Leben und Poesie zwischen Rebellion und Tradition
Edna St Vincent Millays letzte Gedichte „Journal“ liegen jetzt in einer zweisprachigen Ausgabe vor und bestätigen: Illusionslosigkeit schützt nicht vor Melancholie
Von Nora Eckert
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWir können heute wohl mit Recht von einem Comeback der Dichterin sprechen. Ihr Aufstieg zu Beginn des 20. Jahrhunderts war kometenhaft, sie wurde in den USA zum Shooting Star des Jazz-Zeitalters. Manche Gedichtzeilen kursierten wie Schlager im kulturellen Alltag der 1920er und 1930er Jahre, wie etwa „Meine Kerze brennt an beiden Enden / Sie wird die Nacht nicht überdauern.“ Doch ihr Stern schien allzu rasch zu verglühen, um im kosmischen Bild zu bleiben, und er erlosch weitgehend noch zu Lebzeiten. Sie starb 1950 und war da erst 58 Jahre alt. Die Frage ist seither, was mehr faszinierte – ihr Leben oder ihre Dichtung? Im Fall von Edna St. Vincent Millay ist das jedoch die falsche Frage, weil bei ihr das eine das andere unauslöschlich durchdringt und ebenso auf geradezu existentielle Weise bedingt.
War ihr Leben von Rebellion gegen gesellschaftliche Konventionen geprägt, so erlebte dieser Aufruhr in ihren Gedichten eine Transformation in geradezu klassische Formen – mit einer Vorliebe für das Sonett. Dieses scheinbare Paradox macht keinen geringen Teil der Faszination aus – die in konsequenter ästhetischer Form gebändigten Exzesse des Lebens. Womit ihre Dichtung in hohem Maße autofiktional genannt werden kann und doch ästhetisch absolut bleibt. Ihr Motto lautete: „I will put chaos into fourteen lines.“ Und sie hat sich daran gehalten.
Darum erscheint die frühe Bewunderung für Millays Dichtung gerade durch einen Konservativen und Traditionalisten wie Rudolf Borchardt nachgerade bezeichnend. Seine Verehrung tat er 1935 in einem Aufsatz kund, überschrieben mit „Die Entdeckung Amerikas“ und ließ den Reflexionen auch eine Reihe von Übersetzungen folgen. Von einer „Sammlung von Meisterwerken“ ist die Rede. Für ihn sei Millay „Sappho noch einmal, unglaublich und wirklich“. Er ging so weit, in Millays Sonetten gleichsam den Beginn eines neuen Jahrhunderts heraufziehen zu sehen, eines, in dem die Frauen unabhängig von den Männern geworden seien.
Das war, trotz aller feministischen Erfolge seither und trotz Gleichstellungspolitik und sexueller Selbstbestimmung, entschieden zu optimistisch gedacht. Abgesehen davon, dass es Borchardt sicherlich anders gemeint hat. Allerdings nahm sich Millay in der Tat die Freiheit, offen bisexuell zu leben, um dann einen zwölf Jahre älteren Mann zu heiraten und mit ihm abgeschieden in der Provinz, von Natur umgeben, ein gleichwohl komfortables Leben zu führen. Dass auch noch Alkohol und Drogen hinzukamen und eine Reihe von Affairen, klingt dann wieder eher nach einer fast stereotypen Skandalgeschichte, die ihr in der späteren Rezeption auch nicht erspart blieb. Sie avancierte zum „bösen Mädchen“ der US-amerikanischen Literatur.
So oder so – was bleibt ist die Kunst. Und so bildete sich in den letzten zwanzig Jahren eine kleine Büchersammlung zu Edna St. Vincent Millay, darin enthalten Borchardts Verdienst um die Millay-Rezeption (ediert 2008 vom Lyrik Kabinett), sodann eine von Ernst Osterkamp herausgegebene Bild-Biografie und schließlich zwei Gedicht-Bände, die beide dem Schweizer Verlag Urs Engeler und dem Übersetzer Günter Plessow zu danken sind. Natürlich tut sich auf dem Buchmarkt in den USA publizistisch einiges mehr als bei uns – weiterer Austausch in unsere Richtung wäre zu wünschen.
Zu würdigen ist heute als jüngste Publikation die Übersetzung von Millays letztem Gedicht-Zyklus, entstanden wohl in ihrem Sterbejahr 1950 unter dem Titel Journal. Vorausgegangen war im Verlag Urs Engeler 2018 die Sammlung Love is not all. Doch zunächst noch ein Blick in die Anfänge, bevor wir uns der abgeklärten Altersweisheit widmen.
1912 begann Millays künstlerische Karriere mit dem Langgedicht „Renascence“ und den Zeilen:
All I could see from where I stood
Was three long mountains and a wood;
I turned and looked another way,
And saw three islands in a bay.
Und mit einer weiteren Umdrehung der Betrachterin verbinden sich die drei Berge mit den drei Inseln durch eine dünne, feine Horizontlinie zu einem Kreis, worin Millay das uralte Lied vom Werden und Vergehen anstimmt. Ihr bescherte das Gedicht ein Stipendium am angesehenen Vassar College (Poughkeepsie, New York), das sie jedoch als „Höllenloch“ erinnerte. Ihr Eigensinn hatte ihr dort ziemlichen Ärger beschert. Erst durch eine Petition ihrer Mitschülerinnen durfte sie den Abschluss mitmachen. 1923 wird ihr als erster Frau der Pulitzer Preis in der Kategorie Dichtung verliehen (wenn wir die beiden Sonderpreise von 1918 und 1919, die ebenfalls an Frauen verliehen wurden, nicht dazurechnen). Doch der künstlerische Höhenflug überdauerte die 1930er Jahre nicht.
Um so interessanter ihre Lebensbilanz in „Journal“, die in der Übersetzung von Günter Plessow erschienen ist. Und weil sie jetzt zweisprachig zur Verfügung steht, haben wir die Wahl, das sprachvermittelnde Angebot anzunehmen oder sich im wahrsten Sinne des Wortes einen eigenen Reim auf die Verse zu machen. In einer Nachbemerkung des Übersetzers heißt es:
Todeserwartung in Knittelversen – deren Rhythmik und sprachliche Gestik den Übersetzer gereizt hat, in der deutschen Umgangssprache nach Analogien Ausschau zu halten.
Journal ist eine poetische Reflexion über das Ende des Lebens, die an die Anfänge der Dichterin anknüpft, wie Plessow meint, als Millay als Schülerin ihr Tagebuch als Plattform für ihr lyrisches Ich nutzte, nämlich es zu erfinden und sich gleichsam darin einzuleben. Dass den letzten Gedichten ein Vermächtnis-Charakter innewohnt, vermitteln die ersten Zeilen unmissverständlich. Die in einem Heft notierten Gedichte werden, wenn sie tot sei, „ein Parfum, ein Hauch nur von mir sein“, um zu sagen, was ihr wichtig sei und zu äußern, „wie ich eben bin, lebendig“. Aber soll sie, all die Gedanken, die ihr kommen, wirklich festhalten:
Der Anstand sagt mir: ‚Schreib es auf!
und ist’s Ermattung, nimm’s in Kauf!‘
Kennt dieses Problem nicht jeder Redende, fragt sie. „Was für Dogmen haben sich / nicht eingeschattet in sein Ich?“ Am Ende des Lebens gehe es darum, mit der Düsternis zu leben und Fragen wohl offen zu lassen, wie etwa die, was sich in Blaubarts Kammern befinde – „Gehorsam oder Hörigkeit / der Weiber – war das je ein Spaß?“ Und weist der Schlüssel den Weg in ein Königreich? Der Zweifel erweist sich als beständiger Begleiter:
Warum nur bleibe ich dabei,
zu sagen, was ich gar nicht mei-
ne? – Wörter voller Spott und Hohn –
bezweifle ich die Schönheit schon?
Besteht vielleicht ein Auf & Ab
von Gott & Teufel, und ich hab‘
die Sicherheit, die ich gewann,
längst eingebüßt in meinem Wahn,
mich ganz zu machen? Speie ich
auf meine Seele eigentlich?
Auch sie habe notiert, was sie besser ignoriert hätte – „Zündholz gezündet, Korken gezogen / und mich selber nur belogen“. Woran wir unschwer ablesen, dass Selbstkritik zwar zur Illusionslosigkeit führt, aber uns die Vergeblichkeit nicht vor Melancholie schützt. Doch so sei das eben mit dem Gemüt:
Das Ich, das denkt, ist aufgeschmissen,
kann von Anfang an nicht wissen,
nicht ermessen, was ihm blüht –
sein Menschenmaß liegt im Gemüt.
|
||