Ist Vorbeikommen endgültig vorbei?

Sind Spontanbesuche unhöflich oder empfehlenswert?

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler und Stefanie von WietersheimRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie von Wietersheim

Rätsel des Lebens. Wie, um Himmels willen, kann es ein, dass man nur noch mit Voranmeldung in den Wohnungen von Bekannten, Freunden und Familienmitgliedern vorbeikommen darf? Wann hat es begonnen, dass man einen Besuch selbst im Inner Circle nur mit einer Planung machen kann, die sich anfühlt wie die Vorbereitung eines G-7-Gipfels?

Wir reden hier nicht von einem längeren Aufenthalt mit Übernachtung. Wir denken an die Situation, in der man tatsächlich ganz in der Nähe ist, weil man erst nach dem Zahnarzttermin daran dachte, dass ein Mensch, den man schon länger nicht mehr gesehen hat, um die Ecke wohnt. Darf man da klingeln, einfach so?

Eine Mehrheitsmeinung im Kreis der Freunde und Bekannten sagt: Nein, eigentlich nicht. Gar nicht mehr. Das sei unhöflich, übergriffig. Diese Erfahrung machte nicht nur eine Freundin, die in Afrika auf einer Farm aufgewachsen war, mit 16 Jahren nach Paris kam und zu ihrem Schrecken feststellen musste, dass sie nicht überall einfach vorbeikommen und zum Essen bleiben konnte. Sie litt unter der gefühlten Kälte ihrer Freunde.

Sie musste lernen: Selbst, wenn man 15 Minuten vorher telefonisch anfragt: „Sag mal, ich bin gerade bei Dir um die Ecke. Darf ich vorbeikommen?“, stresst das viele überaus. Auch das unangekündigte Anrufen scheint durch WhatsApp und Co ein No-Go zu werden. Die aktuelle Kommunikationskaskade geht so: 1) getippte oder gesprochene Textnachricht. 2) Bitte für einen Timeslot für ein Telefonat. 3) Verabredung für ein Treffen beim Telefonat. 4) Bestätigung des Treffens kurz vorher per Textnachricht. 5) Update direkt vor dem Treffen mit Anmerkungen wie „verspäte mich um 5 Minuten.“ Kein Wunder, dass in Europa über Ministerien gegen Einsamkeit diskutiert wird.

Außer bei einem wirklichen Unfall ruft man heute nicht mehr wirklich „einfach so“ an. Einzig Eltern der Boomer-Generation haben das noch nicht gelernt. Nur gut, dass man deren Nummer auf dem Display erkennt, dann kann man immer noch entscheiden, ob man „annimmt“. „Abheben“ hat sich technologisch erledigt.

Die alte Formulierung „abheben“ verweist auf Telefonapparate, deren Kabel aus der Wand kamen, die einen Hörer hatten, der auf einer Gabel lag, die oben auf einem Apparat befestigt sind, auf dem sich die Wählscheibe befindet. Solche Geräte waren die Nachfolger der Kurbeltelefone, die mit dem Wegfall der Fräulein vom Amt in den Telefonzentralen verschwanden. Heutigen Kindern und Jugendlichen muss man das erklären, sonst verstehen sie manche Filme nicht. Sie selbst heben nicht mehr „ab“, sie gehen ran – oder nicht. Denn, heute, wird getextet oder gesprochen: „Hi, wie wäre es, wenn wir uns jetzt gleich bei Dir/Lily/Anton treffen?“ Vorbeikommen ist durch eine Einladung ersetzt worden. Die Wohnung ist dann meist superaufgeräumt, die Blumen sind dekoriert, die Gastgeber geduscht und gestylt. Es klingelt, die Weinflasche oder das Sixpack Bier wechseln die Eigentümer.

Das Leben auf Rittergütern und in Ministerien

„Da ist doch jemand gekommen, ich habe Kutschen vorfahren hören. Schau doch mal bitte nach.“ Und dann stellt sich heraus, dass es die weit entfernte Verwandtschaft ist, denn es klettert nicht nur ein Paar aus den Kutschen, sondern auch noch eine stattliche Kinderschar, zusammen mit dem Personal. Da muss nun doch der Gästetrakt aktiviert und dafür gesorgt werden, dass die Betten neu bezogen werden. Die russische und baltische Literatur des 19. Jahrhunderts ist voll solcher Szenen. Richtig unterhaltsam wird die Lektüre, wenn es nicht die Verwandtschaft ist, sondern der regierende Fürst, der unangemeldet „vorbei“ kommt, weil die bevorstehende Jagd ganz in der Nähe stattfinden soll. Da können die eigenen Kinder gleich zeigen, dass sie Diener und Hofknicks können. Ab dem 16. Geburtstag können die Söhne auch den Handkuss probieren.

Als eingefleischte Anhänger aller Folgen der wunderbaren Großerzählung „Downton Abbey“ wissen wir, wie die Familie des Earl of Grantham die Herausforderung unangekündigter Besucher löste: Mister Carson, the Butler, takes care of it! Gravitätisch, wie er nun eben war, würde er den unerwarteten Gast begrüßen und bitten, sich in der Halle zu gedulden. Er würde sich erkundigen, ob nun eine gute Gelegenheit für einen Besuch sei. Wen, bitte, er melden dürfe?

