Eine Literaturgattung unter Legitimationsdruck
Clara Fischer untersucht die deutschsprachige Versepik von 1918 bis 1933
Von Ulrich Klappstein
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Formmerkmale des Epos als literarischer Gattung sind seit jeher umstritten. Im 18. Jahrhundert stellte Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik den Roman als „moderne bürgerliche Epopöe“ heraus, da mit den formalen Mitteln des antiken Epos es für den modernen Schriftsteller nicht mehr möglich sei, die zur „Prosa“ geordnete Wirklichkeit angemessen darzustellen. Noch Georg Lukács hat in seiner Theorie des Romans in diesem Sinne argumentiert.
Da sich Autorinnen und Autoren seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ein weites Experimentierfeld bot, hat sich auch die neuere Forschung weitgehend von präskriptiven Setzungen und normativen Gattungspoetiken befreit. Dies gilt besonders für die Form des „Versepos“, dem eine Sonderrolle zukam. Umfangreiche Studien und Gattungsbibliographien zum Versepos der Neuzeit liegen lediglich für das 17. und 18. Jahrhundert vor, Studien zum Zeitraum von 1848 bis zum frühen 20. Jahrhundert datieren weit zurück. Clara Fischer möchte mit ihrer Untersuchung des Zeitraums von 1918 bis 1933 den Anschluss an diese Forschungslücke schließen und neue Forschungsfragen beantworten.
Fischer geht von der These aus, dass das Epos der Neuzeit im Sinne eines Form-Inhalt-Komplexes nur über eine „uneigentliche Gattungsgestalt“ verfüge, formal also nicht näher bestimmt sei und sowohl als Vers- oder Prosadichtung auftauchen könne. Einordnungen eines Werks können „über ein episches Versmaß erfolgen (Hexameter, Stanzen, Terzinen, Nibelungenstrophen), über intertextuelle Bezugnahmen auf ältere Versepik oder auch ganz einfach über paratextuelle Selbstausweisung als Epos, Epische Dichtung oder unter einer der vielen Bezeichnungen, die sich für Versepen im 19. und frühen 20. Jahrhundert etabliert hatten.“ Die von ihr untersuchten Texte signalisieren demnach ein Gattungsversprechen, „das sie aus Sicht der älteren Forschung oftmals nicht oder nur unzureichend einlösen.“
Unter diesen Vorgaben konzentriert sich die Autorin auf den Zeitraum der Weimarer Republik, der für das Versepos „eine erhöhte Sensibilität“ aufwies, verbunden „mit einer Vielzahl prominenter Autoren“. Da die Anzahl der Werke, die als Versepen eingeordnet werden könnten, sehr vielgestaltig ist, beschränkt sich Fischer auf wenige Werke mit ausdrücklichem Verweischarakter auf ältere Versepik und schließt Gedichtzyklen epischen Umfangs bewusst aus. Als exemplarische Beispiele dienen ihr Thomas Manns Gesang vom Kindchen (1919), das sich auf Goethes idyllische Versepik Hermann und Dorothea beruft, sowie Alfred Döblins Manas (1927) in der Tradition homerischer und indischer Heldenepik.
Beide Werke haben sowohl in der zeitgenössischen als auch der neueren Forschung nur wenig Beachtung gefunden. Fischer ergänzt ihre Darstellung um eine umfangreiche Arbeitsbibliographie deutschsprachige Versepik 1918–1933, um diese Periode noch weiter auszuleuchten. Aus dieser Textbasis schöpfend gelingt Fischer eine Kontextualisierung der ausgewählten Beispiele. Eine Einordnung der beiden Dichtungen in das Prosawerk der Autoren soll vermeiden, dass die beiden Versepen aufgrund ihrer formalen Einzigartigkeit vom übrigen Œuvre der beiden Autoren isoliert gesehen werden.
Vorgeschaltet ist den beiden Analysen ein umfangreiches Kapitel, das dem deutschsprachigen Versepos im 19. und frühen 20. Jahrhundert gewidmet ist und die Entwicklung der Epos-Theorie bis zur Weimarer Republik aufzeigt. Nicht nur in diesem Teil stützt sich die Autorin auf eine Vielzahl neuerer Sekundärliteratur, und regt so zur Vertiefung an.
Zwei Schwerpunktkapitel widmen sich den beiden Autoren Mann und Döblin.
Am Beispiel von Gesang vom Kindchen lotet Fischer die Möglichkeiten des „idyllischen Epos“ nach dem ersten Weltkrieg aus und problematisiert Thomas Manns Entscheidung für eine Hexameterdichtung im Stile des „homerisch-deutschen Metrums“ des 18. Jahrhunderts. Döblins Dichtung stellt sie in den Kontext der „Krise des Romans“ und fragt, ob Manas als eigenständiges Wortkunstwerk in gewisser Weise nicht nur einen Sonderweg, sondern auch einen „Ausweg“ im Schaffen des Autors darstellte. Ausführlich eingegangen wird auch auf Döblins Vorbild Arno Holz und die Beziehung von Verssprache und Erzählstruktur, wobei auch ein kurzer Seitenblick auf den Zusammenhang von Prosa, Vers und Montage in Döblins Romanen Berge Meere und Giganten und Berlin Alexanderplatz geworfen wird. Thomas Manns Gesang vermittelt vor allem den Eindruck des Rückzugs in die private Sphäre, was schon den Spott und die vielfache Ratlosigkeit des zeitgenössischen Lesepublikums herausforderte; hinzu kommt, dass die Hexameterdichtung auf dem Hintergrund seines Großessays Betrachtungen eines Unpolitischen gesehen werden muss. Der Mann-Forscher Hermann Kurzke griff sogar zu der Formel: „ein liebenswürdiger Privatspaß“.
Demgegenüber begab sich Döblin mit seiner eigenwilligen Versdichtung auf den verminten Weg inmitten der begleitenden ästhetischen und zeitgeschichtlichen Debatten, und beharrte in seinem begleitenden Essay Schriftstellerei und Dichtung auf einer bewusst dargebotenen „Wirklichkeitsfremdheit, kraß: auf Unnatur […]. Es hat keinen Sinn und ist unmöglich, das Vorhandene zu wiederholen; etwas Neues, Menscheneigentümliches soll hervorgebracht werden“.
Fischer kommt zu dem Schluss, dass sich beide Autoren ein „Irritationspotential“ zunutze machten und einen Vergleich mit populäreren Dichtungsformen nicht scheuten. Aber beide Versepen müssen auch in ihrer Kommentarfunktion für das jeweilige eigene Prosawerk gesehen werden.
In dieser Widerständigkeit haben sowohl der Gesang vom Kindchen als auch Manas bis heute ihre Sonderstellung bewahrt, und es ist zu hoffen, dass Fischers umfangreiche Studie zu einem neuen Verständnis jener „Experimentierphase“ der deutschen Literatur und einer vertieften Lektüre beider Werke führt.
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