Reisen nicht nur im Kopf

Der von Caitríona Leahy und Florian Krobb herausgegebene Sammelband „Standortbestimmungen zwischen Nähe und Ferne“ zu Texten österreichischer Reiseliteratur bietet vielfältige Einblicke

Von Bernhard JudexRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Judex

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Unbehagen an der Heimat wie auch die unbefriedigte Sehnsucht nach ihr zählen seit jeher zu einem der wesentlichen Charakteristika der österreichischen Identität und insbesondere der Literatur dieses Landes. W. G. Sebald hat dies beispielsweise in den beiden Bänden Die Beschreibung des Unglücks (1985) und Unheimliche Heimat (1991) zusammengefassten Essays zur österreichischen Literaturgeschichte brillant und eingehend dargestellt. Pointiert aphoristisch formulierte Peter Handke einmal sein Verhältnis zum Land seiner Herkunft: „Das Fette, an dem ich würge: Österreich“. Besonders deutlich wird diese Problematik, wenn der Blick auf das Eigene durch die Erfahrung des Fremden determiniert ist, wie dies in Reisetexten der Fall ist. Erst die Distanz, sowohl im räumlichen als auch im geistigen Sinn, schärft die Wahrnehmung dafür, was als unmittelbar zur Identität gehörig aufgefasst wird. Sie macht durch die Reflexion das Vertraute und unhinterfragt Selbstverständliche besser verstehbar, lässt aber auch die möglichen Defizite deutlicher hervortreten. Und auch wenn es sich im Kopf, wo André Heller bekanntlich „die wahren Abenteuer“ vermutet, oftmals am besten reisen lässt: Der österreichischen Literatur ermangelt es keineswegs an Schreibenden, die aus ganz unterschiedlichen Gründen das Unterwegssein und die Fremde erlebt und in ihrem Schreiben verarbeitet haben. 

Der vorliegende von Caitríona Leahy und Florian Krobb herausgegebene Sammelband Standortbestimmungen zwischen Nähe und Ferne. Studien zur österreichischen Reiseliteratur fokussiert explizit „auf verschiedene historische Phasen des Reiseschreibens“ österreichischer Autorinnen und Autoren, „auf verschiedene Genres von dem Pilgerbericht über kolonialistische Entdeckungsreisen bis hin zur Reportage, persönlicher Aufzeichnung und Roman“ (15). Die vom Herausgeber und der Herausgeberin im Vorwort formulierte Frage, ob sich dabei „eine gemeinsame Signatur feststellen“ lässt, „die über die zufällige geteilte Herkunft oder Staatsangehörigkeit hinausgeht“ (11), ob also „die untersuchten Autor:innen und Texte spezifisch österreichische Handschriften aufweisen, bleibt offen“ und mündet in der im Grunde wenig bahnbrechenden Erkenntnis,

dass österreichische Reiseliteratur zunächst lediglich als die Summe ihrer Teile aufgefasst werden sollte, dass die Konturen eines kollektiven Mehr diffus bleiben.

Insgesamt fünfzehn Aufsätze internationaler Germanistinnen und Germanisten, die auf Vorträgen anlässlich einer Konferenz zur österreichischen Reiseliteratur an der National University of Ireland Maynnoth 2022 basieren, widmen sich dabei ganz unterschiedlichen literarischen Texten und Genres, in denen die Erfahrungen der Fremde, des Exotischen und ferner Länder eine tragende Rolle spielen. Der Bogen reicht von Gabriel von Rattenbergs Reise ins Heilige Land von 1527 (Sabine Seelbach) über Charles Sealsfields Schweizer Reisetexte (Verena Adele Bider), die kolonialen Afrika-Reisen von Oskar Lenz und Oskar Baumann (Florian Krobb), Reisebeschreibungen aus Madagaskar und dem Indischen Ozean von Franz Sikora (Sonja Malzner), Erfahrungen des Transits und des Nomadischen in vielfach in Hotels oder Lokalen situierten Texten Joseph Roths (Klaus Tezokeng), Margarete Hammerschlags Bild-Text-Collagen (Anna-Dorothea Ludewig), die New York-Exilantin Franzi Ascher (Primus-Heinz Kucher), Ingeborg Bachmanns Italien (Iulia-Karin Patrut), imaginäre Reisen in Gedichten der Wiener Gruppe (Hans-Jürgen Schrader), den wenig bekannten Bruno Weinhals (Helmut Neundlinger), die Reise-Essays von Karl-Markus Gauß (Anna Pastuszka), Gerhard Roths „Erzählkonzept des Reiseführers“ (Matthias Bauer), Josef Haslingers autobiografisch grundierte Verarbeitung der Tsunami-Katastrophe in Phi Phi Island. Ein Bericht (Carmen Ulrich) bis hin zu zwei Studien über Christoph Ransmayr (Hansjörg Bay zu Atlas eines ängstlichen Mannes sowie Christoph Schaub und Gabriele Dürbeck über Der Fallmeister).