Und dann kommt er zurück und entweder begleitet er den Gast zum Earl oder er teilt mit, dass der unerwartete Besucher dieses Mal leider nicht empfangen werden kann. So sorry. Und dann verabschiedet sich der ungebetene Gast. Niemand muss so unhöflich sein, jemandem die Tür zu weisen.

In deutschen Filmen der 1950er Jahre sieht man solche Szenen nicht nur in aristokratischen Kontexten. Auch bessergestellte Bürgerliche hatten immer jemanden, der oder die die Visitenkarte des unerwarteten Besuchers entgegennahm, hinter verschlossenen Türen verschwand und nach Rückkehr verkündete, ob Einlass gewährt wird oder nicht. Auch Professorenhaushalte haben in diesen Schwarz-Weiß-Filmen immer solche menschlichen Schutzschilde, sowohl vor ihren Dienstzimmern als auch – und da ganz gewiss – in ihren Villen in der jeweiligen Universitätsstadt. Tempi passati… Keine heutige Universitätsprofessorin hat ein Dienstmädchen oder eine Köchin. Allenfalls eine Au-pair, die sich um die Kinder kümmert, wenn die Hausherrin ihre Vorlesung hält oder auf Konferenzreise ist.

Legendär in der deutschen Universitätsgeschichte sind die langen Wartezeiten auch für noch so prominente Professoren, die zu einem Termin bei dem mächtigen Ministerialdirektor Friedrich Althoff in das preußische Kultusministerium einbestellt worden waren. Wer es wagte, außerhalb der offiziellen Sprechstunde des „geheimen Kultusministers“ des Königreichs Preußen in Berlin vorsprechen zu wollen, durfte diese Inschrift in dessen Vorzimmer studieren: „Sprechstunde nur von 2 bis 3 Uhr. Besuche zu anderer Zeit zwar eine Ehre aber keine Freude“.

Das Handy ist der Butler geworden

Das Handy hat in unseren Zeiten und Breiten den Butler oder das Dienstmädchen ersetzt. Und eigentlich finden wir das gut, es ist eine zivilisatorische Verbesserung. Es erspart viele unnötige Unhöflichkeiten. Nennen wir es „halbspontan“. Wir verfügen zwar über keine verlässlichen Daten, aber wir fragen uns zudem: Variieren Spontanbesuche in Deutschland zwischen West und Ost? Besucht man sich bei den Ossis eher spontan? In der Eifel eher als in Niedersachsen? Gibt es Unterschiede zwischen Friedrichshain und Haidhausen? In der Stadt oder auf dem Land? Rätsel über Rätsel. Was macht man, wenn es an der Haus- oder Wohnungstür klingelt? Und es nicht der Amazon-Bote, sondern die ehemalige Schulfreundin ist, die fröhlich „Überraschung!“ ruft. Sagt man: „Oh, wie schön! Komm rein. Kaffee oder Tee?“ Oder sind solche Situationen einfach nur schrecklich, weil man einen bad hair day hat oder gerade in Ruhe einen Kitschroman lesen und dabei Schokoeis essen wollte? Wie bekommt man es hin, zu sagen: „Du, jetzt passt es echt nicht. Vielleicht ein andermal, ok?“ Ist das dann das Ende der Freundschaft?

Wir denken an die ehemalige dänische Gastfamilie, die eines unserer Familienmitglieder nach dem Krieg als deutsches Stadtkind großzügig in den Sommerferien immer wieder aufgenommen hatte – und die später jedes Jahr zwischen April und September mit dem Wohnwagen spontan vor dem Haus der nun erwachsenen Haustochter stand, um ein paar Tage zu bleiben. Für eine voll berufstätige Mutter eine echte Herausforderung, die diese am Ende dieser Besuche erschöpft zurückließ.

Es kann aber auch sein, dass man mit der alltäglichen Handymauer um uns eine der schönsten Gelegenheiten im Leben verpasst hat – wenn man dann mit Freunden in der chaotischen Küche sitzt und nur Marmeladenbrote isst. Bei lange vorher geplanten Besuchen ist es ja manchmal so, dass die Erwartungen an die perfekte Einladung viel zu hoch waren. Und man sich dann als Gastgeber fragt: „War es diesen ganzen Aufwand wert?“ Vor allem dann, wenn erst kurz vorher angekündigt wurde „Ich bring noch jemanden mit“ und sich dann niemals für den Abend mit einem Feuerwerk an Speis und Trank bedankt wurde…

Vielleicht sollten wir doch wieder Mut zum ungeplanten und unangekündigten gemeinsamen Sitzen am Küchentisch haben. Es muss ja nicht gleich Robert Habeck sein, der vom Küchentisch seine Kandidatur verkündete und seitdem an diversen Holztischen in perfekt ausgeleuchteten Küchen mit TV-Begleitung saß. Er jedenfalls könnte jederzeit bei uns vorbeikommen, einfach so!

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zur monatlich erscheinenden Kolumne „Rätsel des Lebens“ von Dirk Kaesler und Stefanie von Wietersheim.