Lokal – regional – transareal
In einem von Matthias Schulz und Lukas Kütt herausgegebenen Band wird „Sprachgeschichte vor Ort“ untersucht
Von Jörg Füllgrabe
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSprache war und ist – trotz langer Zeit zunächst utopisch-dystopischer Fiktionen zur ‚rein geistigen Kommunikation‘ und mittlerweile Realität gewordener KI – immer noch das Primärmedium zur Verständigung, und es steht zu vermuten beziehungsweise zu hoffen, dass dies trotz der entsprechenden Technologien auch so bleiben wird. Gemeinsame Sprache verbindet, was bereits im Rahmen der kindlichen Einbettung im engeren wie weiteren familiären Kreis erkennbar wird. Sie kann aber, wenn es sich um unterschiedliche Idiome handelt, auch trennen.
Um Verbindung wie Trennung geht es im vorliegenden Band, der eine Auswahl von Beiträgen der vom 12. bis 13. Mai 2017 im Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald veranstalteten Tagung Sprachgeschichte vor Ort darstellt. Der Titel der Tagung ist damit zugleich Publikationstitel, und auch der etwas sperrige Untertitel – Stadtsprachenforschung im Spannungsfeld zwischen Ortspunkt und Sprachraum – fasst die Ideen der Tagung und ihre Umsetzung in den Einzelbeiträgen zwar nicht unbedingt elegant, aber doch sehr treffend zusammen.
Dabei liegt der Tagung selbst Größeres zugrunde, sollte es doch um nichts weniger gehen, als das in der historischen Stadtsprachenforschung vertretene Modell einer zentralen sprachgeschichtlichen Rolle der Städte weiter herauszuarbeiten und zu konkretisieren. Zudem sollte über den engen Ortsbezug hinausweisend deren Verankerung in den sie umgebenden (engeren) Sprachräumen und die durch Sprachkontakte der Angehörigen städtischer Communitys – vornehmlich kaufmännischer Eliten – generierten Anknüpfungen an weitere Sprachräume untersucht werden.
Dieser ‚erweiternde Ansatz‘ wird bereits im ersten Beitrag vertreten. Arend Mihm (Sprachenvielfalt und kontaktbedingter Wandel) geht dem Erkenntniswert der Greifswalder Sprachgeschichte insofern auf den Grund, als hier etwa mit Rückgriff auf die städtischen Ratsakten unterschiedliche Komponenten der historischen Sprachsituation der Stadt als komplexes stadtidiomatisches Zusammenspiel von Akrolekt, Mesolekt sowie Basisvarietäten aufgezeigt werden, was neben sprachgeschichtlichen Bewertungen auch Aussagen über die städtischen sozialen Gruppen und ihre ‚Sichtbarkeit‘, die hier eigentlich als ‚Hörbarkeit‘ zu bezeichnen wäre, ermöglicht. Dass dabei neben den binnensprachsoziologischen Effekten auch überregionale (Sprach-)Einflüsse zum Tragen kamen, ist naheliegend und wird vom Verfasser auch erläutert. Die in diesem Zusammenhang herangezogenen offiziellen Quellen belegen die entsprechenden Vorgänge nicht nur, sondern weisen auch ihre Abhängigkeit von adressats- beziehungsweise zweckbedingen Kommunikationssituationen nach. Die schriftlichen Ausführungen dieses Beitrags werden nicht nur durch historische Ansichten der Stadt erweitert, sondern vor allem durch modellbeschreibende Abbildungen sowie Einzelauszüge aus entsprechenden Quellentexten der Stadt Greifswald zielführend erweitert.
Während die Sprachgeschichte vor Ort zunächst mit einem auf Greifswald bezogenen, also lokalen, wenngleich dann sich erweiternden, Blick beginnt, liefert Robert Peters anschließend eine knappe, aber dezidierte Gesamtschau zum Thema (Stadtsprachenforschung im mittelniederdeutschen Raum. Ein Überblick), die trotz der Plausibilität eines ‚Ortseinstiegs‘ nicht nur angesichts der umfassenderen Perspektive, sondern auch, weil sich der anschließende Beitrag ebenfalls wieder direkt auf Greifswald bezieht, doch eher als Einstieg hätte positioniert werden sollen.