Die Übersicht über die einzelnen Beiträge verdeutlicht, dass neben kanonisierten österreichischen Autorinnen und Autoren insbesondere des 20. Jahrhunderts auch weniger bekannte Namen und Texte untersucht werden. Zugleich zeigt sich, dass den jeweiligen Erfahrungen der Fremde unterschiedliche Hintergründe eingeschrieben sind, was sich in der literarischen Verarbeitung niederschlägt. Dem Exil etwa bei Charles Sealsfield, der in seiner anonymen Publikation Austria as it is (1828) mit der Heimat hart ins Gericht gegangen ist. Bei Joseph Roth, Margarete Hammerschlag und Franzi Ascher-Nash stehen klassisch imperialistische Entdeckungsreisen des 19. Jahrhunderts ebenso gegenüber wie die reflektorische Auseinandersetzung mit dem als fremd erlebten Anderen in der Literatur nach 1945. Und auch hier zeigen sich große Unterschiede: Konnte Ingeborg Bachmann Italien etwa noch als ihr „erstgeborenes Land“ entdecken und war Rom von Wien aus gesehen in den 1950er Jahren beinahe exotisch fremd, so lassen sich Reisen mit dem Aufkommen des Massentourismus vielfach nicht nur ohne große Hindernisse bewerkstelligen, sondern mit den durch die Technik scheinbar schwindenden Distanzen hat sich zugleich das Wissen über fremde Länder und Kulturen beziehungsweise der Zugang dazu vergrößert. Speziell Anfang des 21. Jahrhunderts hat sich der literarische Reisekosmos – wie am Beispiel Christoph Ransmayrs deutlich wird – immer weiter ausgedehnt und führt in entlegenes, mitunter schwer zugängliches Terrain. Dies ruft wiederum eine kritisch-differenzierte Lektüre der Texte im Sinne ihres postkolonialen Reisegestus auf den Plan. So etwa stellt Hansjörg Bay am Beispiel der über den ganzen Globus reichenden Reiseimpressionen in Atlas eines ängstlichen Mannes die berechtigte Frage, inwieweit das vom Autor entworfene Idealbild des genauen Beobachters und behutsamen Entdeckers mit den realen touristischen Praktiken des privilegiert reisenden Europäers übereinstimmt. Dabei gelangt er zu dem Schluss, dass diese Problematik Ransmayr selbst durchaus bewusst sei und sich in dessen ambivalenter Erzählhaltung widerspiegle, auch wenn bereits der Titel einen Totalitätsanspruch suggeriert. Demgegenüber steht Christoph Schaubs und Gabriele Dürbecks Lektüre des dystopischen Romans Der Fallmeister, der zwar auf die aktuelle ökologische Bedrohung Bezug nehme, letzten Endes aber doch „einer eher mythischen Geschichtsauffassung“ (356) nahestehe und damit enthistorisierend sei. Dass Reisen nicht zwangsläufig in die Ferne führen muss und dennoch weitreichende Einblicke in Unentdecktes zu bieten vermag, zeigt der Aufsatz von Matthias Bauer am Beispiel von Gerhard Roths Erkundungen des verborgenen Wiens (Eine Reise in das Innere von Wien, 1991; Die Stadt. Entdeckungen im Inneren von Wien, 2009).     

Somit fallen die Standortbestimmungen zwischen Nähe und Ferne in den fünfzehn Beiträgen dementsprechend vielfältig aus und bieten einen illustrativen Querschnitt ganz unterschiedlicher Reisetexte österreichischer Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Epochen, wenngleich der Schwerpunkt auf dem 20. Jahrhundert liegt. Der Vorzug des Sammelbandes liegt zunächst sicherlich darin, dass er auch weniger repräsentative und bekannte Texte zur Geltung bringt, zumal diese nicht ausschließlich genuin literarischen Charakters sind. So etwa steht hinter den Reisetexten von Oskar Lenz, Oskar Baumann oder Franz Sikora ein naturwissenschaftlich-ethnologisches Interesse, und die Künstlerinnen Margarete Hammerschlag und Franzi Ascher waren neben ihrer Arbeit als Autorinnen auch als Malerin, beziehungsweise als Musikkritikerin tätig. Darüber hinaus beziehen sich einzelne Aufsätze wie zum Beispiel jener von Klaus Tezokeng über Jospeh Roth auf methodisch-reflexive Überlegungen zur Reiseliteratur-Forschung sowie zum historisch sich wandelnden Verhältnis von Raum und Zeit, sodass deren Lektüre besonders kenntnisreiche Einblicke bietet.

Freilich wird man umgekehrt manche bekannten Namen, die sich ebenfalls mit österreichischer Reiseliteratur aus verschiedenen Blickwinkeln in Verbindung bringen lassen – so etwa Joseph von Hammer-Purgstall, Nikolaus Lenau, Ida Pfeiffer, Theodor Kramer, Peter Handke, Josef Winkler oder Raoul Schrott, um nur einige davon zu nennen – vermissen. Dies ist zu bedauern, kann aber dem als Tagungsband entstandenen Buch nicht unbedingt zum Vorwurf gemacht werden. Eine wirklich umfassende und auch nur halbwegs vollständige Sammlung österreichischer Reiseliteratur würde ohnehin bei Weitem den Rahmen sprengen, sodass man sich auf eine einigermaßen repräsentative Auswahl beschränken muss. Eine solche ist Caitríona Leahy und Florian Krobb durchaus gelungen und zeigt:

Reiseliteratur ist immer in der Schnittmenge zwischen der Literarizität des Faktischen und der Faktizität des Literarischen angesiedelt – wobei Fiktion sich gerade im Genre des Reiseschreibens nie weit von ‚Wirklichkeit‘ entfernen kann und die Literarizität oder Narrativität des Beobachteten oder Erlebten also vermeintlich Authentischen, immer mitgedacht werden muss. Dieses Koordinatensystem ist vieldimensional und systematisch kaum aufzudröseln.

Titelbild

Caitriona Leahy (Hg.) / Florian Krobb: Standortbestimmungen zwischen Nähe und Ferne. Studien zur österreichischen Reiseliteratur.
Frank & Timme Verlag, Berlin 2024.
372 Seiten, 59,80 EUR EUR.
ISBN-13: 9783732909742

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