Mensch unter Menschen

In „Armenische Reise“ begegnet Wassili Grossman im Jahr 1961 einer anderen Welt

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In russischer Sprache verfasste Literatur muss gegenwärtig damit rechnen, dass sie zunächst einmal auf dem Hintergrund des Krieges gegen die Ukraine rezipiert wird. Sie gilt zudem manchen Leserinnen und Lesern mittlerweile generell als verdächtig. Das betrifft auch früher geschriebene Texte, wie man an den Diskussionen über den (vermeintlichen oder tatsächlichen) Imperialismus etwa eines Puschkin oder eines Dostojewski leicht ablesen kann. Das ist nicht an und für sich schlecht, insofern es das Augenmerk auf zuvor möglicherweise nicht oder nur wenig beachtete Schichten und Sinngehalte eines literarischen Werks lenkt. Texte werden ja immer auch im Horizont der Zeit gedeutet, in der sie gelesen werden. Zugleich besteht dann allerdings auch die Gefahr, dass man den Werken unrecht tut, wenn man sie nur noch auf mit Blick auf die „Tagesaktualität“ liest.

Wassili Grossmans Armenische Reise stammt aus den frühen 1960er Jahren und wurde in der Sowjetunion unzensiert erst 1988 in einer Zeitschrift veröffentlicht. Dass das Buch ausgerechnet jetzt in einer deutschen Übersetzung erscheint, dürfte kein Zufall sein: Grossmans Aufzeichnungen sind reich an Themen, die heute – noch und wieder – Anlass zum Nachdenken geben.

Für das Verständnis des Textes sind jedoch ein paar Informationen zu seiner Entstehung hilfreich: Wassili Grossman wurde Ende 1961 für zwei Monate nach Armenien eingeladen, um dort an der Übersetzung eines Romans zu arbeiten. Grossman konnte zwar kein Armenisch, aber ihm lag eine russische Interlinearversion des betreffenden Romans vor. Diese sollte Grossman nun in ein gültiges, literarisch überzeugendes Russisch „gießen“. Das war damals in der Sowjetunion eine übliche Praxis, die außerdem finanziell recht lukrativ war. Für Grossman kam dieser Auftrag gerade zur rechten Zeit: Wenige Monate zuvor war das Manuskript seines epochalen Romans Leben und Schicksal konfisziert worden – der Roman sollte erst 1980 in der Schweiz veröffentlicht werden. Die Reise nach Armenien bedeutete für Wassili Grossman in dieser schwierigen Situation zweierlei: nämlich einen willkommenen Tapetenwechsel sowie die Gewissheit, dass er bei den sowjetischen Kulturbehörden nicht gänzlich in Ungnade gefallen war.

Einigermaßen überraschend ist in diesem Zusammenhang, dass der Autor in seinen Aufzeichnungen durchaus kein Blatt vor den Mund nimmt. Zwar ist in jenen Jahren bereits eine gewisse Entstalinisierung in Gang gekommen, doch geht Grossmans Kritik an Stalin weit über das damals übliche Maß hinaus. Er nennt den 1953 verstorbenen Führer der Sowjetunion unumwunden „einen der unmenschlichsten Übeltäter der Geschichte“. Das wiederum hindert den Autor freilich nicht daran, Stalins Verdienste „bei der Entwicklung von Schwer- und Schwerstindustrie“ oder bei „der Kriegsführung“ und „beim Aufbau des Staates“ zu verteidigen. Man kann dieses widersprüchliche (oder anders gesagt: differenzierte) Stalinbild unterschiedlich interpretieren und bewerten: als eine durchaus ehrlich gemeinte Ansicht, als ein bewusstes Lavieren unter den Bedingungen der Zensur, als provisorische Einschätzung in einer Epoche, in der gerade einiges in Bewegung geraten ist. Das Beispiel zeigt aber vor allem: Grossman bleibt ein Kind seiner Zeit, auch wenn er diese ungleich scharfsichtiger durchschaut, als es die meisten seiner Mitmenschen vermögen.

