Zauberworte und Traumbilder
Heiner Bastian lehrt uns mit dem Gedichtband „Das Gedächtnis des Vergessens“ den Universalismus subjektiver Sprachspiele und, dass Rätsel zuweilen die Antwort sind
Von Nora Eckert
Lyrik steht wohl unbestreitbar für Sprachkunstwerke und feiert darin ebenso unbestreitbar die Subjektivität. Wir können sie lesen, aber durch ihren zuweilen eigenwilligen Umgang mit Semantik und Syntax offenbar nicht immer verstehen. Was brauchen wir zum Verstehen? Oder anders gefragt, was macht Gedichte verständlich, was unverständlich? Wann sind ihre Botschaften offen, wann verschlossen?
Schafft Lyrik erst durch Sprache die Magie oder soll sie Magie dekonstruieren? Ist es ihre Aufgabe, den Zauber zu entzaubern und das Rätsel zu enträtseln? Oder ist es genau umgekehrt? Unser Verlangen nach kausalen Sinnzusammenhängen, mag manche von uns alles (scheinbar) Grund- und Zusammenhanglose, alles Fragmentierte verstören oder gar verärgern. Weil etwa Gedichte uns gerade in ihrer sprachlichen Undurchdringlichkeit außen vorlassen, als stünden wir buchstäblich vor Wort-Dickichten?
In einer ziemlich unfreundlichen Rezension des hier zur Debatte stehenden Gedichtbandes, auf die ich stieß und die mich zu den allgemeineren Überlegungen veranlasste, wird auf sprachliche Klarheit bestanden, obschon der Dichter Heiner Bastian sich erklärtermaßen oft an der Grenze des Ausdrückbaren bewegt mit „Bildern einer Sprache, die keine Worte hat“. Was aber, wenn das Rätsel die Lösung ist, das Unerklärbare die Erklärung?
In den Naturwissenschaften scheint man in dieser Hinsicht jedenfalls gelassener zu sein, in denen das Unerklärbare nicht abnimmt, trotz fortschreitenden Erkenntnisinteresses und sich weiterentwickelnder Erkenntnisfähigkeit, jedenfalls gelassener als in der Betrachtung von Poetik und ihrer sprachbildenden Freiheit, die dann doch nicht ganz so frei sein soll. In den Strudel der Kritik gerät dann zugleich ihr Subjektivismus, der doch bitte nicht zu bedingungslos sein dürfe. Gleichwohl ist ihm ein Universalismus metaphysischer Wahrnehmungsfähigkeiten des Menschen eingepflanzt. Wir müssen uns nur darauf einlassen.
Also schauen wir uns in Heiner Bastians Das Gedächtnis des Vergessens näher um. Schon der Titel verrät, dass wir uns im Fall poetischer Erkenntnisse am besten auf das Paradoxe einlassen. Sprachliche Übersetzbarkeit von Wahrnehmungen und Empfindungen läuft eben nicht selten auf ein Abenteuer hinaus. Ja, Metaphern sind auch Glückssache und bleiben so oder so doch nur Annäherungsversuche, und sie sind vor allem Verwandlungen, die Neues ermöglichen. Genau darum geht es – um Schöpfung im wahrsten Sinne: „Eine wundersame Begegnung auf der Bühne der Erinnerung / Und wir weben aus ihren Fäden der Einbildung neue Wirklichkeit“. Dennoch bleibt die Gewissheit: „[…] das rätselhaft / Greifbare ist noch immer das rätselhaft Ungreifbare“.
Die gerade mal sechzig Seiten des Bandes bestehen aus vier Abteilungen, überschrieben mit „Und die Welt wäre nur der Zauber eines undeutbaren Schattens“, „Die Farben die Formen die Schatten“, „Ein antikes Alphabet“ und „Die Vorstellung, dass alles, was wir sehen, auch anders sein könnte“. Sie enthalten jeweils thematische Gewichtungen, die zweierlei erkennen lassen, dass Bastian sowohl ein Bücher- als auch ein Augen-Mensch ist. Als Kurator hat er sich immer wieder mit bildender Kunst befasst – einige seiner Favoriten begegnen uns in den Gedichten, wie etwa Joseph Beuys oder Cy Twombly. Wahlverwandtschaftliches ist da leicht auszumachen und sprachsinnliche Brücken zuverlässig begehbar.