Dieser Folgetext von Pawel Gut (Greifswalder Texte im Staatsarchiv Stettin) lenkt den Blick vor allem auf kommunikative Netzwerke jener Zeit, die die Ostseestädte miteinander verknüpften. Auch mit dem sich anschließenden Aufsatz von Dirk Alvermann (Deutschsprachige stadtsprachgeschichtliche Quellen im Universitätsarchiv Greifswald. Ein quellenkundlicher Exkurs zu den Beständen), wird zum einen der Aufbewahrungs- und Arbeitsbereich Archiv als Ausgangspunkt gewählt, aber zugleich interne wie externe Kommunikationsprozesse beleuchtet.
Mit Nikolaus Ruge (Morphologische Annotation stadtsprachgeschichtlicher Texte. Die Luxemburger ‚Comptes de la Baumaîtrie‘) wird der Blick in Richtung Westen gelenkt. Die Untersuchung diverser Luxemburger Kontenbücher weist diese nicht nur als Quellen sprachhistorischer Fragestellungen aus, sondern ermöglicht es, anhand formaler Beobachtungen auch allgemeine Aspekte stadtkommunikativer Strukturen erkennbar zu machen. Dabei werden auch formale Aspekte angesprochen, die im Folgenden nochmals verdichtet präsentiert werden. Denn Katharina Dreessen und Sarah Ihden (Syntaktische Annotation in und mit dem Referenzkorpus Mittelniederdeutsch / Mittelrheinisch (1200–1650)) nehmen eine Metaebene ein, indem ein anhand textlicher Grundlagen entstandenes sprachstrukturbezogenes Referenzsystem vorgestellt und nicht zuletzt auch hinsichtlich seiner Anwendbarkeit diskutiert wird.
Ausgehend von einer formalen Perspektive erarbeitet Ingrid Schröder Textlinguistische Zugänge zur historischen Stadtsprache und erhebt dabei, erneut ausgehend von der Situation in Greifswald, zunächst die Frage nach Strukturen und Dynamiken städtischer Kommunikationsgefüge. Überdies werden die Möglichkeiten einer textlinguistischen, digitalen Erfassung von Stadtsprache(n) erörtert. In diesem, durch zahlreiche schematische Abbildungen erweiterten Aufsatz werden unter anderem Kalender hinsichtlich etwa ihrer Breitenstruktur als Referenztexte ausgewiesen und als Knotenpunkte soziolinguistischer Prozesse beleuchtet.
Rainer Hünecke liefert daraufhin mit seinem Beitrag Akteure der Textproduktion in der Stadt einen Quer- und Längsschnitt zu den Punkten Forschungsgeschichte, Modellierung, Beispiele. Dabei lenkt er den Blick zuvorderst auf Fallbeispiele aus dem Kontext Gerichtsbarkeit, anhand derer er mit Bezug auf ihre jeweilige soziale Rolle sprachlich handelnde Individuen, aber auch die sie determinierenden institutionellen Konventionen als Objekte linguistischer Forschung ins Spiel bringt. Eine wieder eher formale Herangehensweise stellt dann abschließend Thomas Niehr (Auswertung von Textkorpora. Eine diskurslinguistische Perspektive) vor und wendet dabei auf die spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Bedingungen im Ostseeraum beziehungsweise im Greifwälder Raum Methodik und Erkenntnisse gegenwartssprachbezogener Diskurslinguistik an.
Der vorliegende, sorgfältig edierte Band gliedert sich, so die beiden Herausgeber in der Einleitung, in ein Gewebe adäquater Forschungsansätze ein und hilft, den zunächst an gegenwartssprachlichen Verhältnissen orientierten Blick in die Vergangenheit hinein zu erweitern. Besonders auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass auch den kürzeren Texten eine Gliederung vorangestellt ist, die bereits einen schnellen Überblick zum jeweiligen Thema ermöglicht. Dass darüber hinaus jeder Beitrag mit einem adäquaten Literaturverzeichnis versehen ist, und die meisten durch Abbildungen und/oder tabellarische Einfügungen erweitert sind, erhöht den Gebrauchswert der Publikation nochmals.
Wie es bei Tagungen – und natürlich auch den daraus resultierenden Tagungsbänden – immer der Fall ist: Nicht jeder Beitrag wird bei Leserinnen und Lesern das gleiche Maß an Aufmerksamkeit hervorrufen, was jedoch nicht der Qualität der jeweiligen Texte, sondern den unterschiedlichen individuellen Schwerpunkten geschuldet ist. Für Interessierte aus dem Raum Greifswald handelt es sich daher um ein Muss, für andere zumindest um ein ‚Soll‘. Wenngleich der Preis einen Gelegenheitskauf vermutlich eher unwahrscheinlich macht, ist dieser Band – ob als Solitär oder im Verbund mit anderen themenbezogenen Publikationen – zur Lektüre sehr zu empfehlen.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
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