Wovon aber handelt die Armenische Reise? – Im Zentrum der Aufzeichnungen stehen vor allem die Begegnungen des Autors mit Menschen, aber auch die Beschreibungen der Natur und der Architektur Jerewans und Armeniens. Von seiner eigentlichen schriftstellerischen Arbeit ist eher wenig die Rede. Als erstes nimmt Grossman schon bei seiner Anreise mit dem Zug den die Landschaft dominierenden, allgegenwärtigen Stein wahr. Später wird er die Schlichtheit und Vollkommenheit der armenischen Kirchen bewundern und auch dem damaligen Oberhaupt der Armenischen Apostolischen Kirche, Wasgen I., einen Besuch abstatten. Wassili Grossman bezeichnet sich zwar als ungläubig, gibt aber doch der Religion in seinen Ausführungen erstaunlich breiten Raum. Überhaupt notiert der Autor seine ausgreifenden philosophischen und konzeptuellen Gedankengänge, etwa zur Freiheit und einem universalen Humanismus, zum Licht am Sewansee, aber auch zur Frage eines „Nationalcharakters“:

Wird jedoch die nationale Überlegenheit durch ein großes und starkes Volk erklärt, das Millionenheere aufstellen kann und über fruchtbare Waffen verfügt, drohen der Welt nicht nur ungerechte Eroberungskriege, sondern auch die Versklavung der Stämme und Völker der Erde.

Unter anderem solche Stellen sind es, die auch bei einer heutigen Lektüre ihre Aktualität behalten. Wie die Übersetzerin Christine Körner in ihrem informativen Nachwort ausführt, ist Wassili Grossman selbst freilich auch nicht immer gegen einen gewissen Hang zu russischem Imperialismus gefeit – etwa dann, wenn er die russische Literatur pauschal als die größte der Erde hinstellt. Dabei hat der Autor selbst jüdische Wurzeln und ist sich seiner gerade auch deswegen prekären Stellung im Gefüge der sowjetischen Literaturpolitik sehr wohl bewusst.

Auch wenn sich Grossman während seines Armenienaufenthalts zeitweise in einem Schriftstellerhaus im Gebirgsort Zaghkadsor aufhält, lernt er recht wenige Kolleginnen und Kollegen kennen. Viel eher interessiert er sich für die Angestellten, für deren Familien und für die Dorfbewohner. Wenn der Autor die teils tragischen, immer aber berührenden Geschichten von einzelnen Personen erzählt, werden seine Berichte sehr anschaulich und konkret. So begegnet er etwa Molokanen, Vertretern einer Glaubensrichtung, die sich seit dem 18. Jahrhundert von der Russisch-Orthodoxen Kirche abgespalten hatten und anschließend an die Peripherie des Zarenreichs vertrieben wurden. Er lernt auch Überlebende des Völkermords an den Armeniern oder frühere Gefangene der Stalinschen Lager kennen. In jenem Jahr 1961 ist die Sowjetrepublik Armenien übrigens noch nicht durchgehend russifiziert – nur wenige Menschen sind des Russischen mächtig. Trotz dieser Sprachbarriere kommt Grossman den Menschen aber mit der Zeit näher. In der Dorfbibliothek erfährt er sogar, dass die armenische Übersetzung eines seiner Bücher oft ausgeliehen wird. So folgert er schließlich: „Nun denn, es ist vollbracht: Ich bin hier Mensch unter Menschen“.

Am endgültigen Text seiner Armenischen Reise hat Wassili Grossman anschließend ein ganzes Jahr gearbeitet. Auch die Anordnung des Materials in zwölf – allerdings unterschiedlich langen – Kapiteln zeugt von einer ganz bewussten Formgebung. Grossmans Aufzeichnungen sind deshalb mehr als Momentaufnahmen, die vom Autor einfach nur protokollartig festgehalten werden. Im Gegenteil: Der Autor reflektiert immer auch seine eigene Position und damit vor allem die Art und Weise, wie er das Gesehene und Erlebte wahrnimmt und damit „sein Armenien“ erst eigentlich schafft. Gerade ein solches Vorgehen ermöglicht ihm auch immer wieder eine ironische Brechung. Auf diese Weise ist ein lesenswertes, bisweilen überraschendes, stets zum Nachdenken anregendes Buch entstanden. In seinem Zentrum stehen gleichermaßen die Menschen in Armenien und der Autor selbst.

Titelbild

Wassili Grossmann: Armenische Reise. Die Reise des großen russischen Schriftstellers an die Ränder des Imperiums.
Claassen Verlag, Berlin 2024.
206 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783546100939

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