Und wer diese Künstler ebenso schätzt oder gar bewundert, dem könnte auffallen, wie ähnlich das Zeichenhafte von Farben und Formen den Strukturen der Sprache ist, die das Zeichen- und Symbolhafte der Welt um uns in eindrückliche Worte und Wortbilder, also Metaphern, zu übersetzen versucht. Und was die Erfahrungen und Erinnerungen aus der Bücherwelt angeht, startet Bastian gleich am Anfang mit Ludwig Wittgenstein. Wer Gedichte schreibt, ist bei diesem Philosophen gut aufgehoben, dem Hausgott all jener, die sich auf Sprachspiele einlassen. Denn Sprachspiele müssen nicht begründet oder vernünftig sein. Es reicht, sie auf ein Blatt Papier zu bannen und hinzunehmen, dass sie etwas Unvorhersehbares hervorbringen. Und: „Es steht da – wie unser Leben.“ (L.W.)
Bücher schweigen nie, sagt Bastian, und macht sie zu Echos im Raum. Die Räume selbst spielen in dem Abschnitt eine Rolle, in dem die Künstler auftreten: Monet, Twombly, Munch, Hopper, Bacon. Hier ist es die an einem Sommertag im Schneelicht gemalte Kathedrale von Rouen von Monet, dort die auf Leinwand hingehuschten Mythen, selbst Poeme der Farben, verwischt, grafisch notiert, zittrig und fahrig bei Twombly. Dann „Drei Mädchen auf der Brücke“ von Munch: „Doch nie werden wir durchschauen, was wir zu überblicken glauben“. Wie immer ein Plädoyer für das Ungelöste und Unbekannte, das uns auch beim Magier von Licht und Schatten, nämlich bei Edward Hopper begegnet: „Eine lakonische Bühne unbekannter Träume, deren Chronist er war“. Und noch einmal Unbekanntes bei Francis Bacon und seinen „Furien der Wahrheit im unbekannten Portrait der Wirklichkeit“. Was uns daran erinnert, dass Sprache mit dem Antworten nie an ein Ende gelangt und so das Unbekannte im Bekannten mit jeder weiteren Antwort nur vermehrt.
Ein weites Feld öffnet sich im dritten Teil, wo Bastian das Griechenland der Gegenwart mit dem der Antike zusammenbringt als ein ewiges Kommen und Gehen und ein Alles war und wird sein: „Und noch immer Worte und Bilder durch die Asche / Der handgeschriebenen Seiten ziehen“. Hier tritt Sappho auf und dort steht Troja als „Gleichnis vom Scheitern“. Odysseusʼ Rückkehr erscheint als „Die Heimkehr ins Vergessen der Jahrhunderte“. Die Gedichte verstehen sich als Anrufungen des Vergangenen. Weil dies schlaflos sei, sei es überhaupt ansprechbar. Was ebenso über Homers Dichtungen zu sagen sei, denn auch sie zeigen sich schlaflos und darum dialogbereit.
Im letzten Teil des Buches öffnet sich noch einmal der Wissensschatz des Kunst- und Buchliebhabers. Mal ist es Godards Film „Vivre sa vie“, wo die Hauptdarstellerin den Philosophen fragt, warum man nicht ohne Worte leben könne. Der Dichter Bastian indes hört darin in Wahrheit die Frage, warum man leben muss. An anderer Stelle greift er das Thema eines von Worten okkupierten Lebens auf:
Auch des Glasbläsers Werk aus Mineralsalz und Feuer ist noch namenlos
Wie einfach zu verstehen, dass die meisten Erscheinungen ohne Worte sind
Und wenn wir das Wort gefunden, wird die Zeit unsere Worte ändern
Wir aber halten beharrlich fest an Namen und Grammatik
In einem anderen Gedicht geht es um das Gedenken an Peter Huchel, um von dort ins karibische Meer und zu Miltons „Verlorenem Paradies“ aufzubrechen. Der Dichter wird zum Reisenden, der in ein paar Zeilen verdichtet – und das im doppelten Wortsinn –, was er überall findet. Hier ist es der gelbe libysche Wind, der unsichtbare Sandtürme baut und an anderer Stelle geht es ins Universum. Was dort draußen auf Reisen sei, schreibe Erzählungen fort, „Deren Wirklichkeit wir nie lesen werden“. Am Ende geht es ums Verschwinden der Worte und Dinge:
Gleich irrenden Schiffen im Nirgendwo zwischen Geisterklippen
Echolos unterwegs ohne Antworten
Und doch behauptet einer, dass es verlorene Worte und Dinge
Nicht gibt.
Zumindest nicht, so lange der Dichter nicht vergisst, sie aufzuschreiben.
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