Überschallknallende, großartige „Hasenprosa“
Maren Kames und der Hase im Sturz durch Raum und Zeit
Von Svenja Frank
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEin Glück, dass dieses Buch seine Gattungsbezeichnung gleich mitliefert: Hasenprosa. Also, da muss wohl ein neues Billy-Regal her. Aber sorry, wo hätten wir Kames‘ Buch sonst auch hintun sollen? Reiseerzählung? Road-Movie? Selbstbetrachtungen mit Hase? Der kleine Prinz auf Speed? Kindheitsmemoiren? Familiensaga oder – gottbewahreunsvorallemabervorallemvorder – Autofiktion?
Dabei sind die Koordinaten eigentlich ziemlich klar: Maren Kames und der Hase sind unterwegs. Erst im Leihtraktor, dann im Strichflieger. Mitte der 80er, vor 545 Millionen Jahren und 2023 (das Jahr des Hasen!). Im All, in der Savanne und in Mittelhessen.
Nur halt schnell hintereinander.
Und trotzdem scheinen sich die beiden kaum von der Stelle zu bewegen; eine Reise quer durchs Universum wie ein Tauchgang im Bällebad. Kein Wunder also, dass der Hase auch immer in Hörweite ist, selbst wenn ihn die Erzählerin kurz aus den Augen verliert:
Nein!, hörte ich den Hasen kosmisch donnern, noch ohne das Tier genau orten zu können.
Aber du hörst mir jetzt zu!
Kurz darauf sah ich ihn umständlich auf einen Stern steigen.
Wie man sieht, geht es auch nicht immer nur flauschig zu. Der Hase befördert die Erzählerin schon mal ungefragt an einem veritablen Senkblei hinab in ihre morastigen Trauergründe. Er doziert, er liest ihre Gedanken mit, nörgelt am Text oder er hört einfach nicht mehr zu und geht mal eben Lollis holen. Maren und der Hase können aber auch anders, in Momenten von Zartheit, von Ausgelassenheit, von Liebe.
Solche leisen, behutsamen Töne schlägt die Autorin auch in den Kindheitsszenen an, die in die rasende Hasenreise eingebettet sind. Diese autobiografischen Erinnerungen gehen oft in Portraits über – der Mutter, des Bruders, meistens aber der beiden Großmütter und Großväter. Es sind Portraits im ursprünglichen, bildnerischen Sinn: In Momentaufnahmen legt Kames ganze Charaktere frei, zum Beispiel, wenn sie beschreibt, wie der Opa (der andere, nicht der BRD-farbene) allmittäglich die Salatsoße richtet. Dabei hält ihr präziser Strich die Skizzenhaftigkeit stets bewusst. Man schaut sich so mit ihr ein Menschenleben an, oder vielmehr die Bruchstücke, die man davon mitbekommen hat, und fragt sich mit ihr, welche Augenblicke eigentlich die ikonischen sind. Kames umschifft damit die Tücken der autofiktionalen Partikularisierung und schafft Übertragbares, Allgemeingültiges.
Ohne je zu beschönigen, betrachtet die Autorin die Menschen, die ihr nahestehen, mit Sanftheit. Es ist, als durchblättere man ein Familienalbum. In diesen Passagen sind auch mehrere private Fotografien aus einer analogen Vergangenheit abgedruckt. Sie werden zur fein abgestimmten Entsprechung der Erzählästhetik, der Reduktion auf wenige und desto eindrücklichere Erinnerungsbilder.
Dieses Gespür für Form, mit dem hier und an anderen Stellen Text und Bild verknüpft werden, trägt die Hasenprosa von der ersten bis zur letzten Seite. Kames beschleunigt, nimmt Tempo raus, stellt still, stülpt von innen nach außen und von außen nach innen, wie es der Text gerade erfordert. Das An-Denken derer, die nicht mehr sind, und die comicartigen Haseneinlagen brauchen einander, weil sie sich in ihrer Gegensätzlichkeit zur vollen Geltung bringen. Schon die Konzentration der Erinnerung auf die beiden Großelternpaare ist Ausdruck dieses Symmetriewillens der Autorin, von Komplementärfarbigkeit.
