Von den Gefahren des Informationshungers
Wie Yuval Noah Harari die Welt retten möchte
Von Ulrich Klappstein
Wie aus dem Nichts hat das Buch des israelischen Kultautors mit dem verlockenden Titel Nexus. Eine kurze Geschichte der Informationsnetzwerke von der Steinzeit bis zur künstlichen Intelligenz auch in Deutschland die Bestsellerlisten erklommen, in Woche 39/2004 schaffte es auf Anhieb den Einstieg auf Platz 2 der SPIEGEL Sachbuch-Bestsellerliste; gerade noch feierte es sein Debüt im englischsprachigen Raum.
In den Feuilletons wird Harari, der inzwischen weit mehr als 40 Millionen Bücher weltweit verkauft hat, gerne als ›Transformationswissenschaftler‹ mit prophetischem Pathos bezeichnet, der es schaffe, ›Geschichten der Menschheit‹ kurz, unter 600 Seiten und im Falle des neuesten Werks sogar nur auf 555 Seiten zu erzählen. Das Sachbuch ist gewissermaßen die Fortsetzung seines ebenfalls erfolgreichen Vorläufers 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert aus dem Jahr 2018 (siehe dazu auch die Besprechung auf literaturkritik.de vom November 2019).
Harari wendet sich dieses Mal dem gesellschaftlichen Fortschritt in Gestalt der Informationsnetzwerke zu, angefangen beim Buchdruck, über die modernen Plattformen des Internets bis hin zur Künstlichen Intelligenz. Was die neuesten Technologien angeht, äußert er sich allerdings skeptisch: „Neuartige Technologien enden oft in historischen Katastrophen, nicht weil die Technologie von Natur aus schlecht ist, sondern weil die Menschen erst mit der Zeit lernen, sie vernünftig zu nutzen.“
Die Quellen, aus denen Harari schöpft, sind vielfältig, lassen sich aber, weil er auf eine Bibliografie verzichtet, nur aus dem umfangreichen, fast einhundertseitigen Anmerkungsapparat erschließen: zusammengetragene Statements „weltweit anerkannter Persönlichkeiten“ aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft (Platon, Goethe, Ronald Reagan, Donald Trump, Ray Kurzweil und viele andere), Ergebnisse aus den Computerwissenschaften, aus Biologie und Neurologie, den Humanwissenschaften und der internationalen historischen Forschung, aber auch Beiträge aus der Populärliteratur, daneben die Bibel, der Talmud, Konfuzianismus und vieles mehr.
Sein Lagebild aus der Flughöhe eines Universalhistorikers setzt sich aus den unterschiedlichsten Mosaiken zusammen. Die Welt wird gleichsam aus der Großperspektive der letzten 100 000 Jahre auf die tagesaktuellen existenziellen Krisen der Menschheit eingeschrumpft, alles verdichtet sich zu einem Nexus und ist fast unentwirrbar verflochten. Die Leserinnen und Leser erwartet eine Reise von der Steinzeit über das Zeitalter der Hexenverfolgungen der frühen Neuzeit bis in die politischen Wirrnisse des zurückliegenden 20. Jahrhunderts (Stalinismus, Nationalsozialismus) und endet beim auflebenden Populismus der Jetztzeit..
Letztlich ist Harari davon überzeugt, dass der Mensch als solcher stets manipulierbar gewesen ist und sich das Ende einer Welt, wie wir sie bis zum Auftreten der Künstlichen Intelligenz kannten, naht. Sicher, das ist glänzend erzählt, aber Harari scheint sich in seinen Extrapolationen im Kreis zu drehen. Lösungen, wie sich die Menschheit den Fallen der Informationsnetzwerke entgegenstellen könnte, werden im Wesentlichen nicht geboten, außer dass das Silicon Valley wie auch die russischen Bots in ihre Schranken gewiesen werden müssen. Wie genau sich die Netzwerke in das menschliche Bewusstsein einmischen, wie der drohende Kontrollverlust letztlich aufgehalten werden kann, diese Fragen beantwortet der Autor nicht konkret, außer einigen generellen Handlungsanweisungen – für Fachleute und die „Macher“ in den Entwicklungsabteilungen der KI vielleicht.
Harari gefällt sich auch in den vielen Interviews, zuletzt auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse, als ein Deuter, vielleicht sogar als ein „spiritueller Ratgeber“ (wie ein Rezensent des SPIEGEL unlängst schrieb), also in einer Position, die in früheren Zeiten die Astrologen auf den Königshöfen innehatten. Im Gespräch mit der Autorin Thea Dorn empfahl er den Zuhörenden eine „Informationsdiät“, denn es sei ein „Irrglaube“, dass mehr Information auch zu mehr „Wahrheit, Freiheit, Demokratie und Frieden“ führe. Sein Rezept für diese Kur: Der Informationsnexus biete sich wie das Essen dar, „wenn man keine Zeit hat, es zu verdauen, stirbt man daran.“
Wer Freude an Gedankensprüngen und wagemutigen Assoziationen in den drei Abschnitten „Menschliche Netzwerke“, „Das anorganische Netzwerk“ und „Computerpolitik“ hat, mag zu diesem Buch greifen, das natürlich auch zum Selbstdenken auffordert. Vielleicht auch über zugespitzte Thesen wie die Folgende: „Tiere, Staaten und Märkte sind nichts anderes als Informationsnetzwerke, die Daten aufnehmen, entscheiden und Daten zurückgeben.“ So einfach ist es. Vielleicht blättert man zur Unterfütterung aber auch noch einmal in einem früheren Bestseller desselben Autors: Sapiens: eine kurze Geschichte der Menschheit.
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