Produktive Irritationen
In „Der Dilettantismus der Geisteswissenschaften” präsentiert Jochen Hörisch beeindruckende Essays, die unerwartete Perspektiven auf scheinbar vertraute Themen gewähren – unter anderem auf die Psychoanalyse des Eigennamens oder den Rechtspopulismus
Von Sebastian Meißner
Wer Liebhaber einer Kunst oder Wissenschaft ist, ohne für sie professionell ausgebildet worden zu sein, ist ein Dilettant. Im Alltagssprachgebrauch wird der Begriff gelegentlich noch immer als Abwertung verwendet. Dabei sind Dilettanten durchaus zu beneiden. Denn wenn sie die Grenzen einer Disziplin überschreiten, dann um ihrer selbst willen. Man könnte auch sagen: Sie beschäftigen sich mit Dingen aus purer Begeisterung und Leidenschaft. Anders als Spezialisten oder Experten lassen sie sich von Reizen affizieren, die sich ihnen nicht vollends erschließen. Ihre beschränkte Kompetenz akzeptierend, bleiben sie begeisterte und wache Staunende. In seinem Buch „Der Dilettantismus der Geisteswissenschaften“ plädiert Jochen Hörisch, Seniorprofessor für neuere Germanistik und Medienanalyse an der Universität Mannheim, für einen ambitionierten Dilettantismus ohne Scheu vor großen Fragen. Denn Geisteswissenschaften (und insbesondere Literaturwissenschaften) seien, so Hörisch in seinem Vorwort zu diesem Buch, „zum Dilettantismus verdammt“, weil sie sich nahezu über alles auslassen, sich kein Mensch aber seriös in all diesen Bereichen auskennen kann. Man könne, so weiter, „dies und jenes so oder auch anders sehen und verstehen“. Geisteswissenschaften sollten demnach „in der Mitte zwischen Fachwissenschaften und Dilettantismus“ begriffen und praktiziert werden.
Raus aus der Rechtfertigungsfalle
Die Studien, Essays und Interventionen, die Hörisch in diesem Buch versammelt, zeigen anschaulich, wie dilettieren gelingen kann. Es sind geistes- und kulturwissenschaftliche Beiträge zu Problemen und Fragestellungen unter anderem der Wirtschaft, der Medien, der Psychologie, der Soziologie, der Philosophie, der Theologie und der Politik. Hörisch will seine Texte verstanden wissen als „Interventionen einer Geisteswissenschaft, die weiß, dass sie von allen guten Geistern verlassen wäre, wenn sie den Anspruch erhöbe, die bessere Fachwissenschaft zu sein“ – die dennoch aber selbstbewusst genug ist, zu hoffen, dass Anregungen geboten werden, die die jeweils zuständige Fachwissenschaft produktiv irritieren können. Schon mit dieser Rollenzu- und beschreibung gelingt Hörisch Großes: nämlich die Bedeutung der Geisteswissenschaften zu verteidigen und sie gleichzeitig aus ihrer Rechtfertigungsfalle zu befreien. Darüber hinaus bieten sie Anschauungsmaterial für die Wanderung zwischen Fachwissenschaft und Dilettantismus. Hörisch nimmt fachwissenschaftliche Texte aus den Gebieten Germanistik und Medienwissenschaft und setzt sie in ein Spannungsverhältnis zu fachfremden Disziplinen, in denen er argumentativ zu jonglieren gezwungen ist.
Breites Themenspektrum
Hörisch gliedert seine Beiträge in diesem Buch in drei Teile. Im ersten Teil, „Denkmodelle“ genannt, sind Texte versammelt, die den Urhebern umstrittener Denkmodelle wie etwa Hegel, Marx, Freud, Derrida, Kittler oder Sloterdijk eine Affinität zum Medium der Literatur nachzuweisen versucht sind, aus der sie Erkenntnisse und Einsichten für ihr Werk gewinnen. Der zweite Teil („Die Zeit der Medien“) widmet sich der übergeordneten Frage, wie sich alt gewordene Medien wie zum Beispiel Filme, Tageszeitungen, das Fernsehen oder Opern im neuen Mediensystem platzieren. Hörisch thematisiert in diesem Block unter anderem die Beschaffenheit von Freundschaften im Zeitalter des Internets (und zeigt darin, dass Menschen nicht nur ohne Freundschaften durch neue Medientechnik anders leben, sondern auch immer schon Freundschaften mit dem jeweiligen Stand der Medientechnik eingegangen sind), interpretiert psychoanalytisch Martin Scorses Film „Die Farbe des Geldes“ oder seziert Symbole und Allegorien des Schönen und des Hässlichen in Goethes „Faust“. Im dritten und letzten Teil („Ökonomie und Politik“) wagt sich Hörisch am meisten aus seiner Disziplin heraus und widmet gleich mehrere Beiträge und Fallstudien dem Geld, das er als Leitmedium bezeichnet und es „das mächtigste, alle Epochenbrüche überdauernde und allen sozialen Subsytemen (mit-)prägende, ausschlaggebende Medium“ nennt. In diesem Teil des Bandes wird der eingangs beschriebene Gewinn geisteswissenschaftlicher Betrachtungen auf fachfremde Gebiete besonders offenbar. Die Ordnung der Beiträge in diese drei Blöcke ist klug gewählt und hilft dabei, sich zu orientieren.
Von Goethe umrahmt
Der offenkundige Faust-Fan Hörisch rahmt seine eigenen Beiträge mit Gedanken von Goethe ein, dessen Werk er als „souveränen Dilettantismus“ bezeichnet, der es stets erneut schafft, vermeintlich gültiges Expertenwissen prägnant in Frage zu stellen. Das gilt durchaus auch für viele der hier versammelten Beiträge von Hörisch. Klar, dass der mit über 400 Seiten mächtige Band hier und da auch Redundanzen aufweist. Aber in seiner Gesamtheit ist Der Dilettantismus der Geisteswissenschaften eine augenzwinkernde und augenöffnende Textsammlung eines wachen und mutigen Beobachters. Hörisch ist kundig und schnell, er argumentiert – wo angebracht – mutig und entschieden, lässt aber auch die Chance nicht aus, sich zu amüsieren und auch seine Leserschaft wohldosiert zum Schmunzeln zu bringen. Und vor allem ist er ein ermutigender Autor, der sein Publikum fordert mitzudenken, eigene Gedanken zu fabrizieren und zu widersprechen.
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