So paradox es nämlich klingen mag: Kames’ Ästhetik ist – bei aller Durchgeknalltheit – im Kern minimalistisch. Das erklärt auch die Affinität der Erzählerin zu den Bildern von Agnes Martin. Die Künstlerin gehört, wie auch Jean-Michel Basquiat und Friedericke Mayröcker, zu ihren „Fundamentalsternen“, ihren „Versenkungsidolen“. Wir kommen in diesem Buch aus dem Staunen nicht heraus – die Sprache! – der Hase! – der Hase erstarrt in Andacht vor der Eleganz einer Giraffe! (La Grande Bellezza – was sonst – lässt grüßen) – dazu überall nagelneue Wörter, die man einsammeln und mitnehmen muss; aber dann bei geballter Schöpfungskraft – geballte formale Geschlossenheit. Das ist ein literarisches Kunststück.
Die bewusste Begrenzung macht auch, dass die Hasenprosa so schön ist. Hier kann zwar alles passieren – da stellt die Autorin mitten im Text den Ton aus, um in aller Lässigkeit die Sprache des Sprachverlusts vorzuführen –, aber man kann hier nicht verloren gehen, denn irgendwo ist irgendwann wieder ein Anker, der einem von irgendeiner Textbiegung her bekannt vorkommt. Und am Ende taucht sowieso alles wieder auf, genau wie der Mondsteinring der Großmutter.
Zur minimalistischen Selbstverpflichtung der Autorin gehört auch, dass dieses Buch so erfrischend linear erzählt ist. Ja, wir purzeln durch Äonen und das eine oder andere Sternensystem, aber so wenig sich Maren und der Hase fortzubewegen scheinen, so wenig sind die Zeitsprünge als solche spürbar. Die Vergangenheit ist ein Zwischenstopp auf dem Flug im Strichflieger. Es gibt hier keine Parallelaktion. Das Universum ist da, wo die Erzählerin ist – also: große, ganz große Unmittelbarkeit.
Die erzielt die Dichterin Maren Kames auch durch die Annäherung an die Musik. Und zwar nicht nur mit ihrer poetisch-rhythmischen Hasensprache oder den Songtiteln, die durch den Text vibrieren, sondern aufgrund einer Qualität, die der britische Kunstkritiker Walter Pater als den Zustand der Musik bezeichnet hat. Musik ist für Pater die höchste aller Kunstformen, weil nur in ihr Form und Gehalt vollkommen eins werden. Diese Verschmelzung sei das Bestreben auch aller anderen Kunstformen. In jedem Fall ist es das dieses Textes: „Das mit dem Hasen ist rückwirkend betrachtet doch der Sommer der Anbahnung, der Maserung gewesen. Subkutan mauserte sich alles, äste sich unterholz vorwärts durchs Gras zu einer wie insgeheim vorgesehenen Stelle, suchte sich je eine behutsam ausgebuchtete Mulde und narbte dort friedwärts verabredet ganz langsam zu.“ Die Hasenprosa kommt mit ihrem permanenten Fließen vom Konkreten in die Abstraktion und von der Abstraktion ins Konkrete Paters Zustand der Musik ziemlich nahe. Zumindest so lange der Hase auflegt.
Am Ende hilft aber sowieso nur selber lesen (der Mozzarella-Büffel nickt). Es ist ein Text, der uns wünschen lässt, nie wieder geradeaus denken zu müssen. Eine selten souveräne Setzung. Ein literarisches Totalerlebnis. Oder einfach als Feel-Good-Buch unbedingt zu empfehlen – im globalen Tiefdruckgebiet sowieso, aber besonders dieser Tage, wenn die Poolflamingos die Flügel sinken lassen und man allmählich fragt, „wo nehm’ ich, wenn es Winter ist“…
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