte Protagonist begibt sich, von seinem klinischen Aufenthalt enttäuscht, auf die Suche nach seinem Jugendfreund Jesper, der ihm bereits in früheren Lebenssituationen eine Hilfe war. Dieser wohnt auf einem Bauernhof in der Provinz, wo er eine auf Subsistenzwirtschaft basierende Existenz mit seiner Ehefrau Martha führt; die Aneignung dieser Lebensweise – der Ich-Erzähler betätigt sich fortan engagiert an der körperlich fordernden Arbeit auf dem Hof – soll als neuer Therapieversuch wirken und zeitigt neben der Überwindung des Schlafproblems auch Erfolge bei der spirituellen Sinnsuche. Das in dieser Episode über allem stehende Credo ‚Was das Sanatorium nicht heilt, möge die Natur heilen‘ wird in zahlreichen Facetten ausbuchstabiert, mündet aber gerade nicht in einer einfachen Schelte ‚falscher Versprechungen‘ der Konsumgesellschaft, wie man es vielleicht befürchten könnte. Die in Gegenwartsdiskursen mittlerweile leicht angezählte Rede von neoliberalen Selbstoptimierungsmaßnahmen und Maximen der Achtsamkeit, die allzu häufig genau dann achtsam sind, wenn sie das eigene Ich ins Zentrum rücken, schwingt hier zwar erwartbarerweise mit, wird jedoch – was ein großer Vorzug des Textes ist – nicht unbedingt als Projektionsflächen von (Zeit-)Kritik ausgeführt, sondern in figurale Beziehungsgeflechte und -konflikte übersetzt.

Kippfiguren und Ambivalenzen lassen sich daher vor allem in der Haltung des Erzählers zu seinen Bezugspersonen ausmachen – seien diese tot (Großmutter), lebendig (Mana) oder bald tot (Jesper). Insofern der Ich-Erzähler für seine Ehefrau „kaum mehr eine sinnvolle Funktion […] erfüllte“ und darüber hinaus ihren langgehegten Kinderwunsch bisher nicht erfüllen konnte, wird die Reise in die Vergangenheit auch zur Erkundung dauerkritischer Beziehungszustände. Motive von Schuld, Treue und Freundschaft fügen sich immer wieder zu kleinen Parabeln über Moralität im Allgemeinen. Derlei Bedeutsamkeit andeutende Sujets werden indes immer wieder kurios gebrochen. Altkluge Einlassungen des Protagonisten, dass doch wohl, „wenn jeder um seinen Platz wüsste und bereit wäre, aus seinen Möglichkeiten das Beste zu machen, […] den meisten geholfen [wäre]“, sind in ihrer Trivialität einnehmend komisch (und gerade in dieser Trivialität und Komik keineswegs mit hergebrachten Ethiken platonischer Provenienz gleichzusetzen). Zu den Vorzügen des Romans zählt dabei auch eine immer wieder anzitierte religiöse Ebene. Sei es in der regelmäßig scheiternden Kompensation eines schambehafteten Lebens oder in der Ausarbeitung des Schlafmotivs – Heilung und Erlösung werden im Text nicht selten, und vor allem in den Spielarten ihrer Verhinderung, miteinander enggeführt.

Zudem bietet der Text eine Reihe an gelungenen Miniaturen: Die witzig in Szene gesetzte Bärenjagd, worin Professor Trinkl des Nachts die das Sanatorium umgebenden Zäune zusammen mit dem Ich-Erzähler observiert, wobei Letzterer am eigenen ‚Versagen‘ – der Unfähigkeit, einen Bären zu erschießen – zu verzweifeln droht, ist in ihren Dialogen ebenso amüsant wie ein morgendliches Geburtstagssymposion im zweiten Teil, bei dem der Protagonist und Jesper sich mit Morgentau gefüllte Plastikbecher verabreichen, worin sich wiederum ein besonderer Freundschaftsbund manifestieren möge. Nicht nur in solchen Szenen wird der Text als Melange aus Märchen, Parabel und Groteske lesbar; selbst Elemente der Horrorliteratur lassen sich, gerade im ersten Teil anhand der erwähnten Dunkelkammer, des einarmigen, umhergeisternden Assistenten Arnim, einer Hütte, die ein Gefühl unheimlichen Spuks vermittelt, u. ä. ausmachen; sie münden in einen Gattungshybrid, der gerade aufgrund seiner Verrätselungen vollkommen aufgeht. Das betrifft nicht nur die Charakterzeichnung der Figuren, sondern immer wieder auch die Symbolsprache: Eine Semantik des Erhabenen wird an einigen Stellen aufgerufen, dann aber durch eine Poetik der Selbstfindung suspendiert bzw. in einen Bereich der Leere überführt; so steht beispielsweise als Kontrast zu bedeutungsschweren Klopstock-Zitaten – der als Dichter empfindsamer Freundschaft und Religiosität hier wohl nicht umsonst herangezogen wird – die generelle Diktion des Textes, die gerade in ihrer sprachlichen Leichtgängigkeit nie das Leseinteresse erlahmen lässt. Wie schon in seinem Debütroman beherrscht Kaleyta hier den Kontrast zwischen dem Streben nach Bedeutsamkeit und der Unverbindlichkeit eines ichbezogenen Daherredens scheinbar mühelos. Die Schemenhaftigkeit mancher Figuren lässt außerdem Überlegungen zu, ob es sich um eine Traumwelt handelt, wodurch die Möglichkeit einer paradoxen Gesamtfiktion (das Lamento über Schlaflosigkeit, während man schläft) ins Spiel gebracht wird und in ihrem Deutungsangebot doch unaufdringlich wirkt.

Mag auch nicht jede Figurenkarikatur begeistern und nicht jede der meist auf Dichotomien beruhenden Überzeichnungen des spätmodernen Menschen aufgehen, und mag auch manche ‚Zurück zur Natur‘-Verklärung im letzten Drittel des Romans gelegentlich an Hesse gemahnen (was womöglich nicht alle Leser*innen als Kritikpunkt sehen würden) – Heilung ist selbst ein kleines literarisches Laboratorium und zählt, wie nicht nur die Aufnahme in die Longlist des Deutschen Buchpreises angedeutet hat, zu den empfehlenswerten Erscheinungen des letzten Jahres. Es setzt die vielversprechenden Ansätze des Schreibtalents seines Autors nahtlos fort. Zudem hat der Roman, wie schon Die Geschichte eines einfachen Mannes, ein offenkundiges Potential zur Verfilmung. „Ich jedenfalls kann mit Poesie nicht das Geringste anfangen“, lässt Kaleyta seinen Protagonisten an einer Stelle sagen, denn „[f]ür mich bedeuten die Worte, was sie bedeuten.“ In San Vita bedeutet hingegen alles etwas, auch wenn man – mit lustvollem Unbehagen – nicht immer genau weiß, was.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Timon Karl Kaleyta: Heilung.
Piper Verlag, München 2024.
208 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783492071710

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