Schwindelerregende Gedanken in der Schwerelosigkeit
Christian Schloyers neuer Gedichtband „Venus Mars“ ist ein wildes Text-Adventure
Von Thorsten Schulte
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseChristian Schloyers neuer Gedichtband ist ein Wendebuch. „Venus“ ist der Titel. Dreht man das Buch um, trägt es den Titel „Mars“. Es ist vorwärts und rückwärts zu lesen. Es kann auf den Kopf gestellt werden. Es gibt auch keine festgelegte Reihenfolge der Gedichte. Springen ist erwünscht, denn die Mars-Gedichte folgen der Logik eines Text-Adventures, eines klassischen Computerspiels. Strophen enden mit verschiedenen Handlungsoptionen: „gehe nach osten“, „gehe nach süden“, „ich fahr hoch!“. Frei schweben die Textfragmente, werden verknüpft und wieder losgelassen. Der Lesende kann sich durch die Verse treiben lassen. Schwerelos. Abspeichern, was gefällt, oder gleich weiterblättern.
Alles ist einer ständigen Veränderung unterworfen. Im Gedichtband wird die Veränderung des Mars beschrieben, das Terraforming hat begonnen. Maschinen, „terraformingmodule“, kriechen im Abendrot über die „verkraterte werkbank der planetologen“. Grelle Sonnenaufgänge auf der Oberfläche des Planeten. Lichtbögen. Braun-rote Sandstürme. Stakkatohaft prasseln die Eindrücke auf den Lesenden ein und lassen Bilder entstehen, die fließend in Fantasywelten wie zum Beispiel die des Delta-Quadranten aus Star Trek übergehen. Sogar Masters of the Universe dürfen auftreten, Skeletor findet Erwähnung. Was ist real? Im All gibt es kein oben und kein unten. Es gibt nur Abstände, den Abstand der Erde zum Mars oder vom Mars zur Venus beispielsweise. Und auch diese verändern sich ständig.
Bevor alles verschwimmt und der Lesende sich in rot-braunen Traumbildern verliert, stellt er das Buch auf den Kopf. Hier erfasst die Schwerkraft das lyrische Ich. Der Oberflächendruck auf der Venus ist 90-mal höher als auf der Erde. Die Atmosphäre besteht fast nur aus Kohlendioxid. In drei Zyklen zeigen die schweren Venus-Gedichte zerstörerische Handlungen der Menschheit auf: Wir feiern das Auto; Tiere sterben; wir töten uns gegenseitig, „schlachten klimagender-klebesternchen“. Menschengemacht, selbstverschuldet sind die Krisen. Düstere Gedanken begeben sich in eine Kreisbewegung, eine Gedankenfalle, aus der das Ich nicht entkommen kann. Es wird die Frage nach der eigenen Identität gestellt. Und es wird an der Zukunft gezweifelt, sich schlaflos gewälzt und die Ordnung hinterfragt.
Schloyers Kapitalismuskritik ist unverstellt. Sie wird bildgewaltig und mit sprachlicher Brillanz vorgetragen. Das lyrische Ich beobachtet mit einem bladerunnerhaften Blick das toxisch Maskuline. Eine strahlende Skyline, eine hitzetote Innenstadt. Die glänzende Welt ist „vulnerabel“. Wenn die da oben nach unten fäkalieren – tatsächlich ein Neologismus –, dann wird es unten dreckig. Schon in der Widmung des Mars-Abschnitts werden die „Trumps und Elon Musks“ dieser Welt angesprochen, sie und die etwas Kleineren wie Christian Lindner „beispielsweise“. Der Gedichtband erschien im August 2024, also vor der Präsidentschaftswahl in den USA und der Selbstzerstörung der Bundesregierung in Deutschland. Die Gedichte gleichen einem lyrischen Vorspiel. Sie weisen den Weg zur aktuellen Lage. Die Suche nach Optionen, wie man mit der ramponierten Weltbühne klarkommen kann, und der prophezeite Verfall wirken angesichts der erneuten Wahl Donald Trumps wie ein sich materialisierender Albtraum. Schloyers Dystopie scheint Realität zu werden, das gesellschaftliche Gefüge ist ins Wanken gekommen. Die Demokratie ist erschüttert. Glücksritter übernehmen die Macht. Trump, Musk, Lindner und „solche Männer“ mit ihrem „famosen Unternehmergeist“ tragen Schuld, das konstatieren Schloyers Verse unmissverständlich. Mit „trumpduckdonald ronald dumpdick“. führt der Weg zurück zu Gas, Öl und Verbrennern, was in einem anderen Gedicht mit „reaktionären alteweltsstoffen“ bezeichnet wird. In den Versen „klebten erdöl-erzeugnisse an unsern leibern kontaminierten qua bloßer […] anwesenheit unfassbar viel wasser“. Elon Musk steht kurz davor, bemannte Raketen zum Mars zu schicken und das Terraforming zu beginnen. Schloyer fragt, welcher erdflüchtige Marsmensch wolle denn „kinder in den roten staub […] zeugen“? Zugleich schwarze Träume: „an ruinen […] längst verlassener hochburgen hängen […] an fahnenmasten noch wahlverlierer“, heißt es im Gedicht „körperlose gedankenwesen“.
Die hier mit eckigen Klammern markierten Auslassungen sind im Gedichtband exakt so abgedruckt. Schloyer arbeitet in allen Gedichten mit Auslassungen. „[…]“ und markiert damit Gedankensprünge, ersetzt Zeilenumbrüche, regt gleichzeitig zum Innehalten an und wirkt doch wie ein Störfeuer. Wie ein Rauschen im Funk aus der Ferne von Mars und Venus. Als wäre bei der Sprachübertragung etwas verloren gegangen. Dieser Eindruck wird von zerschnittenen Worten und über eine Strophe hinausreichenden Sätzen verstärkt. Ein Yeti schlurft beispielsweise „durchs husten“, Zeilenumbruch und Beginn einer neuen Strophe, „bonbongebirge“. Fantastische Wesen aus anderen Sphären interessieren sich nicht für formale Strukturen. Einfach zu lesen ist das nicht. Christian Schloyer mutet seinen Lesern viel zu. Alles strahlt grell – Schiffe, Gleiter im All, Aluminiumschnee –, sodass es blendet.
Wortspiele sollen auflockern. Aber sie überschreiten die Grenze zur Albernheit. Dann fliegt aus Trompeten „schnodder“, der sich auf „polyglotter“ und „globetrotter“ reimen muss. Wenn sich Sprüche an die zehn Gebote anlehnen („du sollst kein leben neben dir haben“) und andere Verdrehtheiten krampfen, dann wird dem Lesenden schwindlig und leicht übel, erinnern derlei Spielereien doch an jene anstrengenden Kollegen – wer kennt sie nicht –, die im Büro `zum Bleistift´ mit `Ciao-Kakao´ grüßen und sich hernach selbst vor Lachen schütteln. Tschüssikowski.
Christian Schloyers Gedichtband ist poppige Game-Poesie, immer etwas zu bunt, gezwungen lustig und doch herrlich wild, gespickt mit einer nerdigen Portion Commodore 64 Nostalgie, gegen alle Konventionen und mit starken Botschaften – schwindelerregende Gedanken aus der Schwerelosigkeit zwischen Mars, Erde und Venus